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Das verschüttete Neue
Neue Zürcher Zeitung

Max Bills Bauten der Hochschule für Gestaltung in Ulm

So umfassend wie selten zuvor präsentiert derzeit das Kunstmuseum Stuttgart in einer grossen Ausstellung alle Bereiche des gestalterischen Schaffens von Max Bill: Architektur, Design, Bildhauerei, Malerei, Grafik und Typografie. Dabei weisen die Bauten der Hochschule für Gestaltung in Ulm, Bills wichtigstes architektonisches Werk, eine interessante Symbiose praktischer und künstlerischer Aspekte auf.

17. Dezember 2005 - Hans Frei
Die Hochschule für Gestaltung (HfG) in Ulm wurde am 2. Oktober 1955 offiziell eröffnet. An diesem Tag war die Präsenz des «originalen» Bauhauses, das 1933 auf Druck der Nazis hatte geschlossen werden müssen, nicht zu übersehen. Die Presse feierte die Rückkehr der Bauhaus-Idee nach Deutschland. Der Name und das Programm der neuen Schule liessen keine Zweifel aufkommen, dass die Ulmer Initianten die Tradition des Bauhauses, das ja auch schon «Hochschule für Gestaltung» hiess, fortsetzen wollten. Max Bill (1908-1994), der erste Rektor der HfG und selbst ein ehemaliger Bauhaus-Schüler, verpflichtete so viele alte Bauhäusler nach Ulm wie nur möglich. Walter Gropius, der Gründer und erste Rektor des Bauhauses, erklärte in seinem Festvortrag bei der Eröffnung, das Bauhaus habe in Ulm nun «eine neue deutsche Heimat gefunden».

EIN RETROAKTIVES MANIFEST?

Unter diesen Umständen erstaunt es nicht, dass die Bauten der HfG, errichtet nach Plänen von Max Bill, den Sprung in die Kategorie «Baudenkmäler» relativ schnell schafften. Aber weniger wegen eigener Qualitäten als vielmehr in Form eines retroaktiven Manifests. Zu diesem Sachverhalt trug die Tatsache, dass das Bauhaus bei der Gründung der HfG Pate gestanden hatte, wesentlich bei. Die Ulmer Neubauten vermochten sich nie wirklich aus dem Schatten des von Walter Gropius entworfenen Dessauer Bauhauses zu lösen. Reyner Banham, der tonangebende Architekturkritiker jener Zeit, brachte auf den Punkt, was viele dachten: Die Bauten der HfG seien ohne grosse Innovation und in «ehrfürchtiger Erinnerung» an das Bauhaus errichtet worden.

Doch in Wirklichkeit klafften der propagandistische Gebrauch des Namens «Bauhaus» und die programmatische Auseinandersetzung mit seinen Inhalten weit auseinander. Schon bei der Eröffnung tauchten vereinzelt Zweifel auf, ob die Ulmer Bauten einen Vergleich mit dem Dessauer Bauhaus aushielten. In den Augen einiger Studierender wollte die «graue Beton-Zitadelle» nicht so recht zum technisch gepflegten Bauhaus- Design passen. Für Marcel Breuer und Konrad Wachsmann, zwei Vertraute von Gropius, stellten die Ulmer Bauten gar einen Rückschritt gegenüber dem Bauhaus dar. Sie widersprachen insofern direkt der von Bill mit Bezug zum Bauhaus aufgestellten Devise vom «weitersein-wollen», denn die Ulmer Bauten waren für sie weniger das Produkt einer Mangelwirtschaft als vielmehr das eines grundsätzlichen Mangels an Architektur.

Bill selbst hatte sich von Anfang an dagegen gewehrt, dass der Nutzen, den er vom Bauhaus ableitete, bereits für sein ganzes Programm gehalten wurde. Einer allzu orthodoxen Auslegung seiner Absichten im Sinne des Bauhauses erteilte er eine klare Absage. Das Weiter-sein-Wollen war für ihn kein blosses Weiter-Machen. Was er am Eröffnungstag der HfG, unmittelbar im Anschluss an Gropius, sagte, hörte sich geradezu wie eine Kampfansage an das alte Bauhaus an: «Jede uns bekannte Institution», so Bill, «läuft immer wieder Gefahr, durch brillante Lösungen im Vornherein über die wahren Sachverhalte zu täuschen.» (An wen war diese Bemerkung gerichtet, wenn nicht an Gropius, der direkt vor ihm in der ersten Reihe sass?) Demgegenüber werde sich die HfG - selbst auf das Risiko hin, dass sie vorerst weniger glänzend dastehe - auf «eine in die Breite gehende Kultur des täglichen Lebensbedarfs» konzentrieren und jenen einfachen und nützlichen Dingen zuwenden, die von den meisten Entwerfern nicht als kulturelle Faktoren ernst genommen würden. Das beste Beispiel, das Bill für solch eine Haltung erwähnen konnte, waren die Bauten der HfG.

KÜNSTLERISCHE KONKRETION

Von ehrfürchtiger Erinnerung an das Bauhaus kann hier nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Anders als Gropius und sein Hofstaat es wohl gerne gehabt hätten, hing für Bill das Weiter-sein- Wollen als das Bauhaus weder vom ästhetischen Glanz noch vom technischen Fortschritt ab. Sein Weg führte über neue Methoden der Gestaltung. Namentlich die konkrete Kunst, deren wichtigster Vertreter Bill später werden sollte, stellte aus seiner Sicht ein ideales Laboratorium dar, wo man sich auf praktische Aufgaben - beispielsweise Architektur - methodisch vorbereiten konnte. Nicht von ungefähr hatte er in allen seinen wichtigen Texten immer wieder methodische Fragen der Gestaltung behandelt. Mit «Schönheit aus Funktion und als Funktion» fand er denn auch eine ebenso knappe wie prägnante Formel für seine Haltung: Die Rechnung der Funktionalisten, dass sich die Schönheit aus den objektiven Bedingungen der Funktion ergebe, kann nur dann aufgehen, wenn die Schönheit selbst zur Funktion des Gegenstandes wird. Es kommt darauf an, das Funktionale und das Schöne miteinander ins Spiel zu bringen. Beide Kräfte sind einander im Prinzip entgegengesetzt und können nicht einfach als Fortsetzung des einen durch das andere betrachtet werden. Der praktische Gebrauch ist letztlich der Zeit und dem Verschleiss durch Subjekte ausgeliefert, während der geistige auf die Dauer und das Gültige des Objekts an sich gerichtet ist. Die Lösung in Anlehnung an die konkrete Kunst liegt nun darin, die beiden Kräfte auf eine Linie zu bringen, aber nach zwei verschiedenen Richtungen hin zu entwickeln. Die materiellen Bedingungen, die in einem Werk der Fall sind, sollen auch zum Thema der Gestaltung gemacht werden. Sie dienen zugleich als Mittel zur Erfüllung praktischer Zwecke wie auch als Sprachmaterial für den geistigen Gebrauch.

Wie in seinem Kunstschaffen üblich, ging Bill auch beim Entwurf der Bauten für die HfG von einer einfachen Strukturidee aus. Es handelt sich um ein Rahmenwerk aus Beton, dessen Grundfläche in Felder von 3×6 Metern unterteilt ist (nur vereinzelt kommen Felder von 3×3 Metern und 3×9 Metern vor). Die technischen und ästhetischen Möglichkeiten der Betonkonstruktion wurden dabei nicht im Geringsten ausgereizt. Das Rahmenwerk wurde einfach durch Wände ausgefacht, so dass es von innen und aussen sichtbar blieb. «Billiger und primitiver ging es nicht mehr», schrieb Bill rückblickend im Jahre 1976. Und weiter: Der «einzige Spass», der ihm dabei als Architekt geblieben sei, bestand darin, die Anordnung der Felder zu manipulieren.

Da die Felder der Betonstruktur nur durch eine schwache innere Kraft zusammengehalten werden, war es beim Entwurf möglich, sie fast so beliebig wie Tische zu schieben. Entscheidend für ihre definitive Anordnung waren äussere Faktoren wie Funktionen und Topographie. Die Anlage gliedert sich dementsprechend in eine Abfolge von Bautrakten für die Werkstätten, die Schule, die Verwaltung, die Aula und die Küche, die - dem Gefälle des Geländes folgend - voneinander abgesetzt sind. Von jedem Standort aus betrachtet, zeigt die Schule ein neues Gesicht. Die rationale Ordnung der Struktur scheint aus den Fugen geraten zu sein. Die Trakte liegen wie zufällig auf das Gelände gestreut und suggerieren solchermassen eine grösstmögliche Deformation des Ganzen. Dass das Ganze schliesslich aber doch mehr ist als eine zufällige Addition der Teile, liegt vor allem an zwei formalen Massnahmen, die sich von der strukturellen Differenzierung abheben.

Zum einen gibt es Uniformität im Detail. An den Fassaden stehen die Stützen im Abstand von nur 3 Metern. Angesicht der Maschenweite des Rasters von 3×6 Metern bedeutet dies, dass einige Stützen gebaut wurden, die strukturell gesehen nicht notwendig wären. Dank diesen «überflüssigen» Stützen konnten alle Fassaden in gleich grosse Flächen unterteilt und konnte jede Fläche gemäss ein und demselben Proportionsschema gegliedert werden. Das Hinzugefügte oder Überflüssige muss deshalb als Zeichen eines weiteren Registers der Gestaltung betrachtet werden, das die Idee des Ganzen und die Integration der Teile ausdrückt. Die Uniformität im Detail ist der Deformation im Grossen entgegengestellt.

Ein weiteres integrierendes Element bilden zum andern die Erschliessungsräume. Von aussen kaum sichtbar, halten sie im Innern die vielgliedrige Anlage wie ein Rückgrat zusammen. Dazu gehören insbesondere das sogenannte «Sägeblatt» im oberen Teil der Bebauung und der Gemeinschaftsbereich im unteren. Diese beiden Räume sind von ihrer Grösse, aber auch von ihrer Gestalt her mehr als nur Zwischenräume zwischen den Trakten. Beim Entwurf wurden die angrenzenden Trakte so lange verschoben, bis dazwischen «etwas passierte». Zudem wurden ihre an die Innenzone angrenzenden Seiten wie Aussenfassaden behandelt. Das heisst: Der Kranz mit Stützen im Abstand von 3 Metern bleibt hier wie an den Aussenfassaden erhalten. Auf diese Weise werden aus den beiden Innenräumen innere Aussenräume, die den differenzierten, aber uniform gekleideten Trakten Halt geben und den Zusammenhalt des Ganzen von innen her generieren.

PRAGMATISCHE ÄSTHETIK

Die strukturelle Differenzierung der Teile und die formale Integrierung des Ganzen stützen zwei verschiedene Versionen der HfG. Es ist unentscheidbar, welche davon die wichtigere ist: Teile oder Ganzes, generische Struktur oder spezifische Form, Funktion oder Institution, Zweck oder Bedeutung. Die Unentschiedenheit kann durch keine Interpretation aus der Welt geschaffen werden. Sie gehört zum Werk, macht seine Qualität aus und ist für den geistigen Gebrauch bestimmt. Der Zustand der Unentschiedenheit ist ein Raum des Möglichen, in dem der praktische Gebrauch herausgefordert wird und sich immer wieder neu einstellen lässt. Darin einen grundsätzlichen Mangel an Architektur sehen kann nur, wer die Hochsprache der Architektur im Sinne hat und in den Bauten in erster Linie den höchsten materiellen Ausdruck einer Kultur sieht. So gesehen muss das Neue immer spektakulärer, transparenter, leichter und hybrider sein als das, was es schon gibt. Klar, dass die graue Beton-Zitadelle in Ulm für solch einen Wettbewerb in technischer wie ästhetischer Hinsicht schlecht vorbereitet war. Ihre Sprache ist eher eine Alltagsprache - oder in Bills Worten: die Sprache «einer in die Breite gehenden Kultur des täglichen Lebensbedarfs». Dabei wurden bloss die Karten dessen, was gegeben war, in den Bauten, die entstehen sollten, neu gemischt. Was hier zählte war weniger der möglichst brillante Ausdruck einer möglichst weit fortgeschrittenen Kultur als vielmehr die bewusste Herstellung einer etwas anderen Wirklichkeit.

Möglicherweise steckt in solch einem Umgang mit der Wirklichkeit sogar mehr Innovation als in der Produktion von etwas angeblich Noch-nie- Dagewesenem, das ganz dem Fortschritt verpflichtet ist, einem Fortschritt, bei dem man ja schon ahnt, wohin er führt, für was und vor allem für wen er gut sein wird. In diesem Sinne ist das Neue nicht an der vordersten Front des Fortschritts anzutreffen, sondern in den unscheinbaren Winkeln einer alltäglichen Lebenswelt, aus denen es zunächst nur schwach als Möglichkeit eines Anderswerdens aufleuchtet. Dafür ist es den Bedürfnissen der Menschen vielleicht auch näher als jenes Neue, das mit dem Fortschritt geht.

Vom Fortschritt wurde die graue Beton-Zitadelle von Ulm schon an ihrem Eröffnungstag überrannt. Doch die unterentwickelte Alltagssprache erwies sich als ein geschicktes Konzept, um auch hinter der Frontlinie der Avantgarde etwas Neues einrichten zu können.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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