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Lektüre des Ortes
Neue Zürcher Zeitung

Zum Tod von Giancarlo De Carlo

17. Juni 2005 - Martino Stierli
Die Architektur, so einer der Kernsätze Giancarlo De Carlos, sei zu wichtig, um allein den Architekten überlassen zu werden. Er bringt jenen Humanismus zum Ausdruck, der Denken und Werk des italienischen Architekten wie ein roter Faden durchzieht und der ihm einen eminenten Platz in der Geschichte der modernen Architektur gesichert hat. De Carlos Name ist mit Urbino verknüpft. In jahrzehntelanger Auseinandersetzung prägte der am 12. Dezember 1919 in Genua Geborene das Gesicht der Universitätsstadt in den Marken. Bei all seinen Interventionen war ihm der Respekt für die historischen Stadtstrukturen oberstes Gebot. Als erstes Hauptwerk entstand 1962-66 am Stadtrand das sensibel in die Hügellandschaft eingepasste Collegio del Colle. Im historischen Zentrum ist die Fakultät der Erziehungswissenschaften, „Il Magistero“ (1968-76), hervorzuheben, die klug die Bausubstanz eines verlassenen Klosters mit einer modernen Formensprache verbindet. Eine vergleichbare Operation realisiert De Carlo in Catania (1984-95), wo er bei der Umnutzung eines Benediktinerklosters erneut dem architektonischen Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart ein Feld eröffnete.

Aus den Herausforderungen von Urbino entwickelte De Carlo das „Reading“ als zentrales Moment seiner Methodik, das am Anfang jedes Entwurfs steht: eine profunde Analyse von Topographie, Geschichte und sozialem Umfeld des Bauplatzes, eine eigentliche Lektüre des Ortes. Mit diesem kontextualistischen Ansatz stand De Carlo in Opposition zu den Prinzipien der CIAM, von denen er sich als einer der Wortführer von Team X abwandte. Das zweite Schlüsselelement seiner Arbeitsmethode war die Idee der Partizipation. Am konsequentesten wurden die zukünftigen Bewohner beim Bau der Arbeitersiedlung Matteotti bei Terni (1969-74) in den Entwurfsprozess mit einbezogen. De Carlo konnte hier zugleich die städtebaulichen Utopien von Team X verwirklichen: Terrassen, Passerellen und Verbindungstreppen sorgen für eine komplexe Vernetzung des öffentlichen Raumes und schaffen die Voraussetzungen zu Begegnung und Austausch.

Das gebaute Werk De Carlos blieb auf Italien beschränkt. Aber als Inhaber eines Lehrstuhls in Venedig, als Gastprofessor im In- und Ausland sowie als Gründer des ILAUD (International Laboratory of Architecture and Urban Design) hat er Generationen von Architekten ausgebildet. Als Publizist erreichte er mit der Herausgabe der Zeitschrift „Spazio e Società“ ein breiteres Publikum für seine Vision einer Architektur, die sich an den Gegebenheiten des Orts und seiner Geschichte sowie an den Bedürfnissen der Menschen orientiert. Wie erst jetzt bekannt wurde, ist Giancarlo De Carlo am 4. Juni im Alter von 85 Jahren in Mailand gestorben.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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