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Es lebe die neue Mitte
Neue Zürcher Zeitung

Das Ruhrgebiet auf dem Weg zur Investorenstadt

5. Oktober 2001 - Olaf Kaltenborn
Seit dem Herbst 1996 lockt unweit von Oberhausens Innenstadt das «CentrO» die Konsumenten des Ruhrgebiets magisch an. Gleichzeitig kündigt dieses gigantische Einkaufszentrum den schleichenden Niedergang der Gemeinwesen des Ruhrgebiets, die Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes und damit die Investorenstadt an.

Vor fünf Jahren wurde mit dem «CentrO» in Oberhausen Europas grösstes Einkaufs- und Freizeitzentrum eröffnet. Über 23 Millionen Konsumenten werden seither jedes Jahr durch die für über zwei Milliarden Mark realisierte «Neue Mitte» Oberhausens geschleust. Sie sorgen für Jahresumsätze von weit über einer Milliarde Mark. Nur drei Kilometer südlich dieses Einkaufsparadieses befindet sich Oberhausens altes Zentrum. Es liegt heute abseits des Booms. So zog beispielsweise C & A von Alt-Oberhausen in die neue Mitte um; und bis heute ist nicht geklärt, was mit der teilweise leer stehenden Immobilie geschehen soll. Schwer zu kämpfen hat auch das regionale Textilkaufhaus Mensing, sogar der Kaufhof und Peek & Cloppenburg reduzierten ihre Verkaufsfläche, weil sie auch im «CentrO» präsent sind. Gegen dessen Konkurrenz scheint kein Kraut gewachsen zu sein.


Auszehrung der Innenstädte

Inzwischen macht sich der Sog des «CentrO» bis nach Essen, Duisburg und Bochum bemerkbar - und löst eine Lawine von Folgeprojekten aus: Weil allein aus Duisburg jährlich 700 Millionen Mark in die Region fliessen, will die Stadt jetzt nachziehen: In unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofes entsteht in den nächsten Jahren auf etwa 100 000 Quadratmetern das Mammutzentrum «Multi-Casa», in Essen und in Dortmund sind ebenfalls Massstab sprengende Kommerz- und Vergnügungszentren geplant. Der Dortmunder Städteplaner Peter Zlonicky, als ehemaliger Direktor der Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park mit den Besonderheiten der Region bestens vertraut, prophezeit «Auszehrung und Verfall der Innenstädte». Die Konsequenzen für die historische Stadtstruktur würden überhaupt nicht bedacht, klagt er. Sein Duisburger Kollege, der Regionalforscher Hans-Heinrich Blotevogel, befürchtet nicht nur «ein Ausbluten der alten Zentren», sondern sieht im «CentrO» gar einen «bewussten Bruch mit der europäischen Stadttradition». Sollte das Beispiel «CentrO» Schule machen, wofür zurzeit vor allem im Ruhrgebiet vieles spricht, drohe flächendeckend die «postöffentliche Stadt» von Investors Gnaden.

Was ist so gefährlich am «CentrO», dass es Forscher und die Kommunen rundherum derart in Aufregung versetzt? Nach seinem Bruder im englischen Sheffield ist es Europas zweites Zentrum, das wegen seiner urbanistischen Inszenierung von Menschen aus der Region als echter Stadtersatz angenommen wird: Herzstück bildet eine 400 Meter lange Promenade an einem hafenartigen Wasserbecken mit 25 Restaurants und Diskotheken, daneben ein acht Hektaren grosser Vergnügungspark, nicht zu vergessen die Glaskuppel der Coca-Cola-Oase, die Musicalhalle und die multifunktionale «Arena»: Das «CentrO» ist eine gewaltige Illusionsmaschine mit einem Hauch von Barcelona, Las Vegas und Saint-Tropez. Wahrscheinlich liegt in diesem nach dem Prinzip «Panem et Circenses» inszenierten Mix das Geheimnis seiner magnetischen Wirkung: Im meist wolkenverhangenen Ruhrgebiet bietet es eine willkommene Flucht aus dem 50er-Jahre-Mief der Oberhausener Innenstadt (220 000 Einwohner), deren Geschäfts-, Freizeit- und Gastronomieszene langsam vergreist. Wer in Oberhausen jung ist, meidet nach Feierabend die verrauchten Eckkneipen und trifft sich mit Freunden beim Spanier oder Mexikaner in der Neuen Mitte.

Geschickt haben jedoch die Planer das «CentrO» nicht nur mit Ferienillusionen gewürzt, sondern auch noch mit Stilelementen der untergegangenen Industriearchitektur - zur Stärkung der regionalen Identität: Keine glitzernde Kommerzarchitektur von der Stange entstand auf der 83 Hektaren grossen Thyssen-Industriebrache, sondern ansprechend gestaltete, grosszügige Galerien, deren Dachkonstruktion Zitate der abgerissenen Zechen und Stahlwerke schmücken. Gar mit Ironie spielt der Tram- und Busbahnhof. Er sieht aus wie ein kühn übereinander getürmtes Mikado aus Stahlschrott.


Attraktion gegen Bevölkerungsschwund

Das «CentrO» trifft das Ruhrgebiet zu einer Zeit, da es ohnehin unter dramatischem Bevölkerungsschwund leidet. Händeringend überlegen sich die Stadtväter, mit welchen Attraktionen sie die Steuerzahler noch bei Laune halten können. Jetzt rächt es sich, dass die Innenstädte seit den siebziger Jahren vorwiegend für den Kommerz reserviert waren und damit die Mieten unerschwinglich wurden - vor allem für Familien. Gewohnt wird deshalb ausserhalb - in den sich aufblähenden Speckgürteln. Zudem treibt die hohe Arbeitslosigkeit die Bürger in Scharen davon. Allein Essen verliert Jahr für Jahr etwa 4000 Einwohner, das Ruhrgebiet deren 60 000 pro Jahr, gut ausgebildete Menschen zumeist. Dieser Aderlass hat Folgen. Die Städte können wegen sinkender Steuereinnahmen ihre aufgeblähte Infrastruktur nicht mehr bezahlen. Bauinvestitionen zur Verschönerung des Stadtbildes bleiben aus oder werden weit in die Zukunft gestreckt.

Es ist deshalb kein Zufall, dass das erste konsequent durchgestylte Urban Entertainment Center Deutschlands gerade im Ruhrgebiet entstanden ist und nicht etwa im Dunstkreis von München mit seiner attraktiven Innenstadt. Auch im englischen Sheffield, vom Niedergang der Industrie womöglich noch stärker gebeutelt als Oberhausen, ging die Rechnung der Investoren auf - nur dass der Standort Ruhr aus Sicht privater Geldgeber eine noch grössere Goldgrube ist: Denn nirgendwo in Europa können Investoren Stadtvätern und Landesregierung ihre Bedingungen so schamlos diktieren wie im Revier. Nirgendwo gibt es so viele industrielle Freiflächen. Nirgendwo - abgesehen von den neuen Bundesländern - winken dazu üppigere Subventionen aus den Strukturförderungsfonds des Landes, des Bundes und der Europäischen Union und als Dreingabe ein gewaltiger Markt von 20 bis 30 Millionen Konsumenten, der bis nach Holland reicht.

In der europäischen Tradition ist das Stadtzentrum ein Raum, der allen Menschen offen steht. Diesen Umstand sieht Blotevogel beim «neuen kommerziellen Zentrum von Oberhausen» nicht mehr erfüllt. Für die natürlichen Wechselfälle gewachsener Urbanität gibt es im «CentrO» keinen Platz mehr: Strassensänger und Obdachlose, politische Aufrufe und Demonstrationen sind hier tabu. Was die urbanistische Sonderwelt stört, wird mittels privaten Wachdiensts binnen Minuten entfernt. Für die sozialen Probleme ist weiterhin die alte Kernstadt zuständig, die so weiter an Attraktivität verliert - ein Teufelskreis mit klar verteilten Rollen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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