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Auf dem Datenhighway zur «Slow City»
Neue Zürcher Zeitung

Vittorio Magnago Lampugnanis Blick in die urbane Zukunft

2. August 2002 - Markus Jager
Visionäre sind gemeinhin nicht um Worte verlegen, wenn sie die Zukunft skizzieren. Die Welt von morgen erstrahlt dann zumeist als ein völlig neuer Kontinent. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Bedächtigere Zeitgenossen haben es da ungleich schwerer, Gehör zu finden. Was tut jemand, der der Auffassung ist, dass die Zukunft nicht ganz so dramatische Veränderungen mit sich bringen wird? Als Theoretiker gerät man schnell in eine Bredouille. Man spekuliert über das Morgen und setzt sich dem Vorwurf aus, doch nur die Gegenwart zu beschreiben. Auf den Spott der Zukunftsenthusiasten braucht man dabei nicht lange zu warten.

Bleibt eigentlich nur eines: Man zieht sich auf die Rolle des Beobachters und verhaltenen Mahners zurück. In diesem Geiste hat der Städtebauexperte und ETH-Professor Vittorio Magnago Lampugnani ein Buch verfasst, das sich der «Zukunft der telematischen Stadt» widmet. Es ist die Summe einer Reihe von Essays, die mit einem Artikel in der NZZ ihren Anfang genommen haben. Der Band, der sich mit den Folgen der telematischen Revolution beschäftigt, tritt dem Leser im Gewand traditionsreicher Buchkunst entgegen. Sieht so das Kommunikationsmittel von morgen aus? Folgt man dem Autor, dann lautet die Antwort: ja! Die telematische Revolution wird die jahrhundertealte Form der Kommunikation und Wissensvermittlung - das gedruckte Buch - nicht ersetzen. Sie wird es ergänzen. Und auf lange Sicht sogar zu dessen Nobilitierung beitragen. Das Gleiche vermutet der Autor für die Zukunft der traditionellen Stadt. Die Stadträume, die Lebens- und Arbeitswelten werden nicht in Cyber-Worlds und Digital Cities entschwinden. Die telematischen Errungenschaften, so Lampugnani, werden die traditionelle Stadt vielmehr von ihrem Ballast (z. B. Verkehr und Werbung) befreien. Und sie werden sie deshalb attraktiver machen. Die alte Stadt dürfte daher vom Fortschritt profitieren.

Der schöne Bucheinband hält noch eine zweite Überraschung parat, die ebenso charakteristisch für den Inhalt ist. Der Titel kündet von der Zukunft der Stadt. Die Neugier des Lesers wird zusätzlich durch das Titelbild des italienischen Futuristen Ivo Pannaggi genährt. Es zeigt einen seiner berühmten Bühnenbildentwürfe mit stürzenden Linien und leuchtenden Farben. Doch wer erwartet, bei der Lektüre im rasenden Tempo in die Zukunft geschleudert zu werden, wird sich enttäuscht sehen. Denn das Werk ist alles andere als ein futuristisches Manifest. Es ist nahezu das Gegenteil. «Verhalten» geht es vorwärts. Entschleunigung lautet das Credo. Oder, um im Bild der Futuristen zu bleiben: Dem Autor ist die Nike von Samothrake allemal näher als ein Rennwagen - ganz zu schweigen von den Bits auf den Datenautobahnen. Lampugnani ist ein Freund der «Slow City», der Stadt der Nachhaltigkeit.

Damit weiss man um die Stossrichtung des Buches. Es spielt und kokettiert mit den Zukunftserwartungen des Lesers, um sie im gleichen Zuge zu bremsen. Dabei werden die prognostizierten Neuerungen keineswegs in Grund und Boden gebauscht. Der Autor lässt den Leser vielmehr auf den Wogen des Fortschritts segeln, um ihm schliesslich - mit einiger Überzeichnung - einen Spiegel vorzuhalten. Die Verlegenheit, in die man dadurch gerät, hat etwas Entwaffnendes. Wirklich widerlegt ist dadurch freilich noch nichts. So gross die futuristische Skepsis Lampugnanis ist, so verhalten sind seine eigenen Prognosen. Viele Statements werden sogleich wieder relativiert oder konditional geschwächt. So heisst es bereits in der Einleitung: Die Krise der urbanen Zentren «wird mit der telematischen Revolution voranschreiten und dazu führen, dass das, was wir heute Stadt nennen, sich grundlegend ändern könnte». Es «wird» dazu führen, dass sich etwas ändern «könnte». Solche Satz- und Argumentationsmuster streifen den Erkenntniswert von Allgemeinplätzen.

Diese Halbherzigkeit ist schade. Lampugnanis Skepsis gegenüber den schillernden Zukunftserwartungen erscheint vielfach nachvollziehbar. Umso neugieriger ist man, zu erfahren, wie die alternativen Erwartungen Lampugnanis sind. Mitunter lässt er sie durchscheinen. So erhofft er sich eine Verringerung des Verkehrs, den Wegfall greller Werbung und einen schonenden Umgang mit natürlichen Ressourcen. Das sind konsensträchtige Wünsche. Doch sind sie an die telematische Stadt gebunden? Oder gar nur mit ihr zu erzielen? Natürlich nicht. Lampugnani spricht denn auch - im Unterschied zum Titel des Buches - lieber von der Stadt im telematischen Zeitalter als von der telematischen Stadt. Das ist ein beachtlicher Unterschied. Die Technik ist ihm lediglich eine devote Dienerin bei der Bewältigung der Zukunft. Die von Lampugnani prognostizierten Veränderungen sind folglich unterschwelliger Art. Am ehesten liesse sich die Situation mit der Einführung der Kanalisation im 19. Jahrhundert vergleichen. Sie hat die alten Städte sauberer und gesünder gemacht. Doch sie selbst ist nahezu unsichtbar geblieben. Das Gleiche erwartet Lampugnani von der telematischen Revolution. Sie generiert eine digitale Kanalisation, die ihre Wirkung subkutan entfaltet.

Dadurch entsteht an der «bereinigten» Oberfläche Raum für das, was Stadt vor allem anderen auszeichnet: nämlich das enge Geflecht menschlichen Miteinanders. Lampugnanis telematische Stadt ist idealiter die Stadt des sozialen Gemeinwesens. So heisst es im letzten Satz des Buches: «Die Stadt im Zeitalter der Telematik sollte wie seit jeher und möglichst noch mehr die Stadt der Menschen sein.» Damit lässt sich der Meister der Entschleunigung doch noch zu einem Bekenntnis hinreissen - und lässt dabei alle Telematik weit hinter sich zurück.


[ Vittorio Magnago Lampugnani: Verhaltene Geschwindigkeit. Die Zukunft der telematischen Stadt. Verlag Klaus Wagenbach (Band 66 der Kleinen Kulturwissenschaftlichen Bibliothek), Berlin 2002. 110 S., Fr. 33.-. ]

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