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Spirituell geprägter Urbanismus
Neue Zürcher Zeitung

Ein Buch über den Städteplaner Patrick Geddes

20. August 2002 - Ursula Seibold-Bultmann
Der schottische Natur- und Gesellschaftswissenschafter Sir Patrick Geddes (1854-1932) zählt zu den einflussreichsten Städteplanern der frühen Moderne. Heute beruft man sich gerne dann auf ihn, wenn von Regionalismus oder von der Bedeutung historischer Stadtzentren gesprochen wird. Eine Monographie des Architekturhistorikers Volker M. Welter gibt Auskunft über Geddes' interdisziplinäre und zugleich von spirituellen Interessen geprägte urbanistische Ideale.

Ein Polyp, ein Riesenkrake - das sei London, schrieb Geddes 1915 in der Abhandlung «Cities in Evolution». Zwar tönt der Vergleich nicht neu, findet er sich doch schon im 18. Jahrhundert beim Schriftsteller Horace Walpole. Neu war aber der brisante Hintergrund von Geddes' zoologischer Metaphorik: Er hatte unter anderem bei Thomas Huxley Biologie studiert - jenem Forscher, der entscheidend zum öffentlichen Durchbruch der Theorien Charles Darwins beitrug. Neu war vor allem aber auch der von Geddes und anderen Pionieren der Stadtplanung unternommene Versuch, die dunklen Tentakel zeitgenössischer Metropolen mit Hilfe analytischer Systematik unter Kontrolle zu bringen. Geddes, zunächst Botanik-Professor in Dundee und später kurz Lehrstuhlinhaber für Soziologie an der Universität Bombay, konzipierte zu diesem Zweck seine international wandernde «Cities and Town Planning Exhibition»; zugleich zeigten seine denkmalpflegerischen Eingriffe in der Altstadt von Edinburg sowie im Londoner Stadtteil Chelsea, wie seine Vorstellungen praktisch realisierbar waren.


Naturgesetz und Symbol

Mit Planungsvorschlägen für zahlreiche Städte zwischen Tel Aviv, dem indischen Pinjaur und dem schottischen Dunfermline befasst, verbreitete der rastlose Gelehrte seine Ideen zu gerne mündlich oder in Aufsätzen und Berichten, als dass er sein Gedankengebäude in einem Grundlagenwerk hätte darstellen mögen. Volker Welter legt daher in seinem Buch legitimerweise den Schwerpunkt darauf, aus Geddes' verstreuten Publikationen deren theoretische Basis herauszufiltern und anschliessend ins Umfeld verwandter Zeitphänomene einzuordnen. Das geschieht auf solide und übersichtliche Weise - angefangen bei dem Konzept der Region, welches Geddes aus Arbeiten des französischen Botanikers Charles Flahault ableitete, und bei der vom Soziologen Frédéric Le Play geborgten Begriffstriade «lieu - travail - famille», die dem Schotten in den Übersetzungen «place - work - folk» bzw. «environment - function - organism» zur Untersuchung menschlichen Einwirkens auf die Lebenswelt diente. Wo Geddes hingegen meint, dass eine Stadt nur dann in eine neue Phase ihrer Entwicklung eintreten könne, wenn sie dabei einer allgemein gültigen Evolution von Städten als solcher folge, bezieht er sich auf das «biogenetische Grundgesetz», das der Zoologe Ernst Haeckel in Jena postulierte.

Aber Geddes' stets nach symmetrischer Organisation strebendes Denken, das er in komplexen grafischen Schemata fixierte, erschöpfte sich keineswegs bei den Naturwissenschaften. Unter anderem die griechische Polis und Platos «Republik» schwebten ihm vor, als er sein Ideal städtischer Kultur entwarf. Vier Klassen miteinander kooperierender Bürger - die sogenannten «sozialen Typen» - müssen laut ihm danach streben, von der Ebene blosser Handlungen und der Aufnahme sowie Wiedergabe von Tatsachen über das Reich der Gedanken bzw. Träume zum Niveau sinnstiftender Taten vorzudringen und so ihre Stadt («town») zur wahren «city» zu machen. Als deren Kern fordert er eine Akropolis mit kulturellen Institutionen - ein Gedanke, der auf Bruno Tauts «Stadtkrone» vorausweist. Geddes' spirituelle Interessen kulminierten in der nicht realisierten Vision eines Bahai-Tempels, der in der indischen Stadt Allahabad der Lehre vom Weltfrieden und von der Einheit aller Religionen Ausdruck verleihen sollte. Man darf vermuten, dass sein Glaube an die Notwendigkeit metaphysisch orientierter Stadtzentren nicht zuletzt deshalb so folgenarm blieb, weil er keine über das Zeittypische hinausgehende Form für die entsprechenden Gebäude und Gärten finden konnte.


Sehen als Denkhilfe

Mit dem, was in Welters Buch erfasst und dargelegt ist, ergeben sich nur wenige Probleme; dass das Thema dennoch nicht ganz aufblüht, liegt eher an den Auslassungen. So wird etwa trotz den einschlägigen Hinweisen von Christine Boyer («The City of Collective Memory», 1994) nicht näher untersucht, inwiefern Geddes' Wirken von der Komplementarität verbaler Argumentation und visueller Reize getragen wurde. Schade - denn die schwindelerregende Multiperspektivität seines Denkens kam nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass er dem Publikum unterschiedlichste optische statt nur gedankliche Blickwinkel auf den Gegenstand «Stadt» eröffnete. In dem von ihm eingerichteten Outlook Tower in Edinburg, wo eine Camera obscura und ein Teleskop dem Besucher Einzelheiten aus dem Stadtpanorama nahe brachten und wo auf fünf Stockwerken örtlich begrenztes Wissen mittels einer Plethora von Bildern, Diagrammen, Karten und Globen schrittweise zu weltumspannendem Umfang erweitert wurde, eröffnete eine Überfülle visueller Kontraste und Analogien die Möglichkeit zu unerwarteten Gedankenverbindungen zwischen Fächern wie Geographie, Geschichte und Astronomie. Zur Verarbeitung des Gesehenen gab es, wie auch bei Welter erwähnt, eine Meditationszelle.

Mit Hilfe einer enzyklopädischen Kriterienpalette, die Geddes zur Untersuchung der Ist- Situation vor urbanistischen Eingriffen diente und über die man bei ihm selber nachlesen sollte, lassen sich einseitig orientierte Städteplaner und Investoren erfahrungsgemäss noch heute rasch einmal in Verlegenheit bringen. An dieser Stelle kann ansetzen, wer Geddes in die Gegenwart wirken lassen will.


[Volker M. Welter: Biopolis. Patrick Geddes and the City of Life. MIT Press, Cambridge, Mass., 2002. 328 S., $ 39.95.]

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