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Mediale Bilderflut
Gedanken zu den Architekturobjekten an der Expo 02
Die Architekturbiennale Venedig, die am 7. September eröffnet wird, soll nach dem Willen des diesjährigen Direktors Deyan Sudjic die Baukunst breiten Kreisen schmackhaft machen. Der Expo 02 ist dies mit der Wolke, dem Monolithen oder den Klangtürmen bereits gelungen. Dennoch kann man diese Expo-Bauten auch kritisch interpretieren.
6. September 2002 - Ernst Hubeli
Eigentlich unterscheidet sich das Szenario nicht von den früheren Landesausstellungen: ein Fun- Park mit helvetischer Sonntagsöffentlichkeit, Modernes, Rustikales, Pavillons am und über dem Wasser, einige kühne Konstruktionen, etwas Staatskunde, etwas Ideologie über Zusammenhalt und Zukunftsglaube, eine konfliktfreie Grundstimmung. Der Unterschied zu den vergangenen Landesausstellungen liegt darin, dass diesmal die Besucher aufgefordert werden zu fühlen. Das emotionale Erlebnisprogramm mit «differenzierter Bildlichkeit» ist auch ideologisch begründet, aber unverdächtiger als früher - in der modernen Manier des ex negativo: «Die Expo 02 ist unpädagogisch.» Sie ist es natürlich nicht. Auch die Ausstellungsmacher glaubten nicht an eine frei schwebende Ästhetik und kontrollieren sie flächendeckend mit körperlichen Zwangshandlungen: Schuhe ausziehen! Schutzbrille anziehen! Augen zu! Nasen auf! Im Wasser planschen! Sturmböen aushalten! Auf Gesichtsmasken einschlagen! Sich selbst finden! Freilich muss man sich wegen blosser Aufdringlichkeit noch nicht nach dem «Landigeist» sehnen.
Die verlorene Macht der Bilder
Wie das Erlebnisprogramm steht die Expo- Architektur auf dem Fundament globaler Hyperkultur. Die Szenographie prägen augenfällige Allerweltsobjekte wie schiefe Türme auf instabiler Plattform, natürlich-künstliche Wolken, ein magischer Würfel in der Art der «Deutschschweizer Architektur der neunziger Jahre», dazu begriffsschwere Sinnbegründungen wie Macht und Freiheit, Augenblick und Ewigkeit, Sein oder Nichtsein. Ob mit oder ohne Begründung, ob inner- oder ausserhalb der Expo: Solche Objekte gehören heute zur medialen Bilderflut, die uns tagtäglich überschwemmt. Über ihre Folgen wird seit Jahren gestritten - wahrscheinlich sind sie zwiespältig. Da die Deutungsarbeit kaum mehr zu leisten ist, lösen sich die Bedeutungen von den Bildern und Zeichen - mit dem Nachteil, dass sie sprachlos, fast ausserweltlich nutzlos werden, und dem Vorteil, dass Symbole an Macht verlieren.
Es stellt sich die Frage, ob - ausser den Zeichen und Bildern im Allgemeinen - auch architektonische Formen sich verselbständigen können. Daran glaubte man in den neunziger Jahren, was zu einem Ausscheidungskampf unter «interessanten Bildern» führte. Sämtliche formale Spielarten sind inzwischen ausgereizt und in einem globalen Katalog einzigartiger Architekturobjekte gesammelt. Sie folgen einer Ökonomie der Aufmerksamkeit, was das reale Bauwerk marginalisiert - zugunsten seiner Wirkung als medialer Oberflächenknall. Städte wie Bilbao oder Luzern haben sich davon einen Voodoo-Zauber erhofft. Nur: Wirkt er auch wirklich? Architektur ist heute ein Kulturprodukt wie jedes andere, mit dem spezifischen Unterschied allerdings, dass sich Architektur nicht an der medialen Bilderflut messen kann, weder ökonomisch noch zeitlich noch ikonographisch. So zerstören sich einzigartige Architekturobjekte durch ihre Gegenständlichkeit und durch Wiederholung von selbst - der Voodoo- Zauber ist eine Medienfalle.
Die Architekturobjekte an der Expo repräsentieren eine Bestellung aus dem globalen Architekturkatalog und veranschaulichen ihre Probleme. Wenn sich Formen verselbständigen, kann man nicht davon ausgehen, dass sie automatisch sprechen. Im Gegenteil. Auch die (beabsichtigte) Wirkung und Lesart verselbständigt sich, da Differenzen aufgehoben sind - Zeit und Nicht-Zeit, Ort und Raum, Geschichte und Geschichten, Erinnerung und Nostalgie, Bildlichkeit und Soziales. Subjektive Gleichgültigkeit geht in objektive Gleichwertigkeit über.
Der rostige Kubus im Murtensee dokumentiert im Innern aktuelle Heimatbilder und als «Herzstück» die grösste schweizerische Heldentat aller Zeiten als schwärmerisches Panoramabild von 1894. Nun ja, ein verrosteter Mythos? Oder ist die mystische Form wie der Mythos nur Form? Jedenfalls sind Mythos und Entmystifizierung nicht tautologisch: Die staatskundliche Merkformel «. . . in Murten den Mut . . .» steht für eine Schlacht, in der Schweizer 1476 in grosser Überzahl 12 000 Burgunder auf ihrer Flucht niedermetzelten. Da ein Mythos wie seine Bilder nicht automatisch verständlich oder ironisch ist, ist es auch nicht selbstverständlich, dass die differenzierte Bildlichkeit zu einer Erziehung zum Unpolitischen führt - oder etwa doch?
Festzuhalten ist, dass es auch für Bilder einen Gedanken braucht. Denn das Fatale an der formalen Verselbständigung besteht in ihrer Selbstbeschränkung - entweder wirkt sie lustig oder bierernst. Selbst der Spezialist für einzigartige Formen, Jacques Herzog, hat ähnliche Bedenken geäussert. Die Expo spiegle eine schweizerische Kunstmoral, eine Art wohlbehütete Kindlichkeit, die - bei Tinguely bis Pipilotti Rist - unreflektiert in Infantilität übergeht. Einfache Bilderwelten müssen freilich niemanden ärgern, solange sie den Stellenwert eines Besuches in Disneyworld beibehalten. Es geht heute ohnehin nicht mehr um eine Kritik, Theorie, Moral oder Ökonomie einzigartiger Architekturbilder - sie existieren nicht mehr. Innerhalb der Werbestrategien von Mode- und Erlebnisfabriken werden sie zwar immer wieder auftauchen, aber ebenso schnell verschwinden. Es hat ja auch etwas Beruhigendes, wenn Architektur weder Gefühlsregungen noch Aufmerksamkeit erzwingen kann. Wenn selbst aus kritisch gemeinten Formen ein Freizeitspass wird und wenn man Architekten nicht glauben muss, wie sie ihre Einzigartigkeit begründen.
Notwendigkeit von Architekturdebatten
Auch wenn internationale Architekturmagazine die Expo 02 ausführlich vorstellten, haben sich die Fachkreise noch nie so wenig um die Architektur einer Expo gekümmert. Bedenkenswerter als das Desinteresse sind die Gründe: kein Thema, keine Auseinandersetzung, keine Faszination. Die Objekte sind selbst für eine Kritik hoffnungslos - nicht mangels Theorie, sondern mangels dessen, was die Spatzen längst von den Dächern pfeifen: Die Entwicklungen der Städte und der Agglomerationen, ihre Modernisierung, aber auch neue Ansprüche an die Lebensqualität und an die Urbanität geben der Architektur einen anderen Stellenwert - ohne Städtebau existiert sie nicht. Auch nicht ohne ihre Repolitisierung und nicht ohne gesellschaftliche Legitimation. Den Massstab setzen soziale Prozesse. Sie erfordern ein Verständnis von Architektur, das sich an individuellen Bedürfnissen und öffentlichen Interessen orientiert, gerade weil diese heterogen und widersprüchlich sind. Architektur wird vermehrt Debatten herausfordern, deren Relevanz sich auf Regionen und konkrete Orte beziehen. Solche notwendigerweise inländische und lokale Debatten sind vermutlich auch die letzte ästhetische Waffe gegen die Dominanz globaler Hyperkulturen und insofern eine Voraussetzung, um einer Landesausstellung - falls man an einer solchen überhaupt noch festhalten will und kann - architektonisch einen Sinn zu geben.
Ernst Hubeli
Der Autor arbeitet als Architekt und Publizist in Zürich sowie als Gastprofessor an der Universität Graz. Er forscht unter anderem zum Thema öffentlicher Raum.
Die verlorene Macht der Bilder
Wie das Erlebnisprogramm steht die Expo- Architektur auf dem Fundament globaler Hyperkultur. Die Szenographie prägen augenfällige Allerweltsobjekte wie schiefe Türme auf instabiler Plattform, natürlich-künstliche Wolken, ein magischer Würfel in der Art der «Deutschschweizer Architektur der neunziger Jahre», dazu begriffsschwere Sinnbegründungen wie Macht und Freiheit, Augenblick und Ewigkeit, Sein oder Nichtsein. Ob mit oder ohne Begründung, ob inner- oder ausserhalb der Expo: Solche Objekte gehören heute zur medialen Bilderflut, die uns tagtäglich überschwemmt. Über ihre Folgen wird seit Jahren gestritten - wahrscheinlich sind sie zwiespältig. Da die Deutungsarbeit kaum mehr zu leisten ist, lösen sich die Bedeutungen von den Bildern und Zeichen - mit dem Nachteil, dass sie sprachlos, fast ausserweltlich nutzlos werden, und dem Vorteil, dass Symbole an Macht verlieren.
Es stellt sich die Frage, ob - ausser den Zeichen und Bildern im Allgemeinen - auch architektonische Formen sich verselbständigen können. Daran glaubte man in den neunziger Jahren, was zu einem Ausscheidungskampf unter «interessanten Bildern» führte. Sämtliche formale Spielarten sind inzwischen ausgereizt und in einem globalen Katalog einzigartiger Architekturobjekte gesammelt. Sie folgen einer Ökonomie der Aufmerksamkeit, was das reale Bauwerk marginalisiert - zugunsten seiner Wirkung als medialer Oberflächenknall. Städte wie Bilbao oder Luzern haben sich davon einen Voodoo-Zauber erhofft. Nur: Wirkt er auch wirklich? Architektur ist heute ein Kulturprodukt wie jedes andere, mit dem spezifischen Unterschied allerdings, dass sich Architektur nicht an der medialen Bilderflut messen kann, weder ökonomisch noch zeitlich noch ikonographisch. So zerstören sich einzigartige Architekturobjekte durch ihre Gegenständlichkeit und durch Wiederholung von selbst - der Voodoo- Zauber ist eine Medienfalle.
Die Architekturobjekte an der Expo repräsentieren eine Bestellung aus dem globalen Architekturkatalog und veranschaulichen ihre Probleme. Wenn sich Formen verselbständigen, kann man nicht davon ausgehen, dass sie automatisch sprechen. Im Gegenteil. Auch die (beabsichtigte) Wirkung und Lesart verselbständigt sich, da Differenzen aufgehoben sind - Zeit und Nicht-Zeit, Ort und Raum, Geschichte und Geschichten, Erinnerung und Nostalgie, Bildlichkeit und Soziales. Subjektive Gleichgültigkeit geht in objektive Gleichwertigkeit über.
Der rostige Kubus im Murtensee dokumentiert im Innern aktuelle Heimatbilder und als «Herzstück» die grösste schweizerische Heldentat aller Zeiten als schwärmerisches Panoramabild von 1894. Nun ja, ein verrosteter Mythos? Oder ist die mystische Form wie der Mythos nur Form? Jedenfalls sind Mythos und Entmystifizierung nicht tautologisch: Die staatskundliche Merkformel «. . . in Murten den Mut . . .» steht für eine Schlacht, in der Schweizer 1476 in grosser Überzahl 12 000 Burgunder auf ihrer Flucht niedermetzelten. Da ein Mythos wie seine Bilder nicht automatisch verständlich oder ironisch ist, ist es auch nicht selbstverständlich, dass die differenzierte Bildlichkeit zu einer Erziehung zum Unpolitischen führt - oder etwa doch?
Festzuhalten ist, dass es auch für Bilder einen Gedanken braucht. Denn das Fatale an der formalen Verselbständigung besteht in ihrer Selbstbeschränkung - entweder wirkt sie lustig oder bierernst. Selbst der Spezialist für einzigartige Formen, Jacques Herzog, hat ähnliche Bedenken geäussert. Die Expo spiegle eine schweizerische Kunstmoral, eine Art wohlbehütete Kindlichkeit, die - bei Tinguely bis Pipilotti Rist - unreflektiert in Infantilität übergeht. Einfache Bilderwelten müssen freilich niemanden ärgern, solange sie den Stellenwert eines Besuches in Disneyworld beibehalten. Es geht heute ohnehin nicht mehr um eine Kritik, Theorie, Moral oder Ökonomie einzigartiger Architekturbilder - sie existieren nicht mehr. Innerhalb der Werbestrategien von Mode- und Erlebnisfabriken werden sie zwar immer wieder auftauchen, aber ebenso schnell verschwinden. Es hat ja auch etwas Beruhigendes, wenn Architektur weder Gefühlsregungen noch Aufmerksamkeit erzwingen kann. Wenn selbst aus kritisch gemeinten Formen ein Freizeitspass wird und wenn man Architekten nicht glauben muss, wie sie ihre Einzigartigkeit begründen.
Notwendigkeit von Architekturdebatten
Auch wenn internationale Architekturmagazine die Expo 02 ausführlich vorstellten, haben sich die Fachkreise noch nie so wenig um die Architektur einer Expo gekümmert. Bedenkenswerter als das Desinteresse sind die Gründe: kein Thema, keine Auseinandersetzung, keine Faszination. Die Objekte sind selbst für eine Kritik hoffnungslos - nicht mangels Theorie, sondern mangels dessen, was die Spatzen längst von den Dächern pfeifen: Die Entwicklungen der Städte und der Agglomerationen, ihre Modernisierung, aber auch neue Ansprüche an die Lebensqualität und an die Urbanität geben der Architektur einen anderen Stellenwert - ohne Städtebau existiert sie nicht. Auch nicht ohne ihre Repolitisierung und nicht ohne gesellschaftliche Legitimation. Den Massstab setzen soziale Prozesse. Sie erfordern ein Verständnis von Architektur, das sich an individuellen Bedürfnissen und öffentlichen Interessen orientiert, gerade weil diese heterogen und widersprüchlich sind. Architektur wird vermehrt Debatten herausfordern, deren Relevanz sich auf Regionen und konkrete Orte beziehen. Solche notwendigerweise inländische und lokale Debatten sind vermutlich auch die letzte ästhetische Waffe gegen die Dominanz globaler Hyperkulturen und insofern eine Voraussetzung, um einer Landesausstellung - falls man an einer solchen überhaupt noch festhalten will und kann - architektonisch einen Sinn zu geben.
Ernst Hubeli
Der Autor arbeitet als Architekt und Publizist in Zürich sowie als Gastprofessor an der Universität Graz. Er forscht unter anderem zum Thema öffentlicher Raum.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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