Artikel

Wenn die Kunst vom Leben eingeholt wird
Der Standard

Architektur und Terrorismus bedienen sich ähnlicher Bilder, um Politik sichtbar zu machen

7. September 2002 - Stanislaus von Moos
Das Stichwort hat der Komponist Karlheinz Stockhausen gegeben, als er über die Explosion vom 11. September sagte, es handle sich um „das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat“. Der Ausspruch hatte bekanntlich die Annullierung eines für den gleichen Abend in Hamburg geplanten Konzerts zur Folge, und die Reaktionen waren, wie man in den Zeitungen lesen konnte, dergestalt, dass sich der Komponist gleichentags für die Entgleisung entschuldigte. Was aber war wirklich passiert? Da hatte einer eine radikale Formel gefunden für das, was viele im Angesicht der Katastrophe nicht auszusprechen wagten, obwohl der Gedanke nicht wenigen zu schaffen gemacht haben dürfte. Nämlich, dass das Spektakel der in Feuer und Rauch explodierenden und dann in sich selbst zusammensinkenden Türme die Welt nicht nur für Tage und Wochen in Bann schlug, sondern dass diese Bilder in ihrer Farbenpracht in gespenstischer Weise „schön“ waren wie ein Naturschauspiel. Oder aber, mit den hinzutretenden Pathosfiguren der entsetzten Passanten oder des Teufels, dessen Gesicht einige in der über den Türmen aufsteigenden Rauchformation erkannt haben wollen, wie die Übersetzung einer mittelalterlichen Darstellung des Jüngsten Gerichts.
Nichts liegt näher als der Verdacht, die Wahl des Objekts, die Wahl des Vorgehens, die Wahl der Tageszeit, dass das alles Teil einer präzise aufgebauten Dramaturgie war. Zumal der strahlende Vormittag die beste Garantie dafür bot, dass die amerikanischen Medien das Ereignis in den prächtigsten Farben weltweit veröffentlichen würden. Ganz zu schweigen vom Timing: von der wirkungsvollen Staffelung der Ereignisse, das heißt von der Tatsache, dass zwischen dem ersten und dem zweiten „Einschuss“ gerade die Zeitspanne anberaumt wurde, die nötig war, um die Fernsehkameras in Stellung zu bringen, respektive dem Betrachter zu erlauben, es sich im Lehnstuhl vor dem Fernsehschirm bequem zu machen.
Oft sagen die Bilder und erst recht die Art, wie sie von Zeitungen und Zeitschriften bearbeitet und grafisch inszeniert werden, in der Tat mehr aus über die darin reflektierten Bilder und Vorstellungen heroischen Scheiterns oder kühnen Aufbruchs als über den Zustand von „Ground Zero“ selbst. Nicht selten fällt es schwer, in Anbetracht des Geschiebes der geborstenen, schräg angehobenen Stahlträger des World Trade Centers nicht an die aufgestauten Eisbrocken auf Caspar David Friedrichs „Gescheiterter Hoffnung“ zu denken. Dann wieder erscheint das aufgepflanzte Sternenbanner über den Ruinen wie eine Projektion von Delacroix' „La liberté guidant le peuple“.

Kurt Forster beschreibt in seinem Aufsatz „Monuments to the City“, wie in der Geschichte Einzelbauten die Rolle zugewachsen ist, die Identität ganzer Städte, ja darüber hinaus ganzer Gesellschaften zu verkörpern. Forster zeigt etwa das Haus des Romulus auf dem Kapitol in Rom: eine kleine Holzhütte, während der ganzen römischen Antike zahllose Male restauriert und wieder aufgebaut als Denkmal des Stadt- und Staatsgründers Romulus. Ein Haus, das die Gründungsgeschichte der Stadt verkörpert.

Es gibt auch andere Typen von Stadtmonumenten. Lediglich versuchte Symbolprägungen zum Beispiel, wie Loos' berühmter Vorschlag, Chicago als Stadt in Gestalt eines Wolkenkratzers zu symbolisieren, der die Form einer dorischen Säule hat (Chicago Tribune Wettbewerb, 1922). Die Idee wurde nicht realisiert; es blieb bei der interessanten Hypothese. Wie wird ein Bauwerk zum Stadtmonument? Am ehesten dürfte es Bauten gelingen, die mit einem Superlativ in Verbindung gebracht werden können. Das älteste, das höchste, das merkwürdigste und ungewöhnlichste Gebäude hat immer gute Aussichten, zum Stadt-Logo zu werden. So besehen war es wohl unausweichlich, dass das World Trade Center, das höchste Gebäude von New York, einmal gebaut, zur symbolischen Verkörperung der Stadt werden würde, zumindest auf Souvenirtellern, Aschenbechern und T-Shirts, fast gleichberechtigt neben der Freiheitsstatue.

Die Verdoppelung, die alles Übrige massiv übertreffende Höhe, ferner die radikal abstrakte Form der beiden über quadratischem Grundriss aufsteigenden Prismen schienen es gewissermaßen mit der Stadt als Ganzes aufnehmen zu wollen; sie schweißten die Stadt selbst oder doch zumindest Lower Manhattan zum Bild zusammen - ähnlich wie die Türme Asinelli und Garisenda Bologna zum Kürzel einer mittelalterlichen Stadt zusammenfassten. Mit dem 11. September hat sich New York dann wieder zu jenem charakteristischen diffusen Bild der nach links und rechts fast endlos ausufernden „Fieberkurve“ zerbröselt, das Le Corbusier in den Dreißigerjahren angetroffen und gegeißelt hatte. Was jedoch die beiden Türme anbelangt, so wurden sie gewissermaßen im Einsturz „nationalisiert“: Als Einstürzende oder Gefallene waren sie plötzlich nicht mehr bloß Symbole von New York, sondern ganz einfach die Verkörperungen Amerikas schlechthin geworden und standen nun, da sie eingestürzt waren, für „Freedom“, „American Values“ und den „American Way of Life“. Immerhin hatte es kurz nach dem 11. September auch andere, wohl zutreffendere Interpretationen gegeben, etwa jene von BBC, die die fraglichen Türme in einer ersten Reaktion als herausragende Symbole der finanziellen und militärischen Macht der USA interpretierten. Trotzdem, auch der Zürcher Tagesanzeiger übernahm demgegenüber spontan die Sichtweise des amerikanischen Präsidenten und stellte die ersten Reportagen unter den Titel „Angriff auf Amerika“. Das „Herz Amerikas“ sei getroffen worden, titelte selbst Libération, Paris. Als hätte sich die Weltpresse verschworen, den militärischen Schlag gegen Afghanistan unvermeidlich erscheinen zu lassen. Wie man weiß, hat dieser Krieg wesentlich mehr Opfer gefordert als der 11. September, der ihn auslöste.

Nach der erfolgreichen Nationalisierung der Türme schien es dann für die Wiedergutmachung in situ gar keinen anderen Weg zu geben als den der möglichst originalgetreuen Rekonstruktion. Und nun konnte man ernsthafte Architekten und Architekturkritiker bei der Forderung ertappen, das World Trade Center müsse unverzüglich wieder aufgebaut werden. Nachdem Mayor Giuliani wenige Tage nach der Katastrophe die „Rekonstruktion“ der beiden Türme angekündigt hatte (eine Idee, von der er noch während seiner Amtszeit zum Glück wieder abgewichen ist), wusste zum Beispiel die Neue Zürcher Zeitung zu berichten, dieser Entscheid sei von vielen New Yorkern wie eine „Befreiung“ empfunden worden. Aus Gründen der Vernunft wie auch aus Gründen der Pietät komme nur eine nach neuesten technischen Erkenntnissen ausgeführte mimetische Rekonstruktion infrage. Denn nur die wieder errichteten Zwillingstürme werden alle Erinnerungsfunktionen erfüllen können und gleichzeitig in der Lage sein, den Terroristen zu zeigen, dass die freie Gesellschaft sich nicht in die Knie zwingen lässt.

Innerhalb kürzester Zeit (das heißt pünktlich genug, um noch in der einschlägigen New York Verdana-Ausgabe vom 23. September berücksichtigt zu werden) meldete sich dann die Crème der amerikanischen Kunst- und Architekturszene zu Wort. Immerhin begann jetzt die Front derer, die eine integrale Rekonstruktion wünschten, langsam zu bröckeln. Peter Eisenman freilich meinte, man solle in Anbetracht der Tatsache, dass „die Werte und die Kultur des Westens“ angegriffen seien, nicht zögern, erneut so hoch zu bauen wie die zerstörten Türme. Renzo Piano und Richard Meier fanden, dass zwar eine mimetische Rekonstruktion nicht infrage komme, dass jedoch etwas gebaut werden müsse, was „ein ebenso mächtiges Symbol abgeben würde, wie es die World Trade Towers taten“. James Turrell, der Bildhauer, schrieb, dass die wieder aufgebauten Türme noch höher werden müssten, als die alten es gewesen seien; auch Robert Stern, Philip Johnson und last but not least Bernard Tschumi plädierten für einen Wiederaufbau (Johnson, weil es gelte, den Terroristen zu zeigen, dass alles, was sie zerstören, wieder errichtet wird). Am weitesten ging Hyman Brown, einer der Ingenieure des WTC, der eine mimetisch exakte Rekonstruktion verlangte und darüber hinaus eine Aufstockung um 30 Stockwerke (die Türme würden so statt 415 etwa 535 Meter hoch). Die meisten Künstler haben auf das Ereignis um einiges nachdenklicher reagiert und damit die unverdrossene Megalomanie der Architekten erst recht bloßgestellt: etwa wenn sie ein sternförmiges Denkmal vorschlagen (wie Louise Bourgeois) oder einfach die Freihaltung des gesamten Terrains (wie Joel Shapiro) oder einen meditativen Park (wie John Baldessari). Der Kunsthistoriker Robert Rosenblum meinte, er könnte sich ein leeres Phantomgebäude in der Form der Twin Towers vorstellen (Venturis Franklin Court in Philadelphia mag ihm dabei vor Augen gestanden haben). Der Vorschlag der Künstler Paul Myoda und Julina La Verdier zielt in eine ähnliche Richtung: Sie regten an, anstelle der beiden Türme mittels Scheinwerfern eine Lichterscheinung in den Luftraum zu projizieren. Ein ähnliches Projekt wurde am Gedenktag sechs Monate nach dem Unglück als temporäre Installation realisiert.

In der Tat: Wie kann eine Rekonstruktion aussehen in einer Zeit, wo das, was rekonstruiert werden soll, entweder nicht rekonstruierbar ist, weil es etwa den Konsens der Öffentlichkeit nicht mehr findet? Kann sie einen anderen Weg einschlagen als den, Präsenz durch inszenierte Absenz zu markieren, Monumentalität durch erklärte Negation des Monuments? Spätestens zu dem Zeitpunkt, als deutlich wurde, dass die Grundeigentümer genauso wie der Gouverneur des Staates New York entschlossen waren, über „Ground Zero“ die verlorene kolossale Dichte von Büronutzung wiederherzustellen, wurden solche Vorstellungen zur Makulatur.
Was passiert, wenn die Kunst vom Leben eingeholt wird? Wenn Möglichkeiten, die man sich nur auf dem Umweg über die Fiktion vorzustellen vermochte, plötzlich zur Realität werden? Das Resultat sind Wahrnehmungsverschiebungen, konkret: eine veränderte Sicht auf vertraute Dinge. Eine bestimmte Art von Sensibilität wird geschärft, andere Arten werden abgestumpft. Ästhetik tritt in den Hintergrund, dafür treten die elementaren Beweggründe des Bauens ins Bewusstsein: Fragen der Sicherheit (man weiß heute, dass sie im Falle der Twin Towers massiv vernachlässigt wurden). Außerdem die erbarmungslos politische Natur der gebauten Umwelt. Ein Automatismus der Revision und der Ausblendung des für real Erachteten setzt sich in Gang. Man erlebt es an sich selber: zum Beispiel anhand des zufällig herausgegriffenen Projekts von Frank Gehry für den neuen Hauptsitz der New York Verdana in New York. Im Jahre 2000 hat die New York Verdana dem Projekt einen Entwurf von Renzo Piano vorgezogen. Dieser soll jetzt auch realisiert werden. Bis Anfang September 2001 mochte man das beklagen. In der Ausgabe vom 16. Juli von The New Republic konnte Martin Filler noch schreiben, es handle sich bei dem Projekt um „easily the most exciting high-rise scheme in recent memory“. Hätte er das zwei Monate später auch noch so gesehen? Zumindest in den ersten Wochen nach dem 11. September, als die Bilder vom Einsturz noch in den Köpfen steckten, war schon die Modellaufnahme ein schwer erträglicher Anblick.

Was passiert, wenn die Kunst von der Geschichte eingeholt wird? Von Architektenseite, vonseiten der Architekturkritik, sind nur wenig existenzielle Erschütterungen zu vermelden. Vielleicht haben die Filmwissenschafter mehr Erfahrung mit einer solchen Frage. „Le cinéma rattrapé par l'histoire“ ist das Thema der Oktobernummer der Cahiers du Cinéma (2001). Man hat es auch anderswo gelesen: Hollywood zieht unter dem Eindruck der Ereignisse gewisse Filme zurück (wenigstens vorläufig). So Warner Bros., etwa „Collateral Damage“ mit Arnold Schwarzenegger, der am 5. Oktober 2001 hätte lanciert werden sollen („aus Respekt für die Opfer und ihre Familien“, wie es hieß); Sony wiederum zog für einige Monate „Spider Man“ zurück, einen Thriller, in dem ein Helikopter vorkommt, der sich in einem zwischen den beiden Türmen des World Trade Centers gespannten Netz verfängt. []

Stanislaus von Moos ist Ordinarius für moderne und zeitgenössische Kunst an der Universität Zürich. Der von uns stark gekürzte Artikel ist in voller Länge in der Zeitschrift „Baumeister“, Nr. 9, September 2002 beim Münchner Callwey Verlag greifbar (0049 89 43 60 05-0).

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: