Artikel
Vergangenheitskult und Zukunftsentwürfe
Widersprüchliche urbanistische Visionen für Havanna
Seitdem Fidel Castro 1965 die architektonische Moderne auf Kuba für tot erklärte, tut man in Havanna so, als habe es niemals eine Epoche des internationalen Stils auf Kuba gegeben. Man setzt lieber auf die bei Touristen beliebte Kolonialarchitektur. Aber seit einiger Zeit gibt es auch leise Ansätze eines Neuanfangs.
6. September 2002 - Klaus Englert
Noch heute wird der Schriftsteller Alejo Carpentier in seiner kubanischen Heimat geradezu kultisch verehrt. Besonders beliebt sind jene kurzen Prosastücke, die das romantische Bild eines lebendigen, farbenfrohen Havanna wachhalten, den unvergänglichen Charme der Kolonialarchitektur preisen und dabei die verblassenden Slogans einer alt gewordenen Revolution mühelos überdauern. Als 1959 die bärtigen Comandantes die Macht auf dem Inselstaat übernahmen und die moderne kubanische Architektur die letzte Phase ihres ungewöhnlichen Aufschwungs erlebte, schrieb Carpentier den Aufsatz «Stadt der Paläste», eine Verklärung von Havannas vergangener Grösse. Auch die 1964 veröffentlichte «Stadt der Säulen» verlor kein Wort über die Modernen, obwohl im gleichen Jahr Fidel Castro das Totenglöcklein für das letzte ambitiöse Architekturprojekt läutete - Ricardo Porros Nationale Kunstschule, ein Ensemble aus Kuppel- und Tonnengewölben, das kurz vor seiner Vollendung aufgegeben werden musste (NZZ 9. 2. 02). Carpentier hatte schon früh geahnt, dass die museale Konservierung Havannas den touristischen Erwartungen am besten entspricht. Vergessen die Zeit, als Richard Neutra und Roberto Burle Marx die 1958 prämierte Villa für Alfred de Schulthess bauten, vergessen Philip Johnsons Entwurf für das Hotel Monaco und Mies van der Rohes Projekt für die Verwaltung von Bacardi, vergessen der prägende Einfluss von Le Corbusier und Frank Lloyd Wright auf die lokalen Architekten, vergessen die kubanische Sektion der Congrès internationaux d'architecture moderne (CIAM), vergessen auch die Neuordnungspläne für Habana del Este von Josep Lluís Sert und der Masterplan für die Altstadt von Ricardo Porro.
Fehlende Weitsicht
Während mittlerweile die Nationale Kunstschule in Cubanacán von der Natur zurückerobert wird, rüstet sich die Aktiengesellschaft Habaguanex unter der Leitung des Stadthistorikers Eusebio Spengler Leal, um das nostalgische Bild von La Habana Vieja wieder aufzufrischen. Leal hatte 1993 von Castro freie Hand bekommen, um durch einen Masterplan (Plan Maestro para la Revitalización Integral de La Habana Vieja) die besonders bedrohte Altstadt vor dem Verfall zu retten. Der Plan sieht neben der Umsiedlung von 20 000 Menschen in vorübergehende Wohneinheiten (comunidades transitorias) die Entkernung von Palästen und Wohnhäusern vor, die nach der Renovierung zumeist in Hotels, Bars und Boutiquen umgewandelt werden. Der Überschuss aus diesen Projekten fliesst schliesslich zurück in die finanzkräftige Habaguanex, die das Kapital in weitere Restaurierungen, Joint Ventures und in Dienstleistungsangebote - wie etwa Taxiunternehmen - investiert.
Natürlich erntet Leals Vorhaben viel Lob, da der schleichende Verfall der Altstadt als unabwendbar galt. Dabei wird allerdings übersehen, dass die vom Stadthistoriker initiierten Renovierungen die Kluft zwischen dem alten, unter Schuttmassen erstickenden Tagelöhnerviertel Jesús María, das inoffiziell zur «No-Go-Zone» erklärt wurde, und dem touristisch aufgewerteten Dreieck zwischen Plaza de la Catedral, Plaza de Armas und Plaza Vieja nur noch vergrösserten. Da die Kolonialarchitektur zweifellos die grösste Attraktion auf die Touristen ausübt, sollte kein avantgardistisches Bauexperiment das romantisierte Bild von La Habana Vieja eintrüben. Deswegen versteht Leal die Altstadtrestaurierung als einen «viaje en la memoria». So wurde etwa die Plaza Vieja, die noch vor einigen Jahren von einer Tiefgarage verunziert wurde, auf ausdrückliches Verlangen Leals in die Zeit der vierziger Jahre zurückversetzt. Nun präsentiert der Platz mit seinen schattenspendenden Arkaden und frisch renovierten Renaissance-Häusern im Zentrum ein schlichtes Denkmal, umgeben von einer polygonalen Gitterkonstruktion, die ebenso stupide wirkt wie die weiträumige Umfassung durch Kanonenkugeln. Kein Wunder, dass das von Carpentier so sehr gelobte «Schauspiel» auf den Strassen Havannas hier wie abgestorben wirkt.
Neuinterpretation der Altstadt
Als der exilkubanische Schriftsteller Iván de la Nuez vor kurzem in seine Heimatstadt zurückkehrte, fühlte er sich in das kolonialistische Havanna zurückversetzt: «Das Aussehen von Havanna ist das einer Stadt aus früheren Zeiten, beherrscht von der düsteren Architektur der Macht.» Auch ausländische Architekten, die Leals Restaurierungen jahrelang beobachtet haben, sind eher skeptisch. Natürlich ist es übertrieben, wenn sich Carl Pruscha an «Disneyland» erinnert fühlt, aber auch sein Wiener Kollege Wolf Prix erkennt den «kapitalistischen Virus», der in Havanna um sich greift: «Es entstehen Touristenfallen, während zur gleichen Zeit die Bewohner ausquartiert werden.» Prix beklagt das Fehlen einer Vision für ein neues Havanna. Dabei glaubt er keineswegs an die Investitionen mächtiger Developer, die die Stadt binnen kurzer Zeit ruinieren würden. Vielmehr favorisiert er eine «sanfte» Veränderung, ein Low-Budget-Unternehmen und die Kreativität der Bevölkerung.
In diese Richtung geht ein Vorschlag des New Yorker Architekten Lebbeus Woods: Sein Projekt für den Malecón sieht eine sechs Kilometer lange Befestigungsmauer aus Beton vor, die den Schutz vor den gefährlichen Stürmen verbessern, aber auch das städtische Leben ans Meer heranführen soll. Woods unterstreicht den Vorteil dieses Projekts für eine Stadt wie Havanna: «Die ganze Bevölkerung könnte den Wall bauen und danach auch für seine Instandhaltung sorgen.» Woods hat diesen Entwurf vor sieben Jahren im Rahmen des «Havanna Project» erarbeitet. Auch Wolf Prix, Carl Pruscha, Peter Noever, Eric Owen Moss, Thom Mayne und Carme Pinós waren damals an dem Projekt beteiligt, das für verschiedene Bezirke von La Habana Vieja neue, völlig ungewöhnliche Vorschläge diskutierte. Doch sie wurden ebenso wenig ernst genommen wie die Modelle, die Woods und Moss im Januar 2000 in der Altstadt präsentierten.
Die einzige Nische, die man derzeit der Gegenwartsarchitektur zugesteht, ist ihr eingeschränktes Dasein in Ideenwettbewerben. Immerhin wecken die hier entstandenen Entwürfe eine Ahnung davon, dass «die kubanischen Architekten» - wie Wolf Prix meint - «einmal die besten der Welt» waren. Davon zeugt ein kürzlich in Havanna veranstalteter Wettbewerb, der sich mit punktuellen Eingriffen in drei städtischen Zonen beschäftigte. Ausdrücklich wurde verlangt, die historische Stadt mit den Mitteln zeitgenössischer Baukunst neu zu interpretieren. Dem vom andalusischen Ministerium für Bauen und Wohnen sowie vom Amt des Stadthistorikers ausgelobten Wettbewerb sassen unter anderem Antonio Cruz (Sevilla) und Eusebio Leal vor. Die prämierten Entwürfe überzeugen insgesamt durch eine flexible Raumorganisation - durch umlaufende Galerietrakte, auskragende Wohneinheiten, diagonal verlaufende, geschossverbindende Brandtreppen und eine maschenförmige Vernetzung von Wohnflächen und Patios. Von Anbiederung an das historische Stadtbild keine Spur.
Ein in Santiago de Compostela veranstalteter Wettbewerb setzte dagegen Akzente für die zukünftige Entwicklung verschiedener lateinamerikanischer Städte. Bei den für Santiago de Cuba vorgestellten Entwürfen wird deutlich, dass die von Woods und Prix favorisierten Low-Budget- Modelle durchaus in der Lage sind, der strapazierten Hafenregion der südkubanischen Stadt durch ein ökologisches Konzept neue, überzeugende Nutzungen zu geben. Jurymitglied Roberto Segre meint denn auch, «viele junge Architekten fühlen sich von dem historischen Erbe befreit und verfolgen ein architektonisches und urbanistisches Konzept, das dem Lateinamerika des 21. Jahrhunderts entspricht». Iván de la Nuez spricht sogar von einer «neuen kubanischen Architektur». Allerdings fügt er hinzu, dass den Erben eines Ricardo Porro, Mario Romañach, Max Borges Recio und Nicolás Quintana nichts anderes übrig bleibt, als den Traum eines fiktiven Havanna im Exil fortzuspinnen.
[ Architekturbiennale in Havanna
zz. Vor einem Jahr wurde in Havanna die Initiative zur Durchführung einer Architekturbiennale ergriffen, die dank der Einwilligung des Kulturministeriums im März zur ersten Veranstaltung dieser Art auf Kuba führte. Zu sehen waren neben der Präsentation von Architekturfilmen und Architekturbüchern auch Ausstellungen zum Urbanismus im historischen Havanna sowie zur kubanischen Baukunst im 20. Jahrhundert. Die nächste Architekturbiennale soll im Jahr 2004 stattfinden. ]
Fehlende Weitsicht
Während mittlerweile die Nationale Kunstschule in Cubanacán von der Natur zurückerobert wird, rüstet sich die Aktiengesellschaft Habaguanex unter der Leitung des Stadthistorikers Eusebio Spengler Leal, um das nostalgische Bild von La Habana Vieja wieder aufzufrischen. Leal hatte 1993 von Castro freie Hand bekommen, um durch einen Masterplan (Plan Maestro para la Revitalización Integral de La Habana Vieja) die besonders bedrohte Altstadt vor dem Verfall zu retten. Der Plan sieht neben der Umsiedlung von 20 000 Menschen in vorübergehende Wohneinheiten (comunidades transitorias) die Entkernung von Palästen und Wohnhäusern vor, die nach der Renovierung zumeist in Hotels, Bars und Boutiquen umgewandelt werden. Der Überschuss aus diesen Projekten fliesst schliesslich zurück in die finanzkräftige Habaguanex, die das Kapital in weitere Restaurierungen, Joint Ventures und in Dienstleistungsangebote - wie etwa Taxiunternehmen - investiert.
Natürlich erntet Leals Vorhaben viel Lob, da der schleichende Verfall der Altstadt als unabwendbar galt. Dabei wird allerdings übersehen, dass die vom Stadthistoriker initiierten Renovierungen die Kluft zwischen dem alten, unter Schuttmassen erstickenden Tagelöhnerviertel Jesús María, das inoffiziell zur «No-Go-Zone» erklärt wurde, und dem touristisch aufgewerteten Dreieck zwischen Plaza de la Catedral, Plaza de Armas und Plaza Vieja nur noch vergrösserten. Da die Kolonialarchitektur zweifellos die grösste Attraktion auf die Touristen ausübt, sollte kein avantgardistisches Bauexperiment das romantisierte Bild von La Habana Vieja eintrüben. Deswegen versteht Leal die Altstadtrestaurierung als einen «viaje en la memoria». So wurde etwa die Plaza Vieja, die noch vor einigen Jahren von einer Tiefgarage verunziert wurde, auf ausdrückliches Verlangen Leals in die Zeit der vierziger Jahre zurückversetzt. Nun präsentiert der Platz mit seinen schattenspendenden Arkaden und frisch renovierten Renaissance-Häusern im Zentrum ein schlichtes Denkmal, umgeben von einer polygonalen Gitterkonstruktion, die ebenso stupide wirkt wie die weiträumige Umfassung durch Kanonenkugeln. Kein Wunder, dass das von Carpentier so sehr gelobte «Schauspiel» auf den Strassen Havannas hier wie abgestorben wirkt.
Neuinterpretation der Altstadt
Als der exilkubanische Schriftsteller Iván de la Nuez vor kurzem in seine Heimatstadt zurückkehrte, fühlte er sich in das kolonialistische Havanna zurückversetzt: «Das Aussehen von Havanna ist das einer Stadt aus früheren Zeiten, beherrscht von der düsteren Architektur der Macht.» Auch ausländische Architekten, die Leals Restaurierungen jahrelang beobachtet haben, sind eher skeptisch. Natürlich ist es übertrieben, wenn sich Carl Pruscha an «Disneyland» erinnert fühlt, aber auch sein Wiener Kollege Wolf Prix erkennt den «kapitalistischen Virus», der in Havanna um sich greift: «Es entstehen Touristenfallen, während zur gleichen Zeit die Bewohner ausquartiert werden.» Prix beklagt das Fehlen einer Vision für ein neues Havanna. Dabei glaubt er keineswegs an die Investitionen mächtiger Developer, die die Stadt binnen kurzer Zeit ruinieren würden. Vielmehr favorisiert er eine «sanfte» Veränderung, ein Low-Budget-Unternehmen und die Kreativität der Bevölkerung.
In diese Richtung geht ein Vorschlag des New Yorker Architekten Lebbeus Woods: Sein Projekt für den Malecón sieht eine sechs Kilometer lange Befestigungsmauer aus Beton vor, die den Schutz vor den gefährlichen Stürmen verbessern, aber auch das städtische Leben ans Meer heranführen soll. Woods unterstreicht den Vorteil dieses Projekts für eine Stadt wie Havanna: «Die ganze Bevölkerung könnte den Wall bauen und danach auch für seine Instandhaltung sorgen.» Woods hat diesen Entwurf vor sieben Jahren im Rahmen des «Havanna Project» erarbeitet. Auch Wolf Prix, Carl Pruscha, Peter Noever, Eric Owen Moss, Thom Mayne und Carme Pinós waren damals an dem Projekt beteiligt, das für verschiedene Bezirke von La Habana Vieja neue, völlig ungewöhnliche Vorschläge diskutierte. Doch sie wurden ebenso wenig ernst genommen wie die Modelle, die Woods und Moss im Januar 2000 in der Altstadt präsentierten.
Die einzige Nische, die man derzeit der Gegenwartsarchitektur zugesteht, ist ihr eingeschränktes Dasein in Ideenwettbewerben. Immerhin wecken die hier entstandenen Entwürfe eine Ahnung davon, dass «die kubanischen Architekten» - wie Wolf Prix meint - «einmal die besten der Welt» waren. Davon zeugt ein kürzlich in Havanna veranstalteter Wettbewerb, der sich mit punktuellen Eingriffen in drei städtischen Zonen beschäftigte. Ausdrücklich wurde verlangt, die historische Stadt mit den Mitteln zeitgenössischer Baukunst neu zu interpretieren. Dem vom andalusischen Ministerium für Bauen und Wohnen sowie vom Amt des Stadthistorikers ausgelobten Wettbewerb sassen unter anderem Antonio Cruz (Sevilla) und Eusebio Leal vor. Die prämierten Entwürfe überzeugen insgesamt durch eine flexible Raumorganisation - durch umlaufende Galerietrakte, auskragende Wohneinheiten, diagonal verlaufende, geschossverbindende Brandtreppen und eine maschenförmige Vernetzung von Wohnflächen und Patios. Von Anbiederung an das historische Stadtbild keine Spur.
Ein in Santiago de Compostela veranstalteter Wettbewerb setzte dagegen Akzente für die zukünftige Entwicklung verschiedener lateinamerikanischer Städte. Bei den für Santiago de Cuba vorgestellten Entwürfen wird deutlich, dass die von Woods und Prix favorisierten Low-Budget- Modelle durchaus in der Lage sind, der strapazierten Hafenregion der südkubanischen Stadt durch ein ökologisches Konzept neue, überzeugende Nutzungen zu geben. Jurymitglied Roberto Segre meint denn auch, «viele junge Architekten fühlen sich von dem historischen Erbe befreit und verfolgen ein architektonisches und urbanistisches Konzept, das dem Lateinamerika des 21. Jahrhunderts entspricht». Iván de la Nuez spricht sogar von einer «neuen kubanischen Architektur». Allerdings fügt er hinzu, dass den Erben eines Ricardo Porro, Mario Romañach, Max Borges Recio und Nicolás Quintana nichts anderes übrig bleibt, als den Traum eines fiktiven Havanna im Exil fortzuspinnen.
[ Architekturbiennale in Havanna
zz. Vor einem Jahr wurde in Havanna die Initiative zur Durchführung einer Architekturbiennale ergriffen, die dank der Einwilligung des Kulturministeriums im März zur ersten Veranstaltung dieser Art auf Kuba führte. Zu sehen waren neben der Präsentation von Architekturfilmen und Architekturbüchern auch Ausstellungen zum Urbanismus im historischen Havanna sowie zur kubanischen Baukunst im 20. Jahrhundert. Die nächste Architekturbiennale soll im Jahr 2004 stattfinden. ]
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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