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Alles unter einem Dach
ORF.at
18. Oktober 2002 - Bettina Schlorhaufer
Tankstellen sind selten gestellte Bauaufgaben, was insofern erstaunt, weil das Kultobjekt Auto - metaphorisch betrachtet - geradezu nach einem Kultbau verlangt. Auch die dazu notwendigen Investitionen dürften kein Hindernis darstellen, sind doch gerade in Österreich mit seinen restriktiven Ladenöffnungszeiten Tankstellen wahre Goldgruben. Ihre Hauptumsätze machen sie mit Gemischtwaren, die der moderne Konsument ausgerechnet in der Nacht oder am Wochenende dringend braucht. Tankstellen erfüllen heute unter anderem den wichtigen Zweck, jede Party zustande zu bringen oder sie bis zum letzten Moment aufrechtzuerhalten. Und so wundert es auch nicht, dass ihr meistverkauftes Produkt jenes klebrig-rote Getränk ist, das - wie viele Nachtschwärmer hoffen - „Flügel verleiht“.

Ende der Hausabfüllung

Die Trendwende des Autos vom „Herrensportgerät“ zum Gebrauchsgegenstand setzte um 1920 ein. In diese Zeit fällt auch die Entstehung der Bauaufgabe Tankstelle, denn sie löste den Vertrieb von Blechkanistern ab, mit denen man den Wagen zu Hause füllte. Nur Wohlhabende besaßen private Zapfsäulen.

Die ersten Tankstellen bestanden meist aus Backsteinhäuschen, ähnlich einem Pförtnerhaus, und einer übermannshohen Zapfanlage, die manuell zu bedienen war. Der Treibstoff wurde händisch in hoch liegende Zwischentanks gepumpt und von dort in die Autos umgefüllt. Die freie Überdachung, die heutige Tankstellen prägt, fehlte in dieser Zeit noch ganz. Denn der Kunde von damals hatte in der Regel noch einen Chauffeur, der durchaus in den Regen geschickt wurde, wenn bei Schlechtwetter ein Tanken oder Prüfen des Reifendrucks notwendig war.

Neue Markterfordernisse

Der Tankstellenbau änderte sich um 1930 in der Ära, in der das Auto Massenprodukt wurde. Interessanterweise zeigt die Entwicklung der Bauaufgabe auf, dass das frei schwebende Dach ausdrücklich schon in dieser Zeit als Werbeagent diente und nicht erst in der Nachkriegs-Konsumkultur. Denn wer wollte nicht vor Wettereinflüssen geschützt sein Auto betanken? Also lockte man die Menschen zu den schönen Tankstellen mit den großen Dächern. Die Idee dazu kam aus Amerika.

Unvergesslich sind die Beispiele in der Architekturgeschichte mit ihrer Stromlinienästhetik oder ihren ungewöhnlichen Dachkonstruktionen, wie z. B. die Tankstelle mit der „ovalen Zunge“ von Arne Jacobsen im dänischen Skovshoved Havn. 1939, drei Jahre nach ihrer Errichtung fotografierte er sie nächtens mit seinem indirekt über die Decke beleuchteten, blitzblank polierten BMW-Cabriolet, um alle Aspekte vollendeter Modernität auf einem Bild anzuführen.2

Die Eliminierung der Architektur

Die aggressiven Strategien der Treibstoffkonzerne, mit denen um jeden Tropfen verkauften Benzins gekämpft wird, haben dazu geführt, dass Tankstellen heute mit ihrer Werbung gleichgesetzt werden können - auch, weil industriell gefertigte Dachkonstruktionen mittlerweile nach keiner „Architektur“ mehr verlangen. Das Konzept „Tankstelle“ ist nur noch der Wirtschaftlichkeit untergeordnet: Von der Zapfsäule bis zur Attika des Daches rufen sich die Ölkonzerne dem Kunden aufdringlich in Erinnerung, von der Farbkomposition ganz zu schweigen.

Bedauerlicherweise gibt es nur sehr wenige investitionsbereite Treibstoffhändler, die den Konzernen visuell Besseres entgegensetzen. Unter anderem hat ein solcher Ästhet in Tirol erkannt, dass selbst im urigsten Hinterland kein Widerspruch zwischen Architektur und Umsatz auszumachen ist. Nach einer Tankstelle in Hall in Tirol errichtete Albert Gutmann nun eine zweite in Prutz. Sein kongenialer Partner ist seit Jahren Architekt Martin Kinzner.

Historische Transitroute

Das kleine Prutz liegt in der Nähe von Landeck an der römischen Via Claudia Augusta, die von Meran über den Reschenpass nach Augsburg verlief, als der Brennerübergang noch nicht in Mode war. Ihre heutige Bekanntheit erlangte die Region über den Wintersport, z.B. in den Gletscherschigebieten im Kaunertal. Die Verkehrsfrequenz ist nach wie vor sehr hoch, daher wurde die Tankstelle gerade hier platziert.

In der Talsohle um Prutz werden noch traditionelle Methoden der landwirtschaftlichen Bearbeitung gepflegt und man versteht Kinzners Anspruch auf Umweltverträglichkeit auf Anhieb: Seine Architektur wirkt leicht und ist dem Verlauf der Straße in Nord-Südrichtung angepasst, damit sie keine Talsperre bildet. Alle Serviceeinheiten wurden an der von der Straße abgewandten Seite in „Häuschen“ verteilt. Das entzerrt das Volumen der Baumasse, da Teile von ihm quasi unsichtbar sind.

Die Tankstelle besteht im Wesentlichen aus einer mehr als 1.000 m² großen Dachfläche in den Maßen 17 x 78 m, die leicht geneigt (1,7%) ist. Auf der Basis dieses geometrischen Kunstgriffs wirken die Ausmaße des Baus von Süden aus optisch verkürzt. Auch ist das Dach an dieser Seite wie eine den darunter liegenden Pavillon schützende Schürze heruntergezogen. Bei jedem Regenguss wird das am Dach gesammelte Wasser über ausgeklügelt konstruierte Kastenrinnen hierher abgeführt, um an dieser Fassade fünf Wasserfälle zu bilden.

Interpretation eines klassischen Themas

Das Niveau der Betankungsfläche liegt 5 cm tiefer als der Boden. In der nach allen Seiten offenen Struktur wird so deutlich, wo innen und außen ist. Über ihr ruht in einer Höhe von 6 bis 7 m und auf 16 Verbundstützen gelagert, das große Dach. Es besteht aus einer Spannbetondecke mit Zuggliedern in beiden Richtungen, wodurch seine geringe Stärke von nur 26,5 cm zustande kommt. Wie ein schwebender „Himmel“ überspannt es auch den Pavillon, der Kasse, Laden und Restaurant enthält. Am Pavillon wiederholt sich die Grundidee des Daches. Er besteht nur aus Stützen, Decke und vorgehängter Glasfassade. Sein nach innen abgetreppter Plafond schafft die Illusion, er sei ebenfalls offen. Vor allem in Hinsicht auf eine Anpassung der Anlage an ihre Umgebung im Winter dominiert die Farbe Weiß.

Das Beleuchtungskonzept der Tankstelle lieferte das Lichtlabor Bartenbach. Über den Zapfsäulen und am Dach des Pavillons sind Strahler angebracht, deren Licht von Spiegeln an der Decke bzw. an der Innenseite der Dachschürze reflektiert wird. Die blendfreie Ausleuchtung des Areals, unterstützt durch die feine, wie eine zarte Lisene verlaufende, rote Linie einer Leuchtstoffröhre sorgt für die Präsenz des Ortes bei Nacht.

Keine Angst

Ohne die sonst am Land übliche Schwellenangst wird die neue Architektur akzeptiert. Es sind vor allem Einheimische, die kommen, um ihr liebstes Stück zu betreuen, und sie verbringen sogar einen wesentlichen Teil ihrer Freizeit damit. So bleibt nur noch in Erinnerung zu rufen, dass es sich bei der Tankstelle Prutz um eine Fortführung des klassischen Modells mit auskragendem Dach und indirekter Beleuchtung der Betankungsfläche handelt: In der zeitgemäßen Interpretation der Bauaufgabe wurde nun gleich die ganze Tankstelle unter ein einziges Dach geschoben. Arne Jacobsen hätte seine Freude daran.

[ Den Originalbeitrag von Bettina Schlorhaufer finden Sie in architektur aktuell. ]

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