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Trümmermadonna
Auf dem Gelände der Kolumba-Kirche in Köln lagert eine 2000-jährige Baugeschichte. In den 1970er-Jahren wurden die Schichten frei gelegt. Sie zeugen vom Wechsel von Bauen, Erweitern und Abbrechen. Nie aber waren die Eingriffe so einschneidend wie im II. Weltkrieg.
Zu Tage gefördert wurden die Schichten 1974–76 durch die von Sven Seiler geleitete Ausgrabung. Sie bezeugen erste Siedlungsspuren aus dem Jungneolithikum (4300–3500 v. Chr.) . Die mehr oder weniger kontinuierliche 2000-jährige Bautätigkeit gliedert sich in die römische Phase der Insula (Wohnblock) innerhalb des durch die ehemalige Bursgasse, Minoriten-, Kolumba- und Brückenstrasse gebildeten Rechtecks – Reste von Fussbodenheizungen, Wasserbassins und Wandputz legen Zeugnis über ein Wohnviertel vornehmer Römer ab – und in die christliche Periode des Sakralraums. Die frühesten römischen Funde stammen aus der 1. Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. Es handelt sich um Gruben, denen Lehm entnommen wurde. Die zweite Siedlungsphase entstand um 50 n. Chr., als Köln zur «Colonia» erhoben wurde . In der mittleren Kaiserzeit (2. / 3. Jh.) wurden Fussbodenheizungen (Hypokausta) , Ende 3. / Anfang 4. Jahrhundert Färberbecken in die Häuser eingebaut . Trotz der Frankeneinfälle wurde in spätrömischer Zeit (2. Hälfte 4. / 1. Hälfte 5. Jh.) weitergebaut.
Zum Dreh- und Angelpunkt der späteren Bebauung wurde ein römisches Haus, das im 7. / 8. Jahrhundert mit einer Apsis versehen wurde: der erste christliche Kultbau . Im 8. oder 9. Jahrhundert errichtete man neben dem umgebauten Haus eine einschiffige Kirche mit eingezogener Ostapsis, die für die folgenden Kirchen richtungsweisend war . Diese Saalkirche wurde im 11. Jahrhundert durch eine dreischiffige Anlage ersetzt . Die beiden Seitenschiffe endeten in rechteckig ummantelten Konchen (halbrunde Nischen). Die Apsis des Langhauses ragte über diese hinaus. Man erweiterte diese Kirche durch eine Verlängerung der Seitenschiffe, die nun ebenfalls mit aussen sichtbaren Apsiden abschlossen . In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts erhielt das Mittelschiff eine neue, längere Apsis . Damit hatte die querschifflose Kirche einen Staffelchor. Erst in dieser Bauphase scheint im Westen vor dem Mittelschiff eine Vorhalle errichtet worden zu sein.
Der folgende Neubau aus dem 12. / 13. Jahrhundert wurde als vierschiffige Anlage errich-tet – wobei das vierte südliche Seitenschiff wegen des Verlaufs der Brückenstrasse um zwei Joche kürzer war und nach Westen hin schmaler wurde. Die Vorhalle im Westen wurde durch einen ca. 25 m hohen Westturm ersetzt.
Der spätgotische Neubau datiert ins 16. Jahrhundert und war eine fünfschiffige Kirche mit hallenartigen Seitenschiffen. Im Osten der Seitenschiffe schlossen sich zwei Räume an, die durch je einen zentralen Pfeiler in vier Joche gegliedert waren. Diese beiden Räume wirkten wie ein Querhaus. Prägnant in Erscheinung trat die an das Seitenschiff angebaute, von Bürgermeister Godert von Wasservass gestiftete Georgskapelle (Taufkapelle). Wie beim Vorgängerbau führte die Grundstücksgrenze an der Brückenstrasse zu einem eigenwilligen Grundriss des südlichen Seitenschiffes. Das äussere Seitenschiff wurde nach Westen hin schmaler, sodass unregelmässige Grundrisse entstanden.
Im Barock wurden der Haupt- und zwei Nebenaltäre eingebaut sowie die Hauptapsis erneuert. Nach den Zerstörungen des II. Weltkriegs baute Gottfried Böhm die Kapelle «Madonna in den Trümmern» (1950) und die Sakramentskapelle (1956).
Verehrung
Die Bombardements im II. Weltkrieg hatten Köln zu 90 Prozent zerstört und die Altstadt in ein Trümmerfeld verwandelt. Auch von der Kirche St. Kolumba standen nur noch Teile des Skeletts: Nord- und Südmauer, ein Turmstumpf und die Statue der stehenden Madonna mit Kind, die sich nahezu unversehrt aus Schutt und Asche erhob. Oberpfarrer Joseph Geller erkannte in ihr die Kraft des Gedenkens und verhinderte ihren Abtransport, damit «der mystische Gehalt dieses Geschehens (nicht) seines Inhalts beraubt würde».
Es herrschte Einmütigkeit, die Kirche nicht in rekonstruierender Weise wiederaufzubauen: «St. Kolumba besteht nur noch aus Mauerresten. Hier ist nur ein völliger Neubau unter Verwendung dieser Reste möglich», schrieb Dombaumeister Willy Weyres. Und Geller seinerseits war der Moderne verpflichtet, hatte er doch 1909 Peter Behrens mit dem Bau des Gesellenhauses in Neuss beauftragt. Er versuchte erst Rudolf Schwarz (1897–1961), dann Dominikus Böhm (1880–1955) zu gewinnen. Letzterer übergab die Sache seinem Sohn Gottfried. Noch nach der Grundsteinlegung am 8. Dezember 1949 modifizierte Böhm sein Projekt und gestaltete den kreisförmigen Chorabschluss in ein achtseitiges verglastes Polygon um – Ludwig Gies schuf dafür 1954 die farbigen Engelfenster. Man hat darin das Weiterwirken des Glashauses gesehen, das Bruno Taut für die Werkbundausstellung 1914 in Köln errichtete. Statt wie vorgesehen mit einem Faltdach, wurde das Oktogon mit einem Pyramidendach gedeckt. Trümmermaterial wurde gleichsam als Spolien intergriert. Böhms mystisch-dunkler Sakramentsraum, der sich nördlich an die Kapelle anschliesst, entstand 1956. Zu dessen Ausstattung entwarf Böhm einen Altar und vier raumhohe Kerzenbäume aus weiss-grau geädertem Marmor. Die Ostwand der Sakramentskapelle gestaltete der Gies-Schüler Rudolf Peer (geb. 1932) mit einem in die Basalt-Wand eingemeisselten Kreuzweg. Die seelsorgerische Betreuung der Kapelle obliegt den Franziskaner-
minoriten, deren Kloster 1956 in unmittelbarer Nachbarschaft errichtet worden war, nun aber dem Museum weichen musste. Die Mönche wurden an die Tunisstrasse umgesiedelt.
Motiv oder Cliché?
Retro reicht von der Implementierung ganzer Stadtgestalten bis zur (meist nur äusserlich) lupenreinen «Kopie» eines Gebäudes, von der typologischen Anleihe bis zur Adaption einzelner Elemente, von der plumpen Applikation bis zur Rehabilitation des Ornaments, von der erklärten Hommage an einen Architekten bis zur versteckten Analogie. Die Art der Annäherung entscheidet, ob ein Bauwerk das «Vor-Bild» als Motiv würdigt oder nur als Cliché.
Es gibt das Röhrenverstärker- ebenso wie das Käfer-Beetle-Prinzip (siehe Editorial und Bilder 1, 2): Typologische Anleihen, Hommagen und Transpositionen tendieren zu Ersterem. Sie entwickeln einen schon einmal gedachten Baugedanken inhaltlich weiter und machen den Ursprung in der formalen und / oder konstruktiven Umsetzung kenntlich. Stilzitate neigen zu Letzterem. Sie scheren sich kaum um die ursprüngliche Bedeutung, sondern inszenieren den dekorativen Effekt. Im besten Fall sind sie immerhin ironisch gebrochen.
Epochal und repräsentativ
Das «steinerne Berlin» hat keinen geringeren Ehrgeiz, als durch die Reproduktion seiner Architektur die Attribute einer ganzen Epoche neu zu implementieren, die lebendige Stadt des 19. Jahrhunderts wiederherzustellen. Doch so einfach ist das nicht. Angelus Eisinger konstatiert, da werde Stadtgestalt mit Stadtwirklichkeit verwechselt: «Die durchmischte Stadt des Flaneurs, die dieser nostalgisch-kultivierten Stadtvorstellung Pate gestanden hat, ereignet sich in diesen Räumen nicht.»[1]
Absichten und Ziel müssen ja nicht immer derart hehr und hochgesteckt sein. Gerade bei Prestigebauten spielte bei Fürsten früher und spielt bei Bürgermeistern heute das kindliche Verlangen mit, das haben zu wollen, was der andere hat. So hat man sich im süddeutschen Sigmaringen die Rathauserweiterung von Rafael Moneo, die dieser im spanischen Murcia 1999 errichtete, zum Vorbild für die eigene Erweiterung genommen (Architektengruppe Überlingen, Marion Roland-König). Fast rührt es einen an. Die Grösse stimmt nicht, Proportionen und Material auch nicht, das Verhältnis Öffnung zu Wand, mit dem Moneo ein raffiniertes Spiel trieb, wirkt hier dann doch etwas plump. Da der Meister nicht fürchten muss, dass hier sein geistiges Eigentum geraubt worden sei, sieht man in einem solchen Fall über die Parallelitäten hinweg und belässt es bei einem Achselzucken. (Bilder 3, 4)
Selbstreferenziell
Denn das ist ja das Heikle an der Sache: Wer zu unverfroren nachmacht, gilt als Dieb des geistigen Eigentums. Am einfachsten ist es daher, die eigenen Entwürfe zu recyclen. Das erspart die Probleme mit dem Urheberschutz, birgt aber die Gefahr, den Spott der Kritiker auf sich zu ziehen. So meinte Jörg Hentzschel in der «Süddeutschen Zeitung» einmal über Frank Gehry, er sei wie der Mann, der immer denselben Witz erzählt, nur weil sich die Leute beim ersten Mal geschüttelt hätten. Und doch zitiert Gehry nicht einmal nur sich selber: Oder sind seine Prager «Ginger und Fred» (1994–1996) etwa nicht eine – wenn auch nur floskelhafte – Replik auf Scharouns Stuttgarter «Romeo und Julia» (1954–1959)?
Eher ungeschoren kommt davon, wer sich unrealisierte Projekte oder Skizzen vornimmt – wenn auch, wie im Fall von Theo Hotz’ Projekt von 2005 für den 90 Meter hohen Turm beim Tramdepot am Escher-Wyss-Platz in Zürich (siehe TEC21, Nr. 13, 2006, S. 26) das Mies’sche Vorbild – der Entwurf für ein Hochhaus aus Glas von 1992 – stark im kollektiven Architekturgedächtnis verankert ist. Das gilt ebenso für Zaha Hadids 2005 präsentierten «Zhivopisnaya Tower» am Ufer der Moskwa, einen mehrflügeligen, mit Aluminiumbändern durchwirkten Turm, der «verdächtig» an Mies van der Rohes «Entwurf für das Hochhaus an der Friedrichsstrasse» von 1921 erinnert (Bilder 5, 6).
Verborgen
Reizvoller sind diejenigen Referenzen, deren «Vorbilder» in den verschütteten Gegenden des Architekturgedächtnisses schlummern: Herzog & de Meurons Bibliothek in Cottbus (1998–2004) ist oft in Beziehung gesetzt worden zum «Castel del Monte», das Friedrich II. Mitte des 13. Jahrhunderts in Apulien errichtete (1240–1250). Das macht Sinn für einen Hort des Wissens, war doch der Hohenstaufer-Kaiser einer der gebildetsten Herrscher jener Zeit. Doch die Basler Architekten haben sich immer auf die Grundrissform der Amöbe berufen, und hier wird man bei Wallace K. Harrison und seiner «Hall of Science» fündig, die er 1964 anlässlich der Weltausstellung in New York baute. Nicht nur hat sie einen Grundriss, den man mit der Form einer Amöbe assoziieren könnte. Auch Harrison verlieh dem Bau eine sakrale Wirkung. Er griff auf das Motiv bunter Kirchenglasfenster zurück, wie er sie in der First Presbyterian Church in Stamford 1958 eingesetzt hatte, und adaptierte sie: Die ondulierenden Aussenwände bestehen aus rechteckigen Kassetten, in die kobaltblaue Glasscherben eingesetzt sind. Harrisons Halle erscheint wie der archaische Ursprung der technologischen Fassung von Herzog & de Meuron – mit kryptischen Schriftzeichen bedrucktes Glas – in Cottbus. (Bilder 7, 8)
Typologisch
Die unverdächtigsten Anleihen sind die typologischen. Ein Gebäude nach oben hin abzutreppen, um jedem Stockwerk eine besonnte Terrasse zur Verfügung zu stellen, ist ein solches Motiv. Wie beim Arag-Verwaltungsgebäude von Paul Schneider-Eisleben in Düsseldorf von 1966 wird beim 2005 fertig gestellten Bürogebäude «Dockland» in Hamburg von Bothe Richter Teherani jedes Stockwerk mit Terrasse versehen, und diese werden untereinander über eine Treppe verbunden.
In Hamburg sind die Terrassen und das Dach sogar öffentlich zugänglich, und die Architekten haben es mit einem Kunstgriff verstanden, die Lage am Wasser so zu nutzen, dass genauso viel Raum wie in einem Quader zur Verfügung steht: Geformt wie ein Trapez wird vorne einfach angehängt, was hinten durch die Terrassierung verloren gegangen ist (Bilder 11, 12).
Respektvoll
Ähnlichkeiten müssen aber nicht unbedingt als Raub gelten. Sie können sogar beides sein: Kampfansage und Ehrfurchtsbekundung in einem. Zu ihnen gehörte die Tessiner Tendenza mit einem ihrer unlängst verstorbenen Protagonisten, Livio Vacchini, der 1997 mit der Mehrzweckhalle in Losone – in der Tradition von Schinkel und Mies van der Rohe – den griechischen Tempel neu interpretierte (siehe Seite 20).
Kürzlich gelegt wurde der Grundstein für die Elbphilharmonie in Hamburg (Herzog & de Meuron). Nicht nur der Name, auch die geschwungene Dachform verweist auf die Philharmonie von Scharoun in Berlin, und mit der Beschreibung der Fassade als «schillerndem Glaskörper» werden Scharouns Ideen einer kristallenen Architektur der 1920er-Jahre ebenfalls gewürdigt. Scharoun hat mit der Philharmonie eine Form des Konzerthauses erfunden, die noch so oft kopiert werden kann und trotzdem unvergleichlich bleibt. Und auch wenn Herzog & de Meuron auf sie anspielen, so wird die Philharmonie in Hamburg immer etwas anderes als die in Berlin sein, wird sie sich doch hier am Wasser auf dem Kaispeicher von Werner Kallmorgen (1966) erheben und ausserdem Hotel, Restaurants und Wohnungen aufnehmen (Bilder 9, 10). (Dass der Speicher nebenbei zur Prothese gemacht wird, ist eine andere Geschichte.)
Missverstanden
Unter dem Eindruck einer am Vorbild der europäischen Stadt des 19. Jahrhunderts orientierten Planung der letzten drei Dekaden gerieten die Alternativen zum standardisierten Wohnen in monofunktionalistischen Siedlungen der 1960er-Jahre in Vergessenheit. Die Collage von Wilfried Dechau aus den späten 1970er-Jahren – wieder aufgegriffen von Xavier Gonzales (Bild 13) – überlagert den Wunsch der Menschen nach Individualität à la Gartenhäuschen, mit der Architektur des Mietwohnungsbaus. Weniger radikal, nur mit der gleichen Technik der Collage, stellt sich der Wohnungsbau «Silodam» im Amsterdamer Hafen von MVRDV dar – wenn auch hier die Individualität nur noch aus einem bestehenden Angebot gewählt werden kann (Bild 14). Ähnlich ist es mit dem hochgradig ästhetisierten Konzept des auf der Möbelmesse in Köln vorgestellten «Ideal House» von Zaha Hadid. Raum und Möbel werden zu einem Kontinuum von höhlenartigen Konfigurationen komponiert. Es mag auf dem gleichen Misstrauen gegenüber funktionalistischen Standardformen gründen, die Friedrich Kiesler zu seinem «Endless House» führten. Dessen Innenräumen ähnelt Hadids Entwurf auffällig. Kiesler konnte sein Projekt nie verwirklichen, es war aber als Gegenteil einer Lösung gedacht, das dem Benutzer die Auseinandersetzung mit sich selbst abnimmt. Zaha Hadid hingegen liefert die vollendet inszenierte Lösung (Bilder 15, 16).
Auch in der Architektur stellt sich die Frage: Hat der Röhrenverstärker oder der New Beetle Pate gestanden? Orientiert sich der retrospektive Bau am Topos bzw. am Motiv des «Vor-Bilds» und verleiht ihm eine neue Bedeutungsebene, oder reduziert die Retro-Variante es auf die Phrase bzw. das Cliché?
Kaskade und Sporn
Sandra Giraudi und Felix Wettstein haben mit einem Einfamilienhaus in Viganello, oberhalb von Lugano, am Hang des Monte Bré, dem einen offen, dem andern versteckt die Reverenz erwiesen: Hans Scharoun und Vittoriano Viganò.
Die «casa Vergani» gibt sich von der steilen, schmalen Stichstrasse her wie eine hoch aufragende Burg, weil man sie hier zunächst nur aus der Froschperspektive in Augenschein nehmen kann. Eine markante Strebemauer, ein Sporn, weist wie ein Wehrturm talseits (Bilder 4, 5).
Der Sporn ist der Anker des kaskadenartig über den Hang abfallenden Baus oder der Dreh- und Angelpunkt des sich über fünf Geschosse (!) in die Höhe schraubenden Hauses. Es ist diese Dichotomie, in der das Haus balanciert…
Obwohl das Haus aus dem Hang wächst (Bild 2), fügt sich die «casa Vergani» nicht in die Landschaft. Sie nimmt vielmehr einen spannungsvollen Dialog mit ihr auf, der sich aus verschiedenen Beziehungen zum Terrain entwickelt: Die Höhe des Baus leitet sich aus der steilen Topografie und den Bedingungen des Baureglements ab, das die Architekten in ebenso kreativer wie origineller Weise interpretierten. Da sich das Haus in Bauzone 2 befindet, sind eigentlich nur zwei Geschosse und eine Attika erlaubt – es sei denn, man arbeitet mit Rücksprüngen. Dann ist es möglich, 8 m hoch zu bauen, einen Rücksprung von 12 m zu konzipieren und darauf erneut ein 8 m hohes Bauvolumen zu setzen. Giraudi & Wettstein brauchten das Reglement noch nicht einmal auszureizen: Sie brachten zwei Geschosse unterirdisch unter. Blieben also noch die zwei erlaubten und die Attika, wobei das oberste und das Attikageschoss tatsächlich zurückspringen.
Der Grundriss eines gleichseitigen Dreiecks entspringt der Form der Parzelle, die er exakt nachzeichnet, die Ausrichtung des Baus aus den landschaftlichen und kontextuellen Gegebenheiten: dem auf dem Nachbargrundstück auf der Nordseite entstehenden Bau, der den Grenzabstand arg strapaziert, dem romantischen Tobel auf der Südostseite, dem Ausblick auf die in der Ebene liegende Stadt Lugano gen Westen und den San Salvatore Richtung
Süden.
Dramatisierung der Landschaft
Giraudi & Wettstein haben damit einen der beiden Schwerpunkte umgesetzt, welche die Bauherren – ein Bankier und eine Kunsthistorikerin mit ihren beiden schulpflichtigen Kindern – setzten: Sie wollten ein Haus ohne Garten, eine Stadtvilla. Und sie wünschten sich, dass die Architekten eine Dramatisierung der Landschaft erzielen würden, die das Haus auszeichnet, das sie in Portese besitzen: Vittoriano Viganòs (1919–1998) «casa scala» (Bilder 14–16, 18, 20), die dieser 1956 hoch über dem Gardasee für den Künstler und damaligen Direktor der Zeitschrift «Architecture d’Aujourd’hui», André Bloc, errichtete. Den Ausdruck der Stadtvilla generieren die Architekten mit dem erwähnten ebenso eleganten wie trutzigen Sporn. Aber auch die Eingangssituation, die eher dem Zugang zu einem Stollen gleicht (auch eine adäquate Reaktion auf die Topografie) als einer einladenden, sich öffnenden Geste eines Landhauses, entspricht der Vorgabe; ebenso der Grünraum, der das Haus touchiert, sich aber nicht in den Innenraum ergiesst, sondern nur zum Tal hin ein kleines Plateau bildet und zum südostlich angrenzenden Tobel steil abfällt.
Um die Landschaft ähnlich spektakulär in Szene zu setzen wie in Vittoriano Viganòs «casa scala», wenn diese nicht als Garten gestaltet werden soll, haben sich die Architekten das Thema der Terrasse vorgenommen, das auch in Portese eine tragende Rolle spielt. Die markante Schichtung des Baukörpers – Boden-, Deckenplatte und Geländer– bei Vittoriano Viganò (Bilder 15, 18) findet seine Analogie in der Übereinanderlagerung der Terrassen bei Giraudi & Wettstein (Bilder 1, 19).
«Rotierende» Terrassen, verankernder SPORN
Allerdings brechen Giraudi & Wettstein sowohl mit deren Linearität als auch mit deren eher statischer Ausformulierung. Sie haben sie dem Bau nicht einfach vorgelagert, sondern den ganzen Baukörper aus der Idee der Terrassierung entwickelt (nicht zu verwechseln mit der an Hanglagen beliebten, oft stereotypen Abtreppung).
Man könnte in dieser ausgeprägten Terrassierung sogar eine Reverenz an die landwirtschaftliche Nutzbarmachung des Bodens früherer Generationen erkennen. Und obwohl sie nicht den Höhenkurven folgt, gewinnt man diesen Eindruck ihrer je nach Niveau unterschiedlich konzipierten Ausgestaltung wegen (Bilder 8–13). Vor allem aber offenbart sich hier die zweite Inspirationsquelle: Hans Scharouns (1893–1972) 1930–1933 errichtetes «Haus Schminke» in Löbau (Bilder 6, 7).
In der Art, wie die Terrassen der drei oberen Stockwerke, die auf dem «Sockel» der beiden unteren Geschosse lagern, gegeneinander verschwenkt sind und um den Sporn zu rotieren scheinen, der optisch als Gelenk wirkt, verweisen sie auf das Löbauer Vorbild. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass die geschlossenen Volumen der drei Geschosse unterschiedlich ausgebildet sind, die Aussenfläche also von Stockwerk zu Stockwerk variiert.
Gegenüber Viganò haben Giraudi & Wettstein noch mit einer anderen Analogie reagiert. Die 30 m lange Treppe, die bei Viganòs «casa scala» nicht nur Erschliessung vom See her und Promenade architecturale ist, sondern auch als Anker figuriert, findet sein Pendant in dem Sporn, der die «casa Vergani» fixiert (Bilder 14, 16). Doch der Sporn birgt nicht die Erschliessung.
Promenade architecturale
Und es gibt auch keine externe Verbindung wie beim «Haus Schminke». Giraudi & Wettstein verlegen die Treppenanlage ins Innere, entwickeln sie aus dem Baukörper, tragen dem markanten Höhenunterschied Rechnung und kontrastieren die horizontale Lagerung der Terrassen. Die Promenade architecturale, die sowohl bei Viganò als auch bei Scharoun den Landschaftsraum durchmisst, entwickelt sich bei der «casa Vergani» aus der innenräumlichen Komposition, die den Aussenraum aus wechselnden Perspektiven in den Fokus nimmt, changierende Raumeindrücke generiert und einen zuweilen in fast labyrinthisches Wandeln versetzt. Das bewerkstelligen die Architekten nicht nur mit der wechselnden Orientierung der Terrassen, sondern auch mit der Lichtführung: Zu den vollflächigen Verglasungen der Terrassenseiten gesellen sich Oblichtbänder, welche die dunkleren Zonen des Hauses erhellen und ihnen Tiefe und Körperlichkeit verleihen, sowie Fenster, die unvermutete Ausblicke gewähren (Bild 11).
Passend zur Eingangssituation steigt man von der «Schleuse» der Garderobe den «Stollen» hinan, erreicht das 1. Geschoss, das Keller, Waschküche und – im Spickel des Sporns – Einlegerwohnung für das Au-pair-Mädchen aufnimmt. Hangseitig führt die Treppe nun auf das Niveau der Elternschlaf- und Kinderzimmer, die auf der Rückseite mit zwei Badezimmern alimentiert sind und in der Nordwestecke Raum für ein Spielzimmer lassen. Die Terrasse ist hier nur ein schmales Band. Die aussenräumliche Grosszügigkeit liegt auf den
Niveaus 4 und 5 (Wohn-und Essraum sowie Arbeitszimmer).
Während der Wohnraum sich auf die Terrasse ergiesst, zieht sich der Essbereich in die intime Nische des in den Hang dringenden Spickels auf der Rückseite zurück. Über dem Essbereich öffnet sich der Raum zu doppelter Höhe, sodass sich das Arbeitszimmer, das von hier aus über eine schmale Treppe erklommen werden kann, wie ein Hochstand ausnimmt – ein wahres Refugium.
Obwohl die beiden unteren Geschosse als Sockel fungieren – mithin eine andere Qualität haben als die lichte Kaskade der Terrassen –, unterschieden Giraudi & Wettstein nicht in der Materialwahl. Eine Abkehr vom Beton, der das Fundament des Hauses bildet, schien ihnen wenig sinnvoll. (Obwohl man sich ja eine – als Kontrast zum «wehrhaften» Sporn – lichtere Konstruktion der Terrassen durchaus vorstellen könnte.) Ausserdem sollten sie etwas vom «Brutalismus» des Viganò-Hauses vermitteln. Im Innern dagegen gibt es einen Materialwechsel: Wohn- und Schlafräume sind mit geöltem Eichenparkett bedeckt, Erschliessung (ausser in den oberen beiden Geschossen), Sanitärzellen und Terrassen mit in zahlreichen Farben schillerndem Schiefer. Dass Treppen und Terrassen dieselbe Materialisierung aufweisen, verdeutlicht den architekturhistorischen Bezug (Scharoun und Viganò) zwischen diesen Elementen und verwischt die Grenzen zwischen innen und aussen.
Dichotomische Interpretation
Giraudi & Wettstein haben das «Haus Schminke» und die «casa scala» in einen dichotomischen Dialog eingesponnen, einen Wechselgesang komponiert: Die Horizontalität und Linearität Viganòs wird mit der vertikalen Entwicklung und der rotierenden Stapelung der Terrassen à la Schminke verknüpft. Die optische Leichtigkeit der Konstruktion des Schminke-Hauses wird mit dem Brutalismus Viganòs gekoppelt. Die strenge Geometrie Viganòs wird mit der verspielten Scharouns zur Expressivität des Dreiecks «verschmolzen». Die Promenade architecturale entfaltet sich aus der Synthese der komplexen räumlichen Komposition: der Beziehung zwischen innerer linearer Wegführung und äusserer bewegter Terrassierung. Und: Die «casa scala» wird zur «casa le terrazze».
Transplantierte Körperlichkeit
Die Architektur hat immer schon sprachliche und inhaltliche Anleihen bei der Medizin gemacht. Doch die «Verleiblichung der Architektur» ist auch eine Rückwirkung des medizinischen «Body-Engineering».[1]
Implantate, die keine Fremdkörper mehr sind, die keine Immunreaktionen auslösen und vom Organismus nicht mehr abgestossen werden, sind der Stolz der Mediziner. Bioaktive Implantate, die den Körper anregen, nachzuproduzieren, was bei einer Operation oder durch Verschleiss in Mitleidenschaft gezogen oder gar zerstört wurde, Gewebe zu regenerieren – etwa die Neubildung von Knochengewebe stimulieren, das bei der Entfernung eines Tumors angegriffen wurde – beflügeln ihren Ehrgeiz. So sehr, dass sie sprachliche Anleihe bei der Architektur nehmen: «Knochenaufbau und Weichgeweberegeneration, auch dies sind ‹architektonische Meisterstücke›, die, wie bei einem Bauwerk, der Funktionalität und Ästhetik dienen.» [2]
Tissue Engineering ist das Zauberwort. Es meint die Kombination von Hightechmaterialien mit Zellkulturen zur Züchtung von Gewebe, von der Zellentnahme am Patienten bis zur Kultivierung eines vollständigen Organs. Um Gewebe und Organe – Herzklappen oder Adern etwa – durch dreidimensionale Implantate zu ersetzen, wird eine extrazelluläre Matrix (EZM) erstellt, die die neu wachsenden Gewebezellen beherbergt. Trägermaterialien sollen bioverträglich, steril, je nach Anwendung langzeitstabil oder bioabbaubar und unterschiedlich flexibel sein. Als Ausgangsmaterial dienen Kunststoffe, anorganische Substrate und aus biologischem Material gewonnene Gerüstsubstrate, meistens Kollagen. Das Resultat sind schwammartige Schichten, wässrige und gummiartige Gele, zementharte Träger und flexible, faserhaltige Röhren.[3]
Gewachsenes Material
Die Behandlung von Hautverletzungen gilt als das bislang erfolgreichste Anwendungsgebiet für das Tissue Engineering. Das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung schätzt, dass in Europa rund 25 000 Menschen mit in vitro gezüchteten Haut-, Knorpel- und Knochenzellen leben. Zur Hautregeneration wird eine bioabbaubare poröse Matrix verwendet, in die Makrophagen, Fibroblasten, Lymphozyten und Gefässe eindringen können – Komponenten, die für die Wundheilung wichtig sind. Mit einer Schicht dieses Materials wird die Wunde bedeckt und mit einer Silikonfolie geschlossen. Nachdem sich die Gewebebasis regeneriert hat, entfernt man die Silikonschicht und transplantiert eine in vitro kultivierte Ersatzhaut. Paradebeispiel für die Wiederherstellung eines ganzen Körperteils durch Tissue Engineering ist das Ohr. Dabei wird eine wie ein Ohr geformte Matrix mit patienteneigenen Chondrozyten (Knorpelzellen) besiedelt. Freiburger Mediziner verpflanzten einem Patienten einen im Labor hergestellten Ohrknorpel. Zur Rekonstruktion seines verstümmelten Ohres waren ihm Knorpelzellen aus einer Rippe entnommen worden. Die Zellen wurden in Kultur vermehrt, zusammen mit Fibrin («Klebstoff» der plasmatischen Blutgerinnung) in Ohrform gegossen, transplantiert und mit einem Hautlappen überzogen.
Die Herzklappen-Prothese ist ein anderes Beispiel. Mit Unterstützung des Nationalen Forschungsprogramms «Implantate und Transplantate» ist es am Zürcher Universitätsspital gelungen, aus Stammzellen, die aus menschlichem Fruchtwasser gewonnen wurden, lebende Herzklappen zu züchten. Diese können nach der Implantation mit dem Körper mitwachsen (Bild 4).
Regenerativ, adaptiv, sensitiv
Das Pendant zu den regenerativen Materialien der Medizin sind im Bauwesen die adaptiven Werkstoffe. Adaptive Werkstoffsysteme – auch intelligente Werkstoffe, multifunktionale Werkstoffe, Adaptronics oder Smart Materials genannt – sind in der Lage, während des Einsatzes selbstständig auf Änderungen der Umgebungsbedingungen zu reagieren und ihre Eigenschaften anzupassen.[4] Multifunktionale Verbundwerkstoffe etwa werden entwickelt, die Schwingungen dämmen und den damit verbundenen Lärm reduzieren: Sensoren registrieren, wann das Material in Schwingung gerät. Das Sensorsignal wird von einem Regler verarbeitet, der die integrierten Aktuatoren so ansteuert, dass die Bewegung abgedämpft wird. Dabei werden mikrometerfeine
piezoelektrische Fasern aus Keramik genutzt, die mechanische oder thermische Spannungen in elektrische Signale umsetzen. Umgekehrt können sich die Fasern dehnen oder zusammenziehen, wenn eine elektrische Ladung angelegt wird (Bild 7). Im Ingenieurwesen ist das Implantat aber längst etabliert. Die Betonierung des Sockels des berühmten schiefen Turms von St. Moritz, die mittels Verputz kaschiert wird (Bild 9), ist ebenso als Implantat zu verstehen wie die nachträgliche Vorspannung von Brücken, wie sie etwa an der Sihlhochstrasse mittels Zugstangen bewerkstelligt wurde, oder wie nachträgliche Klebearmierungen, um Wände zu verstärken.
Pulsierende Stadt
Auch der Architektur selber rückt man längst schon mit Körper-Metaphern auf den Leib. In der Renaissance zwangen Proportionsstudien den menschlichen Körper ins architektonische Korsett. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird die Anleihe konkreter: Adolf Loos’ Michaeler Haus in Wien (1910), das «aufgrund seiner weissen, für die damalige Zeit ungewöhnlich ornamentlosen Fassade in den oberen Wohngeschossen, (…) in den Betrachtern Bilder von Kahlheit und Nacktheit (weckte); in der Presse war jedoch auch die Rede vom ‹nackten Oberbau›, einer ‹ungeschlachten drallen Dirne› oder dem ‹Haus ohne Unterleib›.»[5]
Damals war das Implantat die Tätowierung der Haut, heute ist es die mit dem Lotos-Effekt ausgerüstete Fassade oder gar die adaptive, mit einem Adern- oder Nervensystem ausgestattete Gebäudehülle des Projekts «Paul» von Werner Sobek und Markus Holzbach, die sich die Haut als ein sensitives Organ zum Vorbild genommen hat, die den Wärmehaushalt im Innern reguliert.[6]
Die Stadt wird zur pulsierenden Metropole, deren Gefässe aber auch schon verstopft sind. Le Corbusier schrieb von der «fruchtlosen Operation», in Paris «riesige Massen baufälliger Häuser» niederzureissen und «auf den so gewonnenen Terrains ‹Buildings›» zu errichten: «Man lässt es geschehen, man lässt über der alten Stadt, die das Leben mordete, eine neue Stadt aufrichten, die das Leben um so viel unfehlbarer morden wird, als sie wahre Knoten von Verstopfung bildet, ohne die Strasse irgend umzuwandeln.»[7] Heute wird die Verstopfung mit dem «Bypass» behoben. Jüngstes Projekt eines solchen Implantats ist der Bypass Thun Nord, der die Thuner Innenstadt vom Verkehr entlasten und gleichzeitig Entwicklungsgebiete erschliessen soll (siehe Seiten 8–9).
Die Stadt wird als Organismus begriffen, dessen schädliche Wucherungen mit dem Skalpell entfernt und durch Implantate ersetzt werden, die mit dem Stadtkörper amalgieren sollen, damit die Wundränder verheilen. Der Palast der Republik in Berlin war eine solche Geschwulst, die es auszumerzen galt und die nun mit dem Wiederaufbau des Schlosses geheilt werden soll. Gewaltsam eine Wunde geschlagen hat die Terrorattacke 2001 in New York. Sie klafft noch immer, weil das Implantat wohl zu sehr aufgeladen wurde – Arterien als Verkehrsverbindungen, Zellen für Büros, ein Stoffwechselorgan des sozialen Austauschs, Synapsen der Erinnerung.
Der Flon in Lausanne galt als fast abgestorbenes Organ, das der Wiederbelebung bedurfte. Der Fussgänger-Bypass – das «Interface-Flon» von Bernard Tschumi und Luca Merlini – ist schon gelegt (Bild 6). Und statt des einstigen Flusses durchzieht das Quartier bald die Arterie der Metro: eine Operation am offenen Herzen, denn noch klaffen riesige Baulücken, die nach und nach aufgefüllt werden. Manchmal jedoch reichen auch homöopathische Dosen, die Renovation eines Gebäudes und seine Um- oder Wiedernutzung, wie etwa beim Cabaret Voltaire in Zürich.
Genius loci – soziokulturelle Matrix
Architektonische Implantate können mit dem Stadtkörper verwachsen – etwa, wenn wie in Bilbao das umliegende Terrain einbezogen, die Ader des Flusses revitalisiert wird und Brücken wie Gefässe das neue Organ versorgen – oder auch nur, wenn körpereigene Zellen transplantiert werden –, die Treppe in der Erweiterung des Kunsthauses Aarau von Herzog & de Meuron als Referenz an die existierende Spindel, die Adaption der traditionellen Azulejos in OMAs Casa da Musica in Porto, die ansonsten auch mit einem Meteoriten verglichen wurde. Und als solcher kann der Fremdkörper natürlich auch einen Virus einschleppen. Aber anders als in der Medizin lassen sich eine Stadt und ihre Bewohner zuweilen gern von ihm infizieren, anstecken von dem Neuen, das zum Körpereigenen mutieren kann.
Doch die medizinischen Metaphern implizieren auch potenzielle soziale Abstossungsreaktionen des Stadtkörpers, des durch Menschen belebten Organismus, die den kulturellen Austausch ausmachen. Denn «dieselben» Makrophagen und Lymphozyten, welche die Wundheilung fördern, stellen auch die Immunabwehr: «Ob Gehrys Wunderbau der Stadt tatsächlich ein kulturelles Herz einpflanzen kann, obwohl die Büromenschen nach Dienstschluss auf dem schnellsten Weg zu den Parkplätzen hasten, die wenigen Take-away-Schnellrestaurants ihre Rollläden herunterlassen und der Distrikt sich nach Einbruch der Dunkelheit in ein zugiges, unwirtliches Revier verwandelt?», fragte sich Claus Spahn angesichts der von Frank O. Gehry in Los Angeles gebauten Walt Disney Concert Hall.[8]
Wenn der gesellschaftliche Kitt, die soziokulturelle Matrix versagt, fehlt der Nährboden. Das Implantat verkümmert und muss eines Tages amputiert werden...
Architektonische Dichtung
Der «Baldachin», mit dem der Neubau des Museums Rietberg in Zürich oberirdisch in Erscheinung tritt, reflektiert die bestehende Villa. Als Hommage an die einstigen Protagonisten des Hauses ist er auch in Architektur übersetzte Lyrik.
Von der Gablerstrasse durch eine hohe Mauer abgeschirmt, lassen sich die Villa , die Leonhard Zeugheer in den Jahren 1855–1857 für Otto und Mathilde Wesendonck im neoklassizistischen Stil erbaute, und der Park, den Theodor Froebel gestaltete, eigentlich erst in den Blick nehmen, wenn man bereits bei der Pergola angelangt ist. Diese fasst den Raum zwischen der Villa und dem ehemaligen Ökonomiegebäude, vermittelt zwischen den beiden Bauten, bindet sie aneinander und verleiht dem Raum dazwischen Intimität: Er ist nicht mehr Park und noch nicht Haus. Auf der Westseite der Villa, der bisherigen Eingangssituation, fehlte ein Gegenstück. Erst jetzt, da der schmale Glasbau, der sich über der unterirdischen Erweiterung erhebt, sie gleichsam wie eine Laterne bekrönt, zeigt sich, dass da bisher eine Leerstelle war. Der «Baldachine von Smaragd» – die schon im Wettbewerb verwendete Bezeichnung verweist auf eine Zeile aus dem von Wagner vertonten Gedicht «Im Treibhaus» Mathilde Wesendoncks (siehe «Wesendonck-Lieder») – bildet nun gleichermassen das Gegenstück zur Villa wie das Pendant zu deren vorgelagertem Baldachin. Er ist ein zweites Gesicht, ein Alter Ego.
Dreierbeziehung zu Dreigestirn
Auf diesen Ensemblecharakter berufen sich die Architekten auch: Die Zweierbeziehung von Villa und Ökonomiegebäude wurde zu einer Dreierbeziehung, die das Ensemble ausgewogener erscheinen lässt. Alfred Grazioli und Adolf Krischanitz verstehen das Glashaus aber auch als jene vierte Fassade der Villa, die durch den Wintergarten verdeckt wird und daher gleichsam «herausgezogen» werden musste. Die Dreierbeziehung mag als Analogie zum Dreigestirn Wagner, Nietzsche und Semper gelesen werden: Wagner gastierte in der Villa Wesendonck, Nietzsche war Bibliothekar Wagners und las in dessen Bibliothek die Bücher Sempers.
Nun ist denn auch der Raum vor der Villa definiert, sodass man vom pergolagesäumten «Vestibül» ins Atrium zwischen Villa und Neubau gelangt, der oberirdisch äusserst bescheiden in Erscheinung tritt – zumindest was die Baumasse betrifft. Optisch dagegen hat der schmale Glasbau – konstruktiv ein statisches Gebilde (siehe Kasten «Glasbau»), funktional ein Portikus, ästhetisch ein Baldachin – magnetische Ausstrahlung. Und er ist nicht nur der Antipode zur Villa, sondern auch Reflexion der Geschichte des Hauses.
Gehüllt in eine mit abstrahierten Smaragdkristallen in einem Emailverfahren tätowierte Draperie aus Glas, ist er kaum noch (Bau-)Körper, eher Tüll, Vorhang, Schleier. Das passt zur Konzeption des Platzes, der sich zwischen der Villa mit deren bestehendem und dem neuen Baldachin aufspannt: Mit seinem feingliedrigen Parkett aus Akazienholz suggeriert er einen Innenraum, ein «Wohnzimmer unter freiem Himmel», wie ihn die Architekten beschreiben.
Der Glasbau ist Hülle für das Foyer. Dieses wird von zwei sich kontrastierenden Materialien dominiert: dem brasilianischen Schiefer der Bodenplatten und dem durchscheinenden, hinterleuchteten Onyx der Decke. Der Schiefer verweist auf den steinernen Untergrund, in den der grösste Teil der neuen Ausstellungsflächen eingetieft ist. Der Onyx, als Vermittler zum Aussenraum, evoziert Bilder von Stellschirmen und Fensterfüllungen der traditionellen ostasiatischen Architektur. Die Schieferplatten sind von mit Vlies gedeckten Lüftungsrinnen durchzogen, deren Pendants an der Decke – Schlitze zwischen den Onyxplatten – die Luft absaugen. Die mit zweiflammigen Leuchten, rötlich und gelb, hinterleuchteten Onyxplatten unterspannen die Deckenfelder, die von den Unterzügen gebildet werden, welche die Decke des Erdgeschosses tragen und ein Lichtrasterfeld von 3.40 × 10.20 m – ein Verhältnis von 1 : 3 – bilden.
Die Eingangshalle beherbergt Kasse, Garderobe, Shop und Lift. Die Rückwand wird beherrscht von einem Relief des Künstlers Helmut Federle, das an jenes an der Schweizerischen Botschaft in Berlin erinnert. Der in roher Holzschalung geformte Beton wirkt aber archaischer als das Botschaftsrelief. Es kommt dem Charakter eines «Tors zur Unterwelt» (Architekten) näher – der Pavillon greift zwölf Meter tief in eine Endmoräne ein und unterhöhlt sie – und evoziert vor allem Bilder von asiatischen Grottentempeln.
Von der Eingangshalle führt der Weg über eine Treppe hinunter in die beiden je 1300 m² grossen Untergeschosse. Beide unterirdischen Räume sind über eine zweite Treppe mit der Villa Wesendonck verbunden. Die Architekten verstehen diese Erschliessungen als Möbelstücke. Ihrer aufwändigen Gestaltung und ihrer Dimensionierung wegen wirken sie aber schon eher wie mobile Kabäuschen. Es sind Architekturen für sich. Denn die Wände, ein Gitterwerk aus Eichenholz, die in die Treppen hineingestellt sind (tatsächlich sind sie aufgehängt), lassen, obwohl durchbrochen, keinen Zweifel an ihrer Stabilität.
Unterbaut
Die Decken der Untergeschosse werden, ebenso wie jene des Foyers, von Unterzügen getragen (Kassettendecke). Z-förmig gefaltete Polycarbonatplatten sind in die Felder (von 10.4 × 3.6 m) der Kassettendecke eingelegt. Ästhetisch verleiht die Z-Form ihnen einen papierenen Charakter, konstruktiv wirkt sie versteifend, was erlaubte, sie ohne Sprossen anzubringen. Der Boden in den Räumen ist analog zu dem auf dem Platz draussen in Eichenstirnholzverbund verlegt.
Nicht nur erschliessungstechnisch, sondern auch konstruktiv besteht eine Verbindung zwischen oberirdischen und unterirdischen Räumen, indem Decken und Wände einem geschossübergreifend wirksamen, komplementären Tragsystem «unterworfen» sind, das aus einer massiven Stahlbetonkonstruktion besteht. Im 1. UG ist ein zentraler Raum eingestellt, dessen Scheiben nicht nur das darüber liegende Geschoss, sondern auch die an ihnen aufgehängte Decke des 2. UG tragen. Dieses weist – komplementär zum 1. UG – zwei Raumgevierte aus tragenden Wänden auf, die gleichzeitig die Treppenhäuser bergen. Der zentrale Raum im 1. UG und die beiden Gevierte im 2. UG haben nur an vier Stellen gemeinsame Auflager. Die Komplementarität des Systems gewährleistet einerseits die Abtragung der Deckenlasten und gewährt andererseits grösstmögliche Freiheit in der Bespielung der grossen freien Flächen. Für deren Unterteilung haben die Architekten 40 cm starke und dennoch verstellbare Wände konzipiert.
Um nicht nur die Statik der Villa nicht zu «untergraben», sondern auch Schäden am Terrazzoboden des einstigen Wintergartens zu vermeiden, musste sie aufwändig abgefangen werden. Bei allem Respekt gegenüber dem Bestand – Villa und Ökonomiegebäude wurden renoviert – haben die Architekten in die Farbgebung eingegriffen und das Weiss der Wände, Fensterleibungen und Profile durch dunkle Töne ersetzt. Um ihnen etwas Körperhaftes zu verleihen, verwendeten sie lasierende Keimfarben, die in drei Schichten auf Weissputz aufgetragen werden, aber erst bei der letzten Schicht ihren definitiven Farbton erhalten. Das Licht wird nun nicht an der Oberfläche reflektiert, sondern dringt erst tief in die Schichten ein und wird erst auf der Grundierung bzw. auf dem Weissputz zurückgeworfen und «durchläuft» erneut drei Schichten, ehe es abstrahlt. Der Effekt ist frappierend. Die Wände gewinnen Plastizität, Körperhaftigkeit.
Architektonische Lyrik
Grazioli / Krischanitz haben einen Bau geschaffen, der den Bestand respektiert, ohne sich ihm anzubiedern. Sie nehmen Bezug ohne platte Reverenzen und Äusserlichkeiten. Sie würdigen die Architektur, ohne sie bloss zu zitieren, wenn sie etwa die Erschliessung als Übersetzung der räumlichen Enfilage der Villa interpretieren. Sie erweisen den kabinettartigen Räumen der Villa die Reverenz, wenn sie den Hallencharakter mit bordeaux, olivgrün, grau, aubergine und anthrazit bemalten Raumkompartimenten brechen. Und sie betreiben Archäologie, wenn sie den Textilkünstler Gilbert Bretterbauer im ehemaligen Wintergarten bewegliche Screens entwerfen lassen mit einer Bespannung, die Pflanzenmotive aufweist. Mit der Gestaltung des Glasbaus als smaragdenen Baldachin aber transponieren sie nicht nur die Geschichte des Hauses und ihrer Bewohner. Wenn Wagner Mathilde Wesendoncks Gedichte vertonte, so haben Grazioli / Krischanitz ihre Lyrik in Architektur verwandelt.
Feste Schale – flüchtiger Kern
Container – so innovativ ihre Erfindung war – wecken negative Assoziationen: Als «Container-Siedlungen» werden monoton gerasterte Wohnbauten bezeichnet, die mehr an gestapelte Kisten denn an «Behausungen» erinnern. Nun werden sie geadelt – als Museum, als Shop und Corporate Identity, als Eventbox.
Die Entwicklung des Containers kostete den US-Amerikaner Malcolm P. McLean zwanzig Jahre. Der LKW-Fahrer soll beim Beobachten des Treibens am Hafen Mitte der dreissiger Jahre des letzten Jahrhunderts auf die Idee verfallen sein, sowohl die Be- und Entladezeiten als auch die Hafenliegezeiten der Schiffe zu verkürzen und standardisierte, genormte Wechselaufbauten (12.20 m lang, 2.44 m breit und 2.59 m hoch = 40 3 8 3 8.6 Fuss) zu entwerfen. Den ersten Containertransport unternahm McLean mit dem Frachter «Ideal X», der am 26. April 1956 in Newark beladen wurde. Den Durchbruch schaffte er – nunmehr Transportunternehmer und Firmenpräsident von SeaLand – mit der Frachtversorgung des US-Militärs während des Vietnamkriegs.
Die starke Präsenz von Containerstapeln machte sich das niederländische Architekturbüro MVRDV 2002 zunutze, als es den Wohnbau am Amsterdamer Hafen «Silodam» errichtete, der mit Container-Ästhetik kokettiert.
Readymade
Container waren der Rohstoff für Shigeru Bans «Nomadic Museum» in New York, das zwischen März und Juni 2005 am Pier 54, Chelsea, in West Side Manhattan gastierte und auf 45000 Quadratfuss (über 4000 Quadratmeter) Arbeiten des Fotografen Gregory Colbert zeigte (siehe Titelbild). Shigeru Ban, der sich mit seinen temporären Strukturen aus Papier und Karton einen Namen gemacht hat, transformierte die Container gleichsam zu Readymades. Das «Nomadic Museum» war, verankert wie ein Containerschiff, die adäquate Antwort auf den Genius Loci. Die Freitags (Daniel und Markus) haben es ihm nachempfunden und ihren 27 Meter hohen Shop-Tower an der Geroldstrasse 17 in Zürich aus 17 20-Fuss-Cargo-Containern errichtet. Hier geht es weniger um das Readymade als um Corporate Identity.
Veredelt
«TheBigBox» von Pascal Berger und Marc Schmit verbindet den Charakter des Readymade mit den Qualitäten von Recycling, Transferierbarkeit – und Wandlungsfähigkeit. «TheBigBox», die gemietet werden kann, lässt sich von der Bar in einen Ticketschalter, vom Schnellimbiss in einen Ausstellungsraum, von der Lounge in einen Konzertsaal verwandeln. Berger und Schmit haben den Container an den Längsseiten aufgeschnitten und diese mit je zwei neuen Türflügeln versehen, befestigt an einem aufgedoppelten Stahlrahmen und gefüllt mit dem Wellblech der Originalverkleidung. Der Container-Look und die Gebrauchsspuren bleiben erhalten, indem nur eine transparente Rostschutzlackierung aufgebracht wird. Auch die Verschlüsse funktionieren wie bei den standardmässigen Türen an den Schmalseiten. Alle Türen können um 180° ausgeschwenkt oder aber bei 90° blockiert und mit einem wasserdichten Segel überspannt werden. Die nutzbare Fläche kann so von 13.4 auf 45 m² verdreifacht werden.
Im Innern (Bilder 1, 2, 5) ist der bestehende Holzboden mit einem MDF-Unterboden belegt, der mit einem weissen, in zwei Bahnen verlegten Vinyl bedeckt und vollflächig verleimt wird. Wände und Decke sind mit transluzenten, weissen Acrylglasplatten ausgekleidet, die der Beleuchtung, bestehend aus auf der Metallwand versetzt angeordneten, dimmbaren FL-Röhren, vorgehängt sind. Damit die Verkleidung demontierbar ist und die Leuchten farblich variiert werden können, sind die Acrylglasplatten auf einen Metallrahmen geklebt, der seinerseits auf einen weiteren Rahmen geschraubt wird, ehe das Ganze auf die Türen montiert wird. Die Schmalseiten sind ebenfalls mit Acrylglasplatten verkleidet, aber nicht hinterleuchtet. Die Schmalseite ohne Türe, d.h. die einzige fixe Wand, ist den Installationen vorbehalten. Sie ist mit Einbauten bestückt, die Spühlbecken und Kühlschrank aufnehmen, sowie mit einem Regal, das für Beamer oder Boxen vorgesehen ist.
Variabel
Der Clou des Konzepts ist die variable Inneneinrichtung, bestehend aus Einbauten aus Forex (PVC-Hartschaumstoffplatten). Dreh- und Angelpunkt dieser Variabilität ist eine Stahlsäule, die Träger der verklebten, verspachtelten und nachträglich weiss Hochglanz lackierten Forex-Elemente ist. Die Säule wird durch ein Loch in der Decke in den Container eingefahren, dann werden die Möbel daran aufgesteckt. Befestigt werden die Elemente mit einem speziell entwickelten Flansch mit Presslager. Um die Reibung zu minimieren, lagern Teflonscheiben zwischen den Flanschen. Die Säule wird mit Decke und Boden verschraubt und dient der statischen Stabilisierung. Schliesslich verfügt der Container über Elektroinstallationen (Strom-, Beamer- und Boxenanschluss) und Wasseranschluss.
Der variabel bespielbare Innenraum korrespondiert mit der Mobilität von «TheBigBox» und mit dem ursprünglichen Gebrauch des Containers als Vehikel unterschiedlichster Waren. Seine Veredelung aber – das Innere wirkt wie mit einem seidig flirrenden Stoff ausgeschlagen – kontrastiert zum herben, rohen Stahlkörper. Analog zur temporären Nutzung ist das irisierend leuchtende Innere von ätherischer Flüchtigkeit. Wirkt der geschlossene Container wie ein vergessener, rostender Klotz, entschwindet er, sobald man die Tore öffnet. Der Blick findet keinen Halt, der Raum scheint keine Begrenzungen zu haben. Die Beengtheit des Containers, seine klar definierten Konturen solcherart aufzulösen, macht ihn zu einem entmaterialisierten Objekt.
Karawanserei
Wegen einer Umfahrungsstrasse ins Abseits gedrängt, wurde das Shaxi-Tal weder vom Bauboom heimgesucht, noch drohte ihm „Disneylandisierung“. In Sideng, Zentrum des Tals und einst Karawanenstation, haben sich viele traditionelle Bauten erhalten: ein Bijou - seit die ETH das Juwel entdeckt hat erst recht.
Der Architekt und Raumplaner Jacques Feiner, der am ETH-Institut für Raum- und Landschaftsentwicklung (IRL) arbeitet, wurde 2000 von Jianchuan County eingeladen, die Entwicklungspotenziale des County einzuschätzen. Ergebnis dieser Visite war der „Assessment of development opportunities of Jianchuan County“-Report. Darin attestierte Feiner dem Shaxi-Tal mit seiner intakten Landschaft und seinem reichen Kulturerbe die besten Chancen für eine nachhaltige Entwicklung, welche die soziale und die wirtschaftliche Situation der Bevölkerung des Tals - die, so wird prognostiziert, bis 2020 um 70% auf 37000 Menschen anwachsen wird - verbessern und exemplarisch für weitere Orte in der Gegend sein soll. Das Shaxi-Tal liegt im Jianchuan County in der Provinz Yunnan - dem Land „südlich der Wolken“[1] -, die von Zentralchina durch die Provinzen Sichuan und Guizhou abgeschirmt wird und im Norden an Tibet, im Westen und Süden an Myanmar (Burma) und ebenfalls im Süden an Laos und Vietnam angrenzt. Es erstreckt sich über 288km2, besteht aus 13 Gemeinden - mit Sideng als Zentrum - und zählt rund 22000 Einwohner.
Vom „Goldenen Zeitalter“ bis zum Niedergang
Sideng war einst eine blühende Karawanserei auf dem „Tee-und-Pferde-Handelsweg“, einem Zweig der südlichen Seidenstrasse, der den Süden Yunnans mit Tibet verband. Etabliert in der Tang-Zeit (618-907 n.Chr.), das als das „Goldene Zeitalter“ der chinesischen Kulturgeschichte gilt, kanalisierte die Route den Handel mit Pferden und Bodenschätzen aus dem Tibet, Tee aus dem Süden Yunnans und Salz aus den Minen um Shaxi zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen, die an den östlichen Abhängen des Himalaya siedelten.
Ihren Höhepunkt erlebte die Route in den Zeiten der lokalen Dynastien von Nanzhao (750-902) und Dali (937-1253, Einfall der Mongolen). Von diesen Herrscherhäusern zeugen die Darstellungen im Shizhong- Grottentempel auf dem Shibaoshan (Bilder 6, 7). Sideng florierte aber auch in den über 500 Jahren der Ming-Dynastie (1368-1644), als der Xingjiao-Tempel entstand, und der Qing-Dynastie (1616-1911), als das Theater errichtet wurde und die Fassaden des Marktplatzes ihren heutigen Ausdruck erhielten.
Die Stadt markierte bis in die 50er-Jahre des 20.Jahrhunderts einen wichtigen Marktflecken, ehe - verursacht durch den Bau einer für Lastwagen passierbaren Strasse, die das Shaxi-Tal umfuhr und den Ort ins Abseits manövrierte - der Niedergang einsetzte. Immerhin schützte die Randlage Sideng ebenso vor der Zerstörung der traditionellen Architektur durch moderne Baumethoden wie vor der Disneylandisierung, wie sie in Lijiang nach dem Erdbeben von 1996 Einzug hielt.[2]
Letzter Zeuge einer Karawanserei
Im Oktober 2001 nahm die private Organisation „World Monuments Fund“ auf Anregung der Projektinitianten um Jacques Feiner Sidengs Marktplatz in die Liste der 100 am meisten gefährdeten Kulturgüter der Welt auf. Dies war der Startschuss des Shaxi-Rehabilitation-Projektes (SRP): Jianchuan brachte 50000 Franken zur Deckung der Planungskosten auf, was die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) veranlasste, die erste Phase des Projektes mit 200000 Franken zu unterstützten. Nach Abschluss der ersten Planungsphase erhielt das Projekt rund 500000 Franken zur Umsetzung der Projekte durch Teilnahme an Wettbewerben, die vom „World Monuments Fund“ organisiert wurden. Die Beträge wurden dann vom chinesischen Staat „gematcht“, d.h. in gleicher Höhe ergänzt. Obwohl durch das County verwaltet und teilweise für die Entwicklung des Hauptortes Jinhua Town verwendet, konnte die Infrastruktur (Wasser, Kanalisation, Elektrisches, Telefon/Internet, Strassenbeleuchtung, Pflästerung) finanziert werden.
Ensemble mit Theater, Tempel und Gästehaus
Obwohl das Ensemble des Marktfleckens (Bild 1) mit dem Theater, der Anlage des Xingjiao-Tempels (Bild 2), dem Gästehaus, zwei Stadttoren und so manchem Privathaus intakt war, musste die Bausubstanz gesichert werden. Feiner und sein Team gliederten die Intervention, die sie an den Chartas von Venedig und Granada[3] und an der lokalen Handwerkstradition orientierten, in 6 Module: Renovation des Marktplatzes, Sicherung der historischen Stadt, nachhaltige Entwicklung des Tals, ökologische sanitäre Anlagen, Verminderung der Armut und Vermehrung der Bildung. Für die Module 1 und 2 erarbeitete das Team einen Kriterienkatalog, der die Voraussetzungen für die Instandstellung definierte. Prioritäre Kriterien waren die konstruktive Stabilität, die funktionale Kompatibilität - die Bauten mussten sich auch für eine neue Nutzung eignen - die „visuelle Harmonie“, was insbesondere für das Dekor ausschlaggebend war, sowie die Reversibilität: Jede Intervention muss wieder rückgängig gemacht werden können.
Vor der Renovation wurden die Bauten akribisch dokumentiert und darauf abgestützt zwölf Architektur- und drei Infrastrukturprojekte entwickelt (Bild 1). Dann führte das Team Testrenovationen durch, um die Handwerker mit dem konservatorischen Restaurationsansatz vertraut zu machen. Es wählte zwei repräsentative Gebäude - das Theater von Duanjiadeng, unweit von Sideng gelegen, ein Hofhaus - sowie drei Tore von Herrschaftshäusern. Das Duanjiadeng-Theater bot sich als Testlauf an, weil es typologisch mit jenem von Sideng verwandt ist. Bei den Tor-Bauten war es das Ouyang-Tor, das herausstach. Um 1890 gebaut, gehört es zu den ältesten erhaltenen Strukturen (Bilder 8-11).
Marktplatz
Zwischen Juli 2002 und November 2004 renovierte das Team den siebenteiligen Theaterkomplex sowie das Tor und den ersten Hof des Xingjiao-Tempels, das östliche und das südliche Stadttor sowie einen ersten Teil des historischen Gästehauses, der Tee- und Pferde-Karawanen-Herberge „Lao Madien“. Darin einbezogen wurden die Holzfassaden der übrigen Bauten, die den Marktplatz säumen und ehedem Läden beherbergten. Zudem wurde Sideng mit einer modernen Infrastruktur ausgerüstet: Leitungen für Wasserver- und -entsorgung, Elektrizitäts- und Kommunikationskanäle wurden gelegt und Beleuchtungskörper montiert.
Die Spanne zwischen 2005 und 2006 - die lokalen Handwerker agierten nun unter der Leitung des Architekten Huang Yinwu, für die heikelsten Restaurationen der Wand- und Holzmalereien wurden Ludmilla Labinn und Jonas Wüthrich beigezogen - war für die Renovation der Haupt- und der Sekundärhalle des Xingjiao-Tempels und seiner Seitengebäude reserviert. Sie wurde so angelegt, dass einer Wiederbelebung als Kloster mit Mönchen nichts im Weg steht.
Theater
Das spektakulärste Gebäude des Marktplatzes, gegenüber dem Tempel gelegen, ist das Theater (Bilder 12-14), das allerdings seinerseits eine Rekonstruktion aus dem 19.Jahrhundert darstellt. Ursprünglich errichtet in der Qing-Dynastie während der Regierungszeit des Jiaqing (1796-1820), fiel es einem Brand zum Opfer und wurde im vierten Jahr der Regierungszeit Guangxus (1874-1908), 1878, wieder aufgebaut.[4]
Die beiden Seitenflügel, die einst Geschäfte und Lagerstätten beherbergten, verwaisten, nachdem 1985 der Handel auf dem Platz verboten und der Markt aus dem Stadtzentrum an die Peripherie verbannt wurde. Die Erdgeschossebene soll wieder durch Läden belebt werden - schon eingezogen ist das „Old Pagodatree Cafe“. Im oberen Geschoss wurde ein Museum eingerichtet, das Zeugnisse der religiösen Kunst des Tals beherbergt.
Der Renovation ging eine Bauaufnahme voran, zu der auch schriftliche Zeugnisse beigezogen wurden. Bewegliche Objekte wurden entfernt und gereinigt. Die Holzkonstruktion wurde verstärkt, indem man den Durchmesser der Säulen erweiterte, sie mit Fassringen festigte und mit Stahlankern in der Fundation verankerte. Das Dach wurde wieder mit traditionellen, gebrannten Lehmziegeln gedeckt und die Holzfassade mit den nummerierten, gereinigten und reparierten Hölzern verkleidet. Schliesslich machten sich die Restauratoren Ludmilla Labinn und Thai Nguyen in Zusammenarbeit mit lokalen Malern an die Restauration der al secco auf Kalkputz aufgetragenen Malereien.
Tempel
Der Xingjiao-Tempel (Bilder 3, 4) war religiöse Stätte des „Azhali“-Buddhismus (siehe Kasten Seite 13). Der rechteckige Komplex gliedert sich in Haupt-, Sekundär- und Guanyin-Halle[5] sowie Eingangstor, die durch drei Höfe voneinander getrennt sind und durch Seitengebäude oder eine Mauer nach aussen abgeschlossen werden. Die erste und die zweite Halle des Xingjiao-Tempels wurden unter Kaiser Yongle (Regierungszeit 1403-1424) 1415 errichtet, während das Tor und die Seitengebäude zwischen 1425 und 1521 entstanden. Das Guanyin-Gebäude war eine der jüngsten Interventionen (1736 und 1795). Das faktische Verbot der Ausübung der Religion ging auch an dem Tempel nicht spurlos vorüber: Um 1920 fiel das Eingangstor einem Brand zum Opfer, in den 1960er-Jahren quartierten sich die lokalen Behörden ein, transformierten die Seitengebäude des zweiten Hofs und das Guanyin-Gebäude und erneuerten die nördlichen und südlichen Seitengebäude des ersten Hofs. Schliesslich wurde die Haupthalle als Primarschule zweckentfremdet.
Die SRP-Intervention zielte darauf ab, die ursprüngliche Axialität der Anlage und die Proportionen wieder ins Lot zu bringen sowie die Materialisierung dem Originalzustand nahe zu bringen. In einer ersten Phase wurden der Eingang und der erste Hof des Tempels renoviert. Da weder fotografisches Material über das originale Aussehen des Tors noch schriftliche Zeugnisse vorlagen, beschlossen die Experten, dem Gebäude einen Ausdruck zu verleihen, der in die Gesamterscheinung des Platzes passen und der Typologie der Tempeltore in der Region entsprechen, sich aber nicht einem historischen chinesischen Baustil anbiedern und daher als neues Gebäude erkennbar sein würde. Die Höhe des Tors blieb unverändert, doch wurde - durch Einfügen einer zusätzlichen Dachtraufe - Kompensation geschaffen für das einstige zweite Geschoss und damit der Raum für die beiden seitlichen Wächterfiguren definiert. Entsprechende Lehmstatuen - charakteristisch für den Azhali-Buddhismus - flankierten den Eingang zu Qing-Zeiten. In Abweichung der radikalen westlichen Auffassung von Denkmalschutz liess das SRP Nachbildung und üppige Bemalung der Statuen zu. Um wieder als spirituelles Zentrum des Tals „adoptiert“ zu werden, reicht die rein bauliche Erhaltung nicht. Es bedarf auch der visuellen Wiederherstellung (Bilder 16 und 17).
Bei der Haupt- und der Sekundär-Halle (Bild 15) des Tempelkomplexes ging es um die Restauration der Materialisierung. Die Betonböden wichen traditionellen Lehmziegeln oder Sandsteinblöcken (Ränder). Die 1994 erstellten Betonsockel der Säulen wurden ebenfalls entfernt. Mit Lotosmuster verzierte Sockel aus Sandstein werden die Säulen künftig wieder stützen. Die Sekundärhalle wurde ausserdem abgedeckt, die Primärkonstruktion von der millimeterdicken Öl-Leim-Farbe aus den 1990er-Jahren befreit und mit einem dünnen Schutzfilm in Leinöl überzogen.
Das Hauptaugenmerk aber liegt auf den zahlreichen Darstellungen der Figuren des buddhistischen Pantheons. In der Haupthalle waren es fünf Statuen von Buddha Amen Buddha (Eastern Amen Thathagata), Southern Treasure Producing Thathagata, Great Sun Buddha, Amitabha Buddha (Western Infinite Longevity Thathagata) und Northern Real Achievement Thathagata, die im Volksmund als die „Thathagatas der fünf Richtungen“ bezeichnet wurden (Bild 18). Als eines der wertvollsten Wandbilder gilt die Darstellung eines Treffens von Amitabha, Sakyamuni und Thathagata, die von Figuren wie Himmelskönigen, Monstern, alten Frauen begleitet werden (Bild 19).
Das „Laomadien“-Gästehaus
Das Gästehaus (Bild 21), in dem einst die Karawanentreiber beherbergt wurden, soll als „Tea-and-Horse-Caravan-Trail-Inn“ wieder erstehen. Abgesehen von der Materialisierung, die auch hier teilweise des Rückbaus bedurfte (Ersatz der Backsteine durch Holz bei den Wänden, Pflästerung der Böden wieder mit Sandstein im Hof bzw. Lehmziegeln im Innern), musste das Gebäude durch eine Lehmziegelmauer stabilisiert werden. Als Teil des Moduls 4, das bei allen vollständigen Gebäuden den Einbau eines Pretreatment-Systems vorsieht, wurde im Hof eine Kläranlage installiert. Die Abwässer werden an ihrem Ursprung vorbehandelt - durch spezielle Klärgruben, die Klärschlamm mit Bakterien enthalten, die den Abwässern bis zu 80% der Nährstoffe entziehen. Die verbleibenden Nährstoffe werden über eine Kanalisation in eine biologische Kläranlage geleitet, wo das „final treatment“ stattfindet.
Tore
Das Qing-zeitliche Osttor war einst der Hauptzugang zur Stadt, das die Karawanen vom Heihuijiang über die Yujin-Brücke passierten. Da es in den 1940er-Jahren ersetzt worden war, konnten nur noch die Fundamente gesichert und im Bodenbelag durch Differenzierung der Pflästerung sichtbar gemacht werden. Das in die 1940er-Jahre datierende Tor war damals weder mit Lehm verputzt noch mit Malereien in den vorgesehenen Feldern gefüllt worden. Die Planer sicherten das Gebäude, indem sie die Fundamente sanierten und vergrösserten, die Fugen zwischen den Adobeblöcken auffüllten, das Dach reparierten und das Vordach, das sich früher auf der der Stadt zugewandten Seite befand, ergänzten.
Auf weitere Eingriffe verzichteten sie und beliessen das Infinito der Finitura (Bild 20).
Privathäuser
Obwohl sich die Renovationsarbeiten auf die öffentlichen Gebäude konzentrieren - die Planer wollen vermeiden, Ungerechtigkeiten zu schaffen -, wurde die Renovation der Privathäuser (Projekte 6-11, siehe Bild 1) Ou Xiyu, Yin Liangxiong, Li Zhexuan, Li Licai, Yang Zhongbao und Zhao Yindou an die Hand genommen - als eine Investition gegen die Armut und um das Erscheinungsbild des Marktplatzes wieder herzustellen (Bild 2). Die Planer haben ausserdem einige private Hofhäuser bezeichnet, deren Renovation dringend wäre, sei es, weil sie akut gefährdet sind, sei es, weil ihre Architektur von unschätzbarem Wert ist. Potenzial sehen sie in den Häusern Zhao Jia Yuan, Yang Jia Yuan, Ouyang und Alt-Ouyang (Bild 23), dessen Tor im Rahmen der Testrenovation instand gestellt wurde.
Das Haus Ouyang entstand um 1918 und zeugt von einer späten Phase der Qing-Zeit. Obwohl ein privates Objekt, um dessen Besitz sich ausserdem sechs Brüder rangeln, haben es die Planer ursprünglich wie das Alt-Ouyang-Haus in das SRP integriert. Für beide wurden die nötigsten Sicherungsarbeiten durchgeführt.[8]
Die Ouyangs sind sich des architektonischen Werts ihres Hauses bewusst. Während der Kulturrevolution, als nicht nur religiöse Stätten, sondern auch Zeugen der Kaiser-Dynastien zerstört oder verunstaltet wurden, mussten figürliche Darstellungen in Privathäusern auf Geheiss der Behörden entfernt werden. Die Ouyangs umgingen die Anweisung, bedeckten z.B. die Schnitzereien mit Lehm und legten sie nach der Kulturrevolu-tion wieder frei (Bilder 25-29).
Tourismus ohne Disney
Das Haus Ouyang ist zusammen mit den bisher besprochenen Bauten im touristischen Stadtplan verzeichnet, ebenso wie das Hofhaus-Hotel, das Feiner zusammen mit Jörg Senn (Bild 2) entworfen hat. Um den sanften Tourismus zu beleben, will es der ehemalige Botschaftsmitarbeiter Gérard Burgermeister in redimensionierter Form realisieren.
Die Hauptphase des SRP wird 2006 abgeschlossen. Bauten, Projekte, Pläne und Konzepte werden dann der Gemeinde übergeben - Instrumentarien, mit denen die Behörden die weitere nachhaltige Entwicklung steuern können. Es sind einerseits planerische Instrumente: Schutzplan „Altstadt“ (für den SRP den 1. Preis als beste Planung des Jahres 2005 vom Yunnan Ministry of
Planning bekam), Masterplan Sideng Town, Schutz- und Entwicklungsplan Shaxi-Tal, Zonen- und Bauvorschriften, Nutzungsregulative. Andererseits wurden sozialwirtschaftliche Massnahmen in die Wege geleitet, wie „Business-Trainings“ für die lokale Bevölkerung, die von einem Anbieter aus der Yunnan-Provinz durchgeführt werden sollen. Für die Umsetzung der Pläne soll die „Shaxi Preservation and Development Authority“ besorgt sein, deren Gründung mit Jianchuan County vertraglich vereinbart und auch bereits in den Medien verlautbart wurde. De facto wurde sie aber noch nicht gebildet.
Jacques Feiner räumt ein, dass aufgrund der für China derzeit typischen Entwicklungsdynamik und gleichzeitigen Planungsunsicherheit nicht garantiert werden könne, dass Analoges wie in Lijiang in Shaxi auszuschliessen ist.
Zurzeit ist das Tal für eine solche Entwicklung aber noch zu schlecht angeschlossen. Und vor allem haben er und der chinesische Architekt vor Ort, Huang Yinwu, alles daran gesetzt, Behörden und Bevölkerung für das natürliche und architektonische Erbe zu sensibilisieren.
Am Projekt Beteiligte:
China
Li Lijun, Gouverneur Jianchuan County, verantworlich für SRP seit Januar 2006; Zhang Shoucheng, einer der Vizegouverneure von Jianchuan County, Kommunikation zwischen ETH und Bezirksregierung; Gao Shengjun, Tourismusbüro von Jianchuan, neu Gouverneur der Gemeinde Shaxi; Yang Hubiao vom Bureau of Cultural Management von Jianchuan, überwacht die Arbeiten vor Ort; Zhang Longfu, Sekretär der Kommunistischen Partei in Shaxi, begleitet das Projekt seit dem Beginn
Schweiz
Willy A. Schmid, Vorsteher des Instituts für Raum- und Landschaftsentwicklung der ETH Zürich, Verantwortung für SRP; Jacques P. Feiner, Architekt und Stadtplaner, General Manager des SRP. Feiner initiierte das Projekt 2001; Huang Yinwu, Architekt, Vizemanager des SRP vor Ort
Restauratoren und Denkmalpfleger (punktuell beigezogen)
Ludmila Labinn, Jonas Wüthrich, Thai Nguyen, Ueli Fritz; Werner Stutz, Christian Renfer
Politische und Finanzielle Unterstützung
Dr. Thomas Wagner, ehem. Stadtpräs. Zürich; Dr. Wang Yajun;
Mr. John Stubbs, World Monuments Fund; Dr. Thomas Schmidheiny, atDta Foundation; Dr. Klaus Baumüller, Spectrum Value Management; Robert Wilson Challenge Fund; American Express
Zusatz 1:
Gegensatz Stadt-Land
(rhs) 70% der Menschen in China leben auf dem Land oder in Berggebieten, deren wirtschaftliches Potenzial demjenigen in den Städten hinterherhinkt. Sie leben von Land- und Viehwirtschaft, die nach wie vor fast ausschliesslich in Handarbeit betrieben werden. Schenkten die Kommunisten während des „Grossen Sprungs nach vorn“ den ländlichen Gebieten ihre Aufmerksamkeit, so verlagerten sie das Schwergewicht nach 1978, als Deng Xiaoping die wirtschaftliche Öffnung proklamierte, auf die Entwicklung der Städte. Dabei nahmen sie in Kauf, das sich die Kluft zwischen Arm und Reich noch mehr weitet, die Ungleichheit eine „unvermeidliche Phase im Entwicklungsprozess“ darstellt.[6]
Obwohl der Reformprozess die Zahl der in absoluter Armut lebenden Menschen stark verringert hat - die Regierung spricht von einer Reduktion von 250 Mio. (1978) auf 22 Mio., während chinesische Forscher noch deren 30 Mio. errechnen, die mit 625 RMB bzw. 75 US-$ pro Jahr auskommen müssen, hat sich das Verhältnis zwischen ländlichen und städtischen Gebieten weiter verschlechtert: von 1:2.39 Anfang der 1980er-Jahre auf 1:2.71 1995 und 1:2.94 im Jahr 2000. Auch das wirtschaftliche Potenzial zwischen den drei Grossregionen Ost-, Zentral- und Westchina klafft auseinander. Noch 2001 erwirtschaftete Ostchina 148% des Pro-Kopf-Bruttoinlandprodukts gegenüber 61% Westchinas (Zentralchina lag bei 77%). In absoluten Zahlen in RMB waren es 12680 gegenüber 5221 (Zentralchina 6633).[7] Noch stärker akzentuiert sich die Vernachlässigung in den von Minderheiten bewohnten Provinzen wie Yunnan. 2002 lebten die meisten Menschen im Shaxi-Tal von weniger als 1000 RMB pro Jahr, was rund 125 US-$, 100E oder 160 Fr. entspricht.
Zusatz 2:
Bai-Minorität, Buddhismus und Architektur
(rhs) Yunnan beherbergt 25 ethnische Minderheiten. Um die Überlieferung ihrer Kultur zu sichern, sind die Minoritäten von der 1-Kind-Politik befreit und dürfen zwei Kinder haben. Im Kreis Lijiang bedürfen die Naxi ihrer Sprache wegen des Schutzes: Es ist das einzige, noch gebräuchliche Idiom der Welt, das auf einer Hieroglyphenschrift basiert. Die Minorität der Bai hat den grössten Anteil an der Bevölkerung in der Dali-Präfektur, südlich von Lijiang. Verzeichnet Dali 5.5 Mio. Touristen jährlich und Lijiang deren 3.5, war Sideng ein weisser Fleck auf der touristischen Landkarte. 2004 fanden immerhin 10000 Besucher den Weg ins Tal.
Azhali-Schule
Je nach Quellen hat sich der Buddhismus im 7. bzw. im 9. Jahrhundert in Dali zu etablieren begonnen, und zwar vor allem der esoterische Buddhismus.[9] In Yunnan wurde er als „Azhali-Schule“ bezeichnet. „Azhali“ ist die chinesische Transkription des Sanskrit-Wortes „acarya“, „Lehrer“, „Meister“, und betont das Primat der mündlichen Überlieferung der Geheimnisse vom Meister auf den Adepten gegenüber dem Bücherstudium. Konnte sich die Lehre unter den Nanzhao schwer gegen den einheimischen Schamanen-Kult durchsetzen, waren Politik und Kultur in der Dali-Zeit vom Buddhismus, der nun auch die exoterischen Schulen (Chan, Mayhana) umfasste, durchdrungen.
Baustil
In der Architektur Yunnans spiegeln sich die lokalen Bautraditionen der Bai, der Yi und der Naxi sowie Han-chinesische Züge. Die Bai übernahmen das Holzrahmenwerk der Chinesen, ebenso Lehmsteine und -ziegel. Bai-spezifische Charakteristika sind: Das Haupthaus öffnet sich nach Osten und weist mit der Rückseite nach Westen - im Gegensatz zum traditionellen Hofhaus in Beijing, das in Süd-Nord-Richtung orientiert ist. Hier aber ist die Himmelsrichtung des Erhai-Sees und des Berges Cangshan für die Ausrichtung des Hauses relevant, das sich zum See hin öffnen und sich vom Berg abwenden muss.[10] Berühmt sind die Bai für den plastischen Schmuck (Steinmetzarbeiten, Holzschnitzwerk). Und grosse Bedeutung kommt der Farbe zu. Analog zur bunten Kleidung der Bai mit den bevorzugten Farben Blau, Weiss, Rot und Schwarz[11] ist das Dekor der Architektur: weisse Wände, schwarze Ziegel, rote Säulen, blaue Fassungen.
Schrein
Ein Bücherschrein als Blätterwald in Laufen
Man fühlt sich an die Seiten eines antiken, etwas vergilbten aufgeschlagenen Buches erinnert: Ivo Sollberger und Lukas Bögli haben die Verkörperung einer Bibliothek geschaffen, eines Bücherschreins, dessen edler Ausdruck sich einem „armen“ material verdakt - einem Material, das vielfältige Assoziationen weckt: vom Blätterwald bis zum textilen Gewebe.
Der Beginn des Auftrags war ein Telefonanruf: „Wollen Sie für mich bauen?“ Ivo Sollberger und Lukas Bögli haben ihn vor sechs Jahren bekommen. Eine Bibliothek sollten sie an ein Einfamilienhaus in Laufen anbauen. Die beiden legten sich ins Zeug, suchten Möglichkeiten, den Anbau so zu gestalten, dass er sich gegenüber dem bestehenden Haus nicht wie ein Fremdkörper ausnehmen würde. Vierzig Varianten erarbeiteten sie - vergeblich. Sie verkörperten in den Augen des Bauherrn keine Bibliothek. Dieser erkannte, dass die Architekten versuchten, Rücksicht auf das bestehende Wohnhaus zu nehmen, und erteilte ihnen gewissermassen „Carte blanche“. Sie sollten sich am Charakter einer Bibliothek, nicht am Aussehen seines Hauses orientieren. Und er drückte ihnen eine Rarität der Buchdruckerkunst in die Hand, um ihren Blick für das Buch zu schärfen und das Objekt des Projekts zu betonen.
Das Werk verfehlte seine Wirkung nicht. Die vergilbten, vom Zahn der Zeit gewellten und daher etwas sperrigen Blätter regten die Fantasie und die Lust am Experimentieren an, wie Ivo Sollberger sich erinnert. Die Fassade des Anbaus sollte von diesen Blättern inspiriert sein, die Adaption der Blätter die Identität der Bibliothek ausmachen. Dabei war der Einsatz von Holz - als Rohstoff von Papier - zwar das naheliegendste Material. Um dem Bild aber möglichst nahe zu kommen, wünschten sich die Architekten dünne Holzlatten, die in sich stabil sein sollten, also keiner Fixierung bedürften. Unter Nutzung eines der einfachsten physikalischen Gesetze fanden sie die Lösung für das statische Problem: Mit Wasser besprengt, verformten sich die 0.9mm dicken Furniere aus Tannenholz so, dass sie sich ohne „Krücken“ in der Vertikalen hielten. Aber auch formal zeitigte das Experiment den erwünschten Effekt: Aneinander gereiht verweisen die Furniere auf die zufällige Struktur eines aufgeschlagenen Buches. Der formale Gedanke bedingte die statische Konzeption, und diese wiederum brachte die Idee erst in Form.
Ehrliche Konstruktion
Dennoch gestaltete sich die konkrete Ausführung komplex und bedurfte gleichermassen der Geduld und der Aufgeschlossenheit des Auftraggebers wie der Bereitschaft der Unternehmer, an der Lösung zu tüfteln. Denn Sollberger und Bögli wollten eine möglichst ehrliche Konstruktion - auch und gerade was die Klimatisierung des Raums betrifft. Diese sollte nicht durch technische Installationen bewerkstelligt, sondern allein mittels hinterlüfteter Fassaden gewährleistet werden, sodass die Zone zwischen den Gläsern, wo sich die Furniere befinden, nun ein Aussenklima aufweist. Das birgt zwar die Gefahr, dass sich Käfer und Spinnen einnisten oder - schlimmer - sich Fäulnis bildet. Den Käfern konnte man mit einem Vlies beikommen, die seidenen Fäden der Spinnen sind aber nicht ganz zu vermeiden, da ein zu dichtes Vlies die Luftzirkulation zu sehr behindern würde. Und grau geworden ist das Holz nach nunmehr fünf Jahren erst ganz am unteren Ende zweier Furniere, sichtbar nur für den, der danach sucht.
Eingespannt sind die Gläser in Klickprofile, die es erlauben, den Aufwand auf ein Minimum zu reduzieren, wenn Furniere ausgewechselt werden müssen, weil sie sich zu sehr verformt haben und allenfalls sogar abzurutschen drohen.
Unkonventionell verfuhren die Architekten, wenn sich die Verformung der Furniere - durch das Stapeln für den Transport - wieder zurückgebildet hatte. Sie übergossen sie kurzerhand auf der Baustelle erneut. Da sich die Furniere auch in wieder getrocknetem Zustand weiter verformen, haben sich die Architekten konstruktiv insofern einem kleinen Kompromiss unterworfen, als sie im Abstand von jeweils rund 20cm ein 3mm dickes Blatt einschoben und dieses in eine Holzschiene einspannten.
Bekenntnis zum Fremdkörper
Um mehr Licht eindringen zu lassen, reduzierten sie ausserdem die Anzahl Furniere: Zwischen die fixierten Blätter stellten sie nicht mehr deren acht, sondern nur noch vier bis fünf. Ingesamt bedurfte es gegen 3000 Furniere.
Das Bekenntnis zum Fremdkörper befreite die Architekten auch von Einschränkungen bei der Bauform. Für die Grundrissdisposition gab es vor allem zwei Auflagen seitens des Bauherrn: Er wollte den Blick auf den Nettenberg, Laufens Hausberg, und die Abendsonne auf der Rückseite des Hauses geniessen können.
Um das Volumen des Anbaus zu brechen, entwarfen die Architekten einen ungefähr in der Mitte eingeschnürten Kubus. Diesen dockten sie zwischen den bestehenden Räumen von Wohn- und Esszimmer an, einer Zone, die bislang von einem Aussensitzplatz gebildet wurde. Das geknickte Volumen verhindert, dass sich der Baukörper wie ein Riegel ausnimmt. Im Innern aber wirkt die Einschnürung wie ein Sog.
Diese Anziehung wird bei Sonnenschein durch das flirrende Licht verstärkt, das durch die Lamellen der Holzfurniere gefiltert ins Innere dringt. Ausserdem ergeben sich zuweilen irritierende Spiegelreflexe, die den Raum grösser erscheinen lassen. Von aussen wirken die Blätter, als bögen sie sich im Wind, im Innern entfalten sie zuweilen auch einen textilen Charakter und erinnern an den Faltenwurf eines Vorhangs.
Auch Farbe und Materialität changieren und zeigen eine Palette zwischen Gold, Ocker und Oliv sowie zwischen faserig und seidig schimmernd. Die Decke ist weiss gestrichen und vestärkt die Goldfärbung. Die Dachfläche besteht ebenfalls aus Schiefer, in den Löcher eingestanzt sind, aus denen Huflattich spriesst. Gerahmt ist die Bibliothek in eloxiertem Aluminium, das das Farbenspiel der Hölzer reflektiert und ebenfalls zwischen Gold und Oliv variiert.
Der Boden aus anthrazitfarbenem Schiefer ist zwar „salonfähiger“ als der Naturstein im Altbau. Doch die Massivität der bestehenden Schiebetür, die früher in den Garten führte, bewirkt, dass man noch immer das Gefühl hat, nach aussen - in einen Blätterwald - zu treten.
Auto-Landschaft
Isa Stürm und Urs Wolf haben das Rennen im Wettbewerb für ein Automuseum im appenzellischen Teufen mit einem Objekt auf der «Ideallinie» zwischen Architektur und Landschaft gemacht. Ausgeschrieben vom Unternehmer (Lista AG) und Rennfahrer Fredy Lienhard und seinem Partner Hans Müller, wird es vorläufig nur noch von Letzterem getragen, der sich nach Investoren umsieht. Die Arbeit am Projekt läuft derweil auf Hochtouren.
Isa Stürm und Urs Wolf zielen mit ihrem Automuseum wie Ben van Berkel (siehe Artikel S. 4) auf Bewegung, aber mit anderen Vorzeichen. Die Objekte der Begierde, denen sie eine Hülle geben wollen, sind keine Alltagsvehikel, sondern Rennwagen. Daher nehmen die Architekten Anleihe bei der Medientheorie Marshall Mc Luhans und der Analogie zwischen dem Pferde- und dem Autorennsport.
So, wie das Auto – als Erweiterung des menschlichen Körpers – Pferd und Wagen ersetzte, die ihrerseits auf sein sportliches Potenzial «reduziert» werden, überholen die elektronischen Medien das Automobil. Das zunehmende Verkehrsaufkommen führt durch Staus zum Kollaps. Die Beschleunigung kommt zum Stillstand. Das Automobil überlebt nur noch auf dem Circuit und avanciert gleichsam zum Pendant des mittelalterlichen Ritters und seiner Rüstung.
Die Kunst hat das Auto längst schon als Artefakt entdeckt, seinen erstarrten Zustand thematisiert, als Objekt im Stillstand inszeniert. 1974 setzte die Gruppe «Ant Farm» in einem Getreidefeld in Texas zehn Cadillacs bei («Cadillac Ranch»), vier Jahre später zog «SITE» auf der Plaza eines Shopping-Centers in Hamden, Connecticut, mit «Ghost Parking Lot» nach, wo sie 20 mit Beton gefüllte und mit Asphalt übergossene Autos deponierten. Das passt zur Auffassung der Architekten Stürm und Wolf, wonach sich das Auto als privates Transportmittel überlebt hat. Isa Stürm vermutet, dass das Auto, wie das Pferd, nur noch auf dem Circuit zum Siegeszug antreten wird.
«Ideallinie» zwischen Architektur und Landschaft
Zwar haben sich Isa Stürm und Urs Wolf wie Ben van Berkel mit dem Bautyp «Museum» befasst, sind aber bald davon abgekommen, sich daran zu orientieren. Ihre Inspirationsquelle erschlossen sie sich in situ. Sie haben die Rennstrecke und ihr Umfeld ins Visier genommen, den Circuit, die Boxen, das Teamwork, die Beziehung zwischen Tribüne und Circuit, die Kurvenwölbungen, das Siegerpodest, die Werbung (Bild 16). Sie haben sich die Ikonen – etwa den «Bluebird» oder den «Silberpfeil» (Bild 17, S. 10) – und die Helden – von Manfred von Brauchitsch bis Michael Schumacher, von Battista Pininfarina bis Enzo Ferrari – des Automobilsports vorgenommen (Bild 15).
Das Automuseum soll auf rund 500 m² ein Schaudepot für 40 Wagen beherbergen und auf 1500 m² Wechselausstellungsfläche bieten. Insgesamt ist es für 120 bis 130 Wagen ausgelegt. Isa Stürm und Urs Wolf verstehen das Museum als Station einer Rennstrecke, die an der Umfahrungsstrasse in Teufen liegt, und haben versucht, die Ideallinie zwischen Architektur und Landschaft zu finden. «Patisserie» haben sie die Versuche genannt, Boxen, Circuit, Kurven in eine topografische Form zu giessen. Und schliesslich haben sie sie, um mit der komplexen Raumgeometrie fertig zu werden, mit Hilfe des Computerprogramms für Automobile «Solid Edge» entworfen.
Dabei ist ein Rumpf entstanden, der ins Erdreich eingegraben ist (Bild 4, Schnitte 10, 11). Drei Flügel durchstossen die Oberfläche und öffnen sich mit linsenförmigen Scheiben in die Landschaft (Bilder 4, 7). Man kann sie mit einer Autoscheibe assoziieren, durch die der Blick auf einen Ausschnitt der Umgebung fokussiert wird. Stürm und Wolf verstehen die Fenster als «Interface» zwischen Rennstrecke und Landschaft.
«Gekrümmter Raum»
Die mit einem silbrig schimmernden, metallischen Blech verkleideten Flügel (Bilder 4, 5) bedienen gleichermassen die Auto- wie die Flugzeugmetapher, wecken die Assoziation mit einem Silberpfeil und vielleicht auch mit einer Ritterrüstung. Sie spannen einen Landschaftsraum auf, der als Parkdeck gestaltet ist. Dessen grüner Bodenbelag soll sich in die Wiese einfügen, der schwarze Asphalt der Parkfelder sich wie Autoschatten ausnehmen. Die Reling, die das Feld begrenzt, kokettiert schliesslich mit der Schiffsmetapher. Die Parkierung ist Teil der Ausstellung. Denn die Durchfahrt aufs Parkdeck, die wohl nicht von ungefähr an eine mittelalterliche Zugbrücke erinnert, führt durch den zur Battenhusstrasse hinweisenden Flügel. Er ist das Tor zur Ausstellung, welche die Besucher als Loop erleben sollen. Vom Trottoir führt der Weg unter dem Portal durch eine Flügeltür auf die Rampe, von der aus sich ein erster Blick auf den Circuit öffnet. Von der Galerie, die Empfang, Mediathek, Lounge, Werkstatt und Büros beherbergt, lassen sich die Ausstellungshalle, das Schaudepot und die Werkstatt in Augenschein nehmen. Der Abstieg führt in den Bauch des Baukörpers. Das Erlebnis des «gekrümmten Raums» soll sich hier einstellen (Bild 6). Die Krümmung dynamisiert die auf dem Circuit positionierten Wagen ebenso wie diejenigen in den Boxen des Schaudepots im Hintergrund, die startklar in Position zu stehen scheinen.
Beobachtet werden kann das «Geschehen» aber auch von der Tribüne im Ostflügel, die mittels eines Vorhangs auch zum Auditorium umfunktioniert werden kann. Der westliche Flügel fängt als «Schaufenster» das Panorama der appenzellischen Hügellandschaft ein.
Raumfachwerk
Komplex ist das statische Konzept, das Schlaich und Bergermann erarbeitet haben. Der Baukörper, der sich auf eine Länge von ca. 100 m und einer maximalen Breite von ca. 50 m erstreckt und mit einer Einbindetiefe von 4–7 m im Gelände eingegraben ist, ragt mit seinen schalenförmigen Dächern maximal ca. 7 m über die Geländeoberfläche hinaus. Die Bauteile unter Geländeniveau sind im Wesentlichen als Stahlbetonbauteile geplant, nicht befahrbare Dachflächen und transparente Fassaden werden als Stahl-Glas-Konstruktionen konzipiert.
Als Basiskonstruktion für die Dachfläche (Achsen 6
bis 14) schlagen Schlaich und Bergermann ein Raumfachwerk vor (Bilder 1–3, 9). Dieses ist im Bereich der befahrbaren Fläche als zweiachsig gespannte Decke mit einer Spannweite von bis zu 29 m und einem Rasterabstand von ca. 2.50 m (Stablängen der Gurte zwischen ca. 1.60 m und 4.00 m) bei einer Bauhöhe von ca. 1.66 m (Aussenkanten < 2.00 m) konzipiert.
Als Unterkonstruktion der mit einem Belagsaufbau
versehenen Fahrbahndecke liegt eine Betondecke über dem Raumfachwerk. Sie wird zur Reduzierung der Eigenlasten als Verbunddecke mit Profilblech als verlorene Schalung mit einer Dicke von ca. 15cm ausgeführt und spannt als Durchlaufträger zwischen Pfetten ca. HEB 140, die an die Knoten der Obergurte des Raumfachwerkes angeschlossen sind (Stützweite ca. 3.00 m).
Im Bereich der nicht befahrbaren Flügel wird das Raumfachwerk mit veränderlicher Bauhöhe stetig zu den Fassadenstützen der Flügel geführt und beschreibt zusätzlich die Krümmung der Flügel. Das Raumfachwerk wird umlaufend auf den Aussenwänden, den Unterschalen der Flügel sowie den schräg gestellten Fassadenstützen der Flügel aufgelagert. Am Übergang zur Stahlkonstruktion des Nordflügels (Achse 6) werden Stützen angeordnet, um eine kontinuierliche Lagerung des Raumfachwerkes zu gewährleisten. Ausserdem bedarf es hier bei der Einfahrt einer Abfangkonstruktion durch ein Fachwerk mit ca. 18 m Spannweite. Der ebenfalls gekrümmte Boden der Flügel wird von einer Betonplatte gebildet, die auf Streifenfundamenten oder direkt auf dem Baugrund aufliegt.
Die Flügel werden mit einer Holzunterkonstruktion für die Dacheindeckung versehen. Die gewünschte Endform der Flügeloberfläche kann durch präzises Herstellen der Holzträger mittels CNC-Fräsung erfolgen. Von unten können die Stahlkragarme durch eine nachträglich angebrachte Verblendung, z.B. aus Holzplatten, verkleidet werden, um auch hier die ästhetisch wichtige Form der Untersicht umsetzen zu können.
Innen und Aussen und vice versa
Die Materialisierung haben Stürm und Wolf so gewählt, dass sie einerseits Innen und Aussen thematisiert und andererseits die Bewegung akzentuiert haben. Der Kontrast zwischen den voraussichtlich mit geflammten, hoch glänzenden Stahlblechen verkleideten, grosszügig verglasten Flügeln sowie ihrer Innenverkleidung mit hellen Sperrholzplatten und dem lichtabsorbierenden Ton des Rumpfs, der anthrazitfarben vorgesehen ist, definiert die Schnittstelle zwischen der luftigen, transparenten Atmosphäre und dem dunklen Erdraum.
Eine Umkehrung der Verhältnisse streben die Architekten bei den Belägen an. Der Strassencharakter soll sich im Innern manifestieren, auf dem Asphalt des Circuit, das Parkdeck hingegen mit Kunststoff oder mit Gummigranulat überzogen werden, um es als Teil des Innenraums zu qualifizieren.
Speicher, Druck und Thermik
Für die Klimatisierung wollen die Architekten die «natürlichen» Gegebenheiten des Baus nutzen. Danach kühlt die unterirdische Gebäudemasse – dank den Speichermassen von Erdreich und Beton – die Aussenluft im Sommer ausreichend ab, sodass eine Klimatisierung entbehrlich erscheint. Ausserdem machen Sonnenschutzgläser aussen liegende Storen obsolet. Für die Belüftung wollen Stürm und Wolf Thermik und Druckdifferenzen nutzen, die dazu führen, dass die gekühlte Luft durch die Ausstellungshalle strömt und – über die Verglasungen erwärmt – am höchsten Punkt wieder austritt.
Umgekehrt schätzen sie die Abkühlung im Winter als so gering ein, dass allein die Sonneneinstrahlung und die Abwärme für Temperaturen kaum unter 15°C sorgen. Allerdings müssen die Wärmeverluste durch die Verglasung kompensiert werden, was mittels Konvektoren geplant ist. Gedeckt werden soll der Wärme- bzw. Kühlbedarf durch eine Erdsonden-Wärmepumpe.
Szenografie
Als integralen Bestandteil der Architektur behandeln Stürm und Wolf die Szenografie, die sich ebenfalls am Rennsport orientiert. So sollen mit Flaggen Signale gesetzt werden, wie sie der Fahnenkultur der Rennwelt entsprechen. Im Innern würden auf unterhalb der Rampe im Raumfachwerk angebrachten Monitoren – analog zur Presselounge einer Rennstrecke – Live-Übertragungen oder Aufzeichnungen ausgestrahlt werden. Analog zur «Ideallinie» stellen sich Stürm und Wolf auf der Innenseite der Flügel eine Schriftschlaufe mit Begriffen aus dem Rennsport vor. Und schliesslich wäre eine «ideale Beschleunigungsspur» von Fredy Lienhard zu applizieren oder eine Bremsspur, eingefangen von Silvie Fleury (Bild 17). Letztere hat Lienhard bereits gezogen, die Beschleunigung ist jetzt Sache von Hans Müller.
Palimpsest
Le Corbusiers Erstlingswerk dem Vergessen entrissen
Mit archäologischer Akribie wurde Le Corbusiers Erstlingswerk, die «Maison Blanche» (1912–1919), in La Chaux-de-Fonds renoviert: ein spannender Prozess, bei dem so manches Geheimnis gelüftet wurde.
Die «Maison Blanche», wie Jeanneret die Villa nannte, ist ein Schlüsselwerk des nachmaligen Le Corbusier. Sie bricht mit dem Regionalismus, der die Bauten auszeichnet, die Jeanneret mit René Chappalaz realisierte (Villa Fallet, 1906/07, Villa Stotzer, 1908, Villa Jaquemet, 1908), als hätte er sich von Charles L’Eplattenier, seinem Lehrer an der Ecole d’art, lösen wollen. Sie weist aber auch über den neoklassischen Aspekt hinaus, der ihr attestiert wird. Jeannerets Lehrzeit bei Auguste Perret in Paris und Peter Behrens in Berlin schlägt sich ebenso nieder wie seine «Voyage d’Orient».
Ursprung und Original
1912, nach der Rückkehr von seiner Orient-Reise, im Alter von 25 Jahren, eröffnete Charles-Edouard Jeanneret sein Architekturbüro in der Rue Numa Droz 54 in La Chaux-de-Fonds. Mit dem Gedanken, seinen Eltern ein Haus zu bauen, spielte er schon 1907, als er ihnen eine «nette kleine Unterkunft» vorschlug.[1] Die erste Skizze datiert möglicherweise 1911 und befindet sich im ersten der sechs Skizzenbücher seiner «Voyage d’Orient» (Bild 4).[2] Der spätere Entwurf vom Januar 1912 (Bild 5) differiert zum ausgeführten Bau etwa in den Nischen oder Fenstern der Stützmauer.
Mit den Bauarbeiten wurde am 15. April 1912 begonnen, wobei Jeanneret bis Ende April an den Plänen arbeitete. Dabei unterschieden sich diejenigen, die er der Bau- und Feuerpolizei einreichte, markant von der Perspektive3, die gegen Ende April entstanden sein dürfte, und diese wiederum stimmt nicht mit der ausgeführten Fassung überein (Bilder 1, 2). Zwar war das Haus nach sechs Monaten gebaut. Dennoch ist der Originalzustand schwer auszumachen. Denn Jeanneret behandelte das Haus wie ein «banc d’essai grandeur nature», «wo er Türen öffnet und unterdrückt, Farben und Verkleidungen ändert»: ein Experimentierfeld. Bruno Reichlin bezeichnet das Haus daher als «Palimpsest» (mehrfach beschriebenes Pergament).[4]
Adlernest und Promenade architecturale
Die «Maison Blanche» steht auf der Sonnenseite des
Pouillerel, hoch über La Chaux-de-Fonds. Stieg man vor der Renovation die Rue du Haut-des-Combes hoch und bog von Osten in den Chemin de Pouillerel, verbarg es sich hinter dichter Bewaldung. Heute, nachdem das Waldstück stark gelichtet wurde, thront es über dem Hang, und die Assoziation mit einem Horst – Jacques Gubler verglich 1987 diese Ostseite mit einem Adlernest – ist noch augenfälliger geworden.
Jeanneret nutzte die Hanglage und rang ihr landschaftliche Aspekte ab, die seinen Bau zum Fokus einer Promenade architecturale machen, in deren Verlauf sich die Physiognomie der Villa ständig ändert. Jede Fassade hat ihre eigene Ausformulierung, und keine ist symmetrisch. Es finden sich allein zehn verschieden dimensionierte Fenstertypen.
Der Weg flankiert erst den Garten, biegt dann nach rechts auf die «terrasse inférieure», am Fuss der Südseite des Hauses (Bild 21). Von hier geht es über einige Stufen auf die «terrasse supérieure», die linker Hand von einem konkav geformten Tor überfangen ist. Von hier leitet eine Treppe in die Chambre d’été. Unvermittelt steht man vor der Apsis des Hauses und ist schon in der Privatsphäre. Hat man den Garten durchquert, erreicht man wieder ein, diesmal überwölbtes, Tor. Man hat die Rückseite des Hauses erreicht – und steht wieder draussen vor der Haustür.
Wie ein Nabis-Gemälde
Vom Vestibül (0.03), das sich in ein Entrée (0.04) und eine Garderobe (0.05) gliedert, geht rechts die Küche (0.02), das Rückgrat des Hauses, ab (Bild 17). Das Antichambre (Vorzimmer, 0.08) bildet mit seinem zwölfteiligen, 325u218 cm grossen Fenster, das den Blick auf den heute spärlich bewaldeten Abhang rahmt, einen Prospekt. Leo Schuber assoziiert es mit einem Proszenium. Es erinnert aber auch an das von Schülern L’Eplatteniers eingerichtete Musikzimmer in der Villa Matthey-Doret in La Chaux-de-Fonds.[5]
In entgegengesetzter Richtung schweift der Blick – dank mehreren Glasfalttüren kaum gehemmt – durch den Wohnraum (0.10), das «Querschiff der Kathedrale»[6] und das Esszimmer (0.01), dessen absidialer Abschluss in den Garten ausgreift. Die Blumentapete des Salons und der von den Glastüren gerahmte Ausschnitt des Gartens verschmelzen wie auf einem Gemälde eines Pierre Bonnard oder Edouard Vuillard.
Die Treppe ins Obergeschoss führt in die «lingerie» (Bild 18, 1.09), die über dem Antichambre liegt und von Bad (1.10) und WC (1.04) flankiert wird. Die Wäschekammer, die auch den Charakter eines Vestibüls hat, geht ihrerseits in einen Korridor (1.13) über. An dessen Ende liegt das Zimmer des Architekten mit halbkreisförmigem Abschluss (1.01), links das Schlafzimmer der Eltern (1.11), rechts das Atelier mit dem Oblicht, das Jeanneret für sich selber einrichtete (1.03). Die Werkstatt des Vaters situierte Jeanneret im Unter-, das Zimmer seines Bruders Albert im Dachgeschoss.
«Schiere Masse von Referenzen»
Mit der Renovation ging eine Spurensuche einher, deren Fährte Jeanneret selber legte, als er schrieb, er habe die Villa nach seiner Rückkehr von seiner Reise durch Griechenland, Asien, die Türkei und Italien gebaut, als er noch voll gewesen sei «von der grossen, klaren, formalen Architektur der mediterranen Länder (...), die einzige Architektur, die ich anerkenne».[7]
Die Carnets der «Voyage d’Orient» sind eine wahre Fundgrube. Man könnte meinen, Jeanneret habe in dem Haus sein Reisegepäck wie ein Füllhorn ausgeschüttet. Ritter kommentierte den Bau 1915 denn auch als «white and grey house transplanted from the Bosporus».[8]
Dem Entwurf vom Januar 1912 (Bild 5) näher als die Skizze von 1911 (Bild 4) ist das «rumänische Haus» (Bild 6). Der thronende Aspekt der Maison Blanche erinnert an etliche Skizzen aus Istanbul, aber auch an die Villa Lante.[9] Der absidiale Abschluss des Wohnraums wird – aus der Untersicht zusammen mit der Stützmauer des Garten gesehen – mit einer Fotografie Jeannerets des Petersdoms in Rom vom Oktober 1911 in Verbindung gebracht.[10] Die Abside könnte aber auch vom Wohnhaus in Pera, das Jeanneret im Juli 1911 skizzierte, inspiriert sein.[11] Die Faszination für Mauern – vor allem als Einfriedungen – reisst in den Carnets nie ab, und es liessen sich zahllose Beispiele für sie finden.[12] Die naheliegendste Referenz für die Komposition der Pergola aus Mauer, Laube, Geländer, Baldachin und durchbrochenem Lattenwerk findet sich in einer Skizze ebenfalls aus Istanbul vom Juli 1911, die einen «erhöhten Garten mit Laubengang» zeigt (Bild 12). Pate gestanden haben könnte auch die Skizze der Pergola der Albergo del Sole, wo Jeanneret während seines Aufenthalts in Pompeij residierte (Bild 8). Aber auch der Portiko des Hauses des Sallust in Pompeji scheint sich in der Pergola zu reflektieren.[13]
Die Ruinen in Pompeji, die der Zerstörung wegen nicht mehr als Innen-, sondern als Aussenräume erlebt werden, machen die Lektüre der Chambre d’été sowohl als Aussen- als auch Innenraum verständlich.[14] Der Torbogen am Fuss der Sommerstube figuriert ebenso als architektonisches Landschaftselement, wie es als Ruinenfragment gelesen werden kann.
Transitorisch
An der Pergola lässt sich aber auch die Verbindung zwischen Tradition und Moderne illustrieren, ist sie doch «verwandt» mit Peter Behrens’ Gartenanlage des AEG-Pavillons an der Deutschen Schiffbau-Ausstellung[15] oder Heinrich Tessenows Patio des Damen-Sonnenbades beim Dalcroze-Institut in Hellerau bei Dresden von 1910–11 (Bild 13).
Einen Ausblick auf die Moderne gewährt auch die Reihung der Fenster des Schlafzimmergeschosses (Bild 1). Dass Jeanneret den dunkelbraunen Ölanstrich (wie 1965, Bild 3) der ihnen vorgelagerten Kolonnade durch einen solchen in gebrochenem Weiss ersetzen liess, unterstreicht diese Absicht. Mit der grauen Eternitdeckung des Daches, die auf den zeitgenössischen Fotografien gleichsam mit dem Himmel verschmilzt, erzielte er einen kubischen Ausdruck.
Und es klingt an, was Le Corbusier später untersuchen wird:«(...) immerhin würde es der gute Geschmack gebieten, den Zustand zu belassen, da die Proportionen aller Räume sehr genau studiert sind.»[16] Es scheint, als hätte Jeanneret seinen Bau ebenso in der Architekturgeschichte verankern wie einen «Ausblick» auf die «kommende Baukunst» lancieren wollen: «Die intendierte Verwirklichung einer Fülle von künstlerischen Zielen wurde erstickt durch die schiere Masse von formalen Referenzen an die Architektur, die er in Deutschland und auf seiner Orient-Reise gesehen hatte.»[17]
Konstruktion
Konstruktiv markiert das Haus ebenfalls einen Übergang. Obwohl konventionell gebaut – mit tragenden Aussenmauern und vier gemauerten Pfeilern von 50u60 cm, die ein Rechteck bilden –, nimmt die Struktur der Innenräume, die nur durch leichte Trennwände gegliedert sind, den freien Grundriss vorweg. Beton kommt spärlich zum Einsatz, sichtbar nur im dekorativen Element der Kolonnade im Obergeschoss, in den Bordüren der Wege des Gartens und der Chambre d’été.
Die Geschossdecken bestehen aus in nordsüdlicher Richtung zu den vier Innenstützen verlaufenden Primärträgern aus Eisen. Diese sind in der Querrichtung mit Holzbalken oder Eisenträgern (IPN 100 oder 160) ausgefacht, die Hourdis-Deckenelemente aus Ton oder Beton (Leichtbeton, Schlackenbeton oder Beton mit Kalk als Zuschlagstoff) aufnehmen. Der Dachstuhl besteht aus zwei Dachbindern und einem traditionellen Sparrenwerk. Das Bruchsteinmauerwerk der Aussenwände ist auf der Innenseite mit einer 6cm starken Schicht Schlackenmörtel ausgeschlagen, die als Wärmeisolation und als Unterlage für den glatten Gipsputz dient. Auf der Aussenseite nimmt dieselbe Schlackengrundlage den Aussenputz aus Luftkalk und hydraulischem Kalk auf.
Experimentierfeld
Ausgangspunkt der Renovation, die der einheimische Architekt Pierre Minder und der Landschaftsplaner Peter Wullschleger mit einer Fachkommission vornahmen, waren vier Kriterien: 1. Grad der technischen Erkenntnisse; 2. Bedeutung für die «Maison Blanche»;
3. Bedeutung für das Werk Le Corbusier; 4. Bedeutung für das künftige Funktionieren des Hauses.
Da Haus und Garten nicht erst nach der Ära Jeanneret-Gris, also nach 1919, zum Teil einschneidend verändert wurden, sondern auch zwischen 1912 und 1919 Modifikationen erfuhren, bedurfte es exakter Untersuchungen und Sondierungen, um dem möglichst Originalen auf die Spur zu kommen.
Fassaden
Allein bei den Fassaden liessen sich drei Phasen ermitteln, wobei das von Jeanneret selber veranlasste Übermalen der Kolonnade im Obergeschoss die markanteste Veränderung des Ausdrucks bewirkte. Mit dem dekorativen Aspekt der Kolonnade durchaus im Einklang war das Mosaik, das das Fenster des Salons ab 1964–65 rahmte (Bild 3). Obwohl nicht original, wurde es daher sorgfältig entfernt, um es gegebenenfalls wiederherstellen zu können.
Beeinträchtigt worden war die Gesamterscheinung der Villa vor allem in den 1940er-Jahren, als man mit Tonziegeln die Eterniteindeckung des Daches ersetzte. Deren Rekonstruktion war entscheidend für die Rehabilitation des Baus. Er erscheint heute indes nicht in jenem strahlenden Weiss, wie die Bezeichnung «Maison Blanche» vermuten liesse. Grund für das kaum gebrochene Weiss war eine geringe Menge Titan, mit der man die einstige Mischung aus Luftkalk, Kasein und Champagnerkreide stabilisierte. Da Titan 1912 aber nicht zur Verfügung stand, verzichtete Pierre Minder nun auf die Substanz, welche die Farbveränderung des Kaseins mindert, dessen es zur Fixation des Kalks bedarf. Im Winter hebt sich die Fassade mit einem leicht gelblichen Stich gegenüber dem Weiss des Schnees ab.
Fliesen und Linoleum
Kaum Eingriffe hatten die Räume der Villa erfahren. Materialien und Farben von Böden und Wänden dagegen waren zum Teil massiven Eingriffen unterzogen worden. Doch konnten viele originale Reste gesichert und restauriert oder aufgrund von schriftlichen Zeugnissen rekonstruiert werden.
So fand man einige der Fliesen aus emailliertem Zement in den Farben Blau und Crème und in den Dimensionen von 20u20 cm, welche die Böden der Serviceräume (Bilder 17, 18) bedeckt hatten und später teilweise durch ein schwarz-weisses Schachbrettmuster (10u10 cm) ersetzt worden waren. Zieren Korridor, WC, Küche und Badezimmer heute die blau-weissen Fliesen, dokumentiert das Vestibül die zweite Phase des Schachbrettmusters (Bilder 34, 35). Das Linoleum der Aufenthaltsräume (Bilder 30, 31) existierte noch zu grossen Teilen und konnte restauriert bzw. im Elternschlafzimmer aufgrund einer Beschreibung Jeannerets, «le sol est bleu»[18], neu verlegt werden . Dabei wurde der Farbton demjenigen der Fliesen angepasst. Daraus abgeleitet, wählte man das Linoleum für Jeannerets Zimmer ebenfalls in Blau (Bilder 28, 29).
Tapeten und Jute
In der Ära Jeker (ab 1919) – so Georges Jeanneret in seinem Journal am 17. Mai 1922 – waren alle Wände ausser denjenigen des Vestibüls mit «Salubra»-Tapeten verkleidet worden. Im Salon ersetzten diese die inzwischen berühmt gewordene Tapete mit dem Blumenmuster, wie sie auf zahlreichen Fotografien dokumentiert ist und von der Reste in situ, hinter einem Heizkörper, vorgefunden wurden. Sie wurde rekonstruiert und wirkt heute etwas poppig, obwohl die Farben dem Original entsprechen und das Grün des Blattwerks jenes Grün aufnimmt, mit dem Teile der Radiatorverblendung unter dem Fenster gestrichen waren (Bilder 30, 31). Der kleine Salon war ebenfalls mit neuen Tapeten versehen worden, die eine Tapete mit Streifenmuster ersetzten. Naturbelassene Jute fand man in Teilen des Vestibüls und in der Bibliothek.
Farben und Putze
Auch den Grad der Polychromie der nicht mit Tapeten verkleideten Wände zu ermitteln gestaltete sich schwierig. Dass Jeanneret am 10. März 1913 an Auguste Perret schrieb: «Je ne m’étais pas encore posé le problème de la polychromie architectural», machte die Sache nicht einfacher. Die Sondierungen bestätigten immerhin, was der Urheber im selben Schreiben berichtete: «(…) les murs ont la sérénité de leur crépi blanc et l’on mange bien dans le blanc et l’on y dort tranquille avec le bleu d’un plancher (…)».[19] Die Untersuchungen ergaben eine Mischung von Grau- und Blautönen, deren Intensität je nach Raum variierte. Abweichungen stellten der Raum mit dem halbkreisförmigen Abschluss im Obergeschoss, der in Ockergelb gestrichen war (Bilder 28, 29), und das Treppenhaus dar, dessen Holzelemente in einem dunklen, satinierten Blau gehalten waren.
Verborgenes
Minder und sein Team lüfteten so manches Geheimnis. So förderte die Stratografie im Antichambre einen rotbraunen Fries zutage, der die Decke zierte. Die Farbe korrespondiert mit dem Rot-Ton des Linoleums in der Bibliothek, und dieser wiederum fand einst seinen Widerhall im kleinen Salon. Hier, wo man die erwähnte Tapete mit Streifenmuster für ursprünglich gehalten hatte, stiess man auf ein Stück rotbrauner Jute – als wäre es eine Replik auf den Boden in der Bibliothek. Da die Entdeckung zu kurzfristig war, gelang es bis zur Eröffnung nicht, entsprechend gefärbte Jute aufzutreiben. Doch war sie ein weiteres Indiz dafür, dass Jeanneret die Räume nicht nur in Abfolge und Kubatur, sondern auch im Dekor zueinander in Beziehung setzte – innerhalb des Hauses genauso wie zwischen innen und aussen. Dort liegt die augenfälligste Korrespondenz zwischen dem Ultramarinblau der Pergola, des Baldachins und der Linie, die den Traufladen ziert (Bild 22).
«chambre d’été» und Garten
Dem Grünraum liess Jeanneret eine kaum minder sorgfältige Planung angedeihen als dem Haus. Allerdings behandelte er nicht das gesamte Gelände gleich intensiv. Ein Hauptaugenmerk legte er auf die «promenade architecturale», die «chambre d’été» mit der Pergola und dem «chiosque». Diese beschrieb er beim Verkauf an Jeker am 21.1.1919: «Die Gartenterrasse bildet so recht eine Sommerstube; sie ist gegen Einblicke von aussen vollständig abgeschirmt, bietet das Panorama der Bergketten und ist so orientiert, dass sie von Morgen bis Abend den ständigen windgeschützten Aufenthalt auf einem stets trockenen Plattenboden zwischen Blumenbeeten und Rasenflächen erlaubt. Diese ‹Sommerstube› ist eine hierzulande bisher unbekannte Erfindung von erheblicher Annehmlichkeit.»
Auch die Gartengestaltung bedurfte einer intensiven Recherche (Bilder 22–25). Das Terrain war extrem überwachsen und die «chambre d’été» zu einem Wohngarten im Stil der 1940er-Jahre mit Granitplatten und einem besseren Holz«verschlag» umgestaltet worden. Die Pergola musste zur Gänze rekonstruiert, mithin eine «Fälschung» vorgenommen werden. Dank dem vorgefundenen Bruchstück eines roten Klinkers von 12u24u6 cm liessen sich die Wege rekonstruieren – in englischem Verband bzw. im Fischgrätmuster –, beide gerahmt von Bordüren aus Beton. Die Rasenflächen wurden wieder mit Rosen bepflanzt.
Den Südhang unterhalb der «terrasse inférieure» hatte Jeanneret seinem Vater als Experimentierfeld überlassen. Für diesen Bereich musste sich Wullschleger auf die Aufzeichnungen des Vaters, Georges Edouard Jeanneret-Gris, verlassen, der eine Vielzahl von Pflanzen vermerkte: Apfel, Eberesche, Kastanie, Kirsche, Linde, Pflaume und Rotbuche; Aster, Clematis, Dahlie, Fingerhut, Geranium, Kornblume, Klatschmohn, Leberblümchen, Nelke, Ringelblume, Rhabarber, Rose, Schlüsselblume, Schneeglöckchen und Springkraut; Farn, Johannisbeerstrauch und Weissdorn. Da viele einjährige Pflanzen waren, die einen hohen Pflegeaufwand verursacht hätten, wurde beschlossen, die Vielfalt zu reduzieren und den Südhang als Wiese zu belassen – bis auf ein umgegrabenes Carré an der Stelle, wo sich einst der Gemüsegarten befand.
Schatz gehoben – Geheimnis gelüftet
Die «Maison Blanche» wurde nach allen Regeln der Kunst renoviert. Es wurden die Originalmaterialien eingesetzt oder zumindest fachgerecht imitiert. Anhand zahlreicher ursprünglicher Fragmente können Besucherinnen und Besucher den Unterschied zwischen Original, «Imitat» bzw. Rekonstruktion und neuzeitlicher Adaption nachvollziehen: so beim Fries im Antichambre, bei den blauen und cremefarbenen Fliesen oder an der unterschiedlichen Textur des originalen und des rekonstruierten Linoleums in Jeannerets Arbeitszimmer (Bilder 32, 33). Es wird – mit den Fliesen in Blau und Creme und in Schwarz-Weiss oder im Ultramarine von Pergola und Traufladenlinie, das nur für kurze Zeit gleichzeitig existierte – der Charakter des «work in progress» vorgeführt. Und dank der Restaurierung des Cheminées und des Sofas herrscht auch noch ein Hauch der einstigen Wohnatmosphäre.
Dennoch hat das Haus seine Geschichte eingebüsst, sein «Episoden-Gedächtnis». Das ist der Preis jeder Renovation, die in den «Urzustand» zurückversetzen will. Auch wenn diese eine Zeitperiode einfängt, muss sie manche Schicht – die rotbraune Jute, die spätere Tapete mit Streifenmuster und die noch spätere «Salubra» im kleinen Salon, die ockerfarbene und die helle Kolonnade im Obergeschoss – ausblenden.
Dass einem scheinen will, das Haus habe mehr Schätze geborgen, als es noch von Pflanzen «überwuchert», von Verputzen übertüncht, von Farbschichten überzogen, von Tapeten überkleistert und mit Bodenbelägen überdeckt war, liegt vielleicht gerade in der Flut von Referenzen, Relikten und «Ruinen».
Die Entschlüsselung des Geheimnisses um das Weiss ist vielleicht die symptomatischste Konsequenz: Sie verweist auf die veränderte Wahrnehmung und relativiert die Identität als «Maison Blanche».
À LA – O’LALA
Die neue Kantonsbibliothek in Liestal von Liechti Graf Zumsteg
Was hinter dem Schriftzug «À LA» steckt, gilt es ebenso zu entdecken wie die architektonische Hintergründigkeit der neuen Kantonsbibliothek in Liestal von Liechti Graf Zumsteg, die eines «Chapeau!» würdig ist.
Während 25 Jahren war das Kulturhaus «Palazzo» – eine Wiederbelebung des ehemaligen Postgebäudes, dessen repräsentative Qualitäten aus dem 19. Jahrhundert stammen – die einzige nennenswerte Initiative, um das Bahnhofgebiet auch dann zu beleben, wenn die Pendlerströme versiegt sind – abgesehen von einigen kosmetischen Eingriffen am Bahnhof.
Nun haben die Liestaler mit der neuen Kantonsbibliothek einen weiteren Baustein gesetzt, der als Magnet wirken soll. Gleichzeitig wurde einem Bau die Ehre erwiesen, der während Jahren ein kümmerliches Dasein fristete: das ehemalige Weinlagerhaus der Firma Roth & Cie. Das 1924 errichtete Gebäude diente – seit es seinem ursprünglichen Zweck entzogen war – als Lagerstätte für das Reservemobiliar der kantonalen Verwaltung, als Depot des Kantonsmuseums und der Denkmalpflege, als Lager für archäologische Funde, für Konkursakten, Gipsmodelle der Schulzahnpflege. Es beherbergte Einrichtungsgegenstände für Notwohnungen, Magazine des Staatsarchivs und der Bibliothek.
1999 gewannen Liechti Graf Zumsteg den öffentlichen Wettbewerb für den Umbau des Weinlagers zum neuen Domizil der Kantonsbibliothek. Im August 2003 wurde mit dem Bau begonnen, im Mai dieses Jahres nun die Bibliothek eröffnet.
«À la»: Der Schriftzug, der das Dach ziert, ist Programm. Er verweist auf Marcel Prousts Werk «A la recherche du temps perdu», das Gedächtnis thematisiert, mithin Geschichte reflektiert, individuelle und kollektive, das Wissen der Bücher, das Verhältnis der Lesenden zu den Erzählern, ihre Geschichte(n)... Zur vergeistigten, chiffrierten Allusion gesellt sich die unmittelbare Anspielung der Leseratte und des Bücherwurms, die sich auf dem Dach des Portikus ein Stelldichein geben (Titelbild). Die in Aluminium gegossenen Skulpturen richten sich an das junge Publikum.
«hut» und «Hut»
Stefan Banz, der Künstler, der die Skulpturen und die Grafik des «À LA RECHERCHE» geschaffen hat, trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er schreibt: «Die Bibliothek ist die Obhut der vergangenen Zeit, ist der Ort, wo man die vielfältige Geschichte wieder entdecken und wieder zurückholen kann.» Die Architekten haben dem Schriftgut eine Ob-hut geschaffen, und dies mit einer Zeichenhaftigkeit, welche die «NZZ» bewog, den Bau mit der CI-Architektur der Imbisskette «Pizza-Hut» zu assoziieren, die sich inhaltlich wohl mit «hut» (Hütte), formal aber mit «hat» (Hut) identifiziert. Die Analogie ist keineswegs abwegig. Die Dachform erinnert an einen Hut, der als Obdach über die geistige Nahrung gestülpt ist – die allerdings kaum mit Junk-Food in Verbindung gebracht werden kann. Und doch: Der elektronische Ausleihverkehr macht die Bibliothek auch zur Selbstbedienungs-Gaststätte.
Der «Chapeau» gilt aber nicht nur den potenziellen Nutzern der Bibliothek, sondern wirkt auch als einladende Geste bei der Einfahrt mit dem Zug in den Bahnhof. Die Zeichenhaftigkeit prägt sich ein. Sie irritiert aber auch. Denn sie treibt ein Spiel, das nicht nur die Gedanken über «hut», «hat» und Obhut anregt.
Geköpftes Ei
Der Clou des Eingriffs von Liechti Graf Zumsteg ist, dass die Architekten nicht versucht haben, das origi-nale Erscheinungsbild zu bewahren, sondern es einer Transformation unterzogen, die durchaus einen Wiedererkennungseffekt generiert, aber auch verstört. Sie regt das Nachdenken über den Wandel an, sowohl generell stilgeschichtlich als auch spezifisch auf diesen Bau bezogen. So verweist die markante «Laterne», die den Bau bekrönt, auf die Sakralarchitektur – ein Musentempel will die Bibliothek ja auch sein. Dass die Beschreibung der Architekten – sie hätten das Dach «wie ein Ei geköpft» – an die Anekdote um Brunelleschi erinnert, der die Konstruktion der Kuppel von Santa Maria del Fiore in Florenz mit einem Ei illustriert haben soll, das er auf den Kopf schlug, ist ein Aperçu, das durchaus ins Spiel der Verfremdung passt. Die Architekten persiflieren Bestehendes, Bekanntes, um etwas Neues zu kreieren.
Das beginnt beim Dach bzw. der Fassade. Haben die Architekten nun das Dach in die Vertikale gekippt oder den Bau so mit Ziegeln eingekleidet, dass das Dach als fünfte Fassade figuriert? Ist es ein Kleid, dessen Saum auf dem Portikus aufliegt, oder eben ein aufgestülpter Hut? Und dann sind da noch die französischen Grate, die sich scharfkantig ohne Abschluss gegen den Himmel abheben und erscheinen, als würde das Dach hier nicht wirklich enden – etwas Unfertiges.
Grenzen verwischt
Aber auch bei der Wahl der Materialien bzw. ihrer Verarbeitung treiben die Architekten ein – wohl kalkuliertes – Verwirrspiel. So verkleiden sie den unteren Teil des Daches bzw. eben den oberen Teil der Fassade mit Biberschwanzziegeln – eine Referenz an den ursprünglichen Bau, der im oberen Bereich mit Schindeln verkleidet war, und an traditionelles Handwerk. Die noch makellosen Oberflächen der Ziegel aber lassen an Kunststoff denken. Ähnliches gilt für die körperhaft hervortretenden Fenster, deren tiefe Laibungen mit Kupfer, das bereits nach kürzester Zeit Patina ansetzte, gefasst sind. Sie verweisen auf die ehemaligen Lukarnen. Die strukturellen Metallteile der Laterne mit einem Kupferton einzufärben ist Teil der Strategie, die Grenzen zwischen Alt und Neu zu verwischen, ebenso die verleimten Brettschichtholzträger und -stützen, auf denen die Laterne lagert, mit einem Ton zu beizen, der dem des ursprünglichen Holzes nahe kommt.
Die Eingriffe provozieren die Fragen «Was ist neu? Was ist original?», die sich nur mit einem Blick auf ein Bild entscheiden lassen, das den Bau vor der Intervention zeigt. So erweist sich, dass Liechti Graf Zumsteg die Dreigliederung von Sockel, Mittelzone und Dach erhalten, aber transformiert haben zu Sockel mit Portikus, Dach und Laterne.
Der mit Holzschindeln verkleidete Holzständerbau der Mittelzone wurde mit den Biberschwanzziegeln gleichsam zum Dach geschlagen. Der Sockel wurde aufgebrochen, zum Portikus geweitet und mit Schaufensterverglasung versehen, die den Blick ins Innere auf die Tische des Cafés freigibt und die Bibliothek als öffentlichen Bau kennzeichnet.
Dann gibt es aber auch verstecktere Anspielungen. So «entspricht» die Zugangsrampe der ehemaligen Verladerampe, und die repräsentative Geste des Portikus, der die dahinter liegende grosszügige Verglasung von Foyer und Cafeteria inszeniert, setzt auf der Höhe der ehemals verputzten Sockelzone an.
Auch der Anbau auf der linken und der Zwischenbau auf der rechten Seite wurden in das neue Gebäude «integ-riert». Nicht im wörtlichen Sinn. Sie wurden abgebrochen, neu errichtet und einerseits mit dem Portikus, andererseits mit dem Baukörper selbst verschmolzen. Auch hier weichen die Architekten vom Dogma der Sichtbarmachung der Grenze zwischen Alt und Neu ab. Die beiden Annexe und der Hauptbau sind einheitlich grau verputzt. Von der nördlichen Ecke aus aber lassen sich Alt und Neu unterscheiden: Die rückwärtigen Fens-ter haben die tiefen Laibungen des ursprünglichen Baus, die Öffnungen der seitlichen Erweiterung hingegen sind standardmässig in die Wand eingelassen. Das Raster mit einem Fenster pro Stützenintervall haben die Architekten ebenfalls übernommen bzw. ergänzt.
«Körperwelt»
Im Innern dominiert hingegen der Gegensatz zwischen Alt und Neu, der kontrastreicher nicht inszeniert sein könnte. Auf sechs Geschossen – wovon zwei unterirdisch angelegt – bietet das Gebäude knapp 4000 m² Fläche.
Die markanten Holzstützen und -balken des Originals bilden das Skelett, das erscheint, als wäre es eben erst freigelegt worden, um eine Art von «Körperwelt» zu veranschaulichen. Eine Innenschau, die etwas Voyeuristisches hat, weil die Eingeweide – Böden und Einbauten – förmlich zur Schau gestellt sind.
Auch im Untergeschoss haben die Architekten weitgehend auf die bestehende Statik der Betonpfeiler und Unterzüge bauen können. Einen verfremdenden Effekt erzielten sie, indem sie ihnen einen silbergrauen, mit Glimmer versehenen Anstrich verpassten, der ausserdem die Beleuchtung unterstützt. Wie Möbelstücke sind die «giftig» gelb-grünen Einbauten behandelt und von der Decke jeweils durch einen Lichtschlitz abgesetzt.
«Giftschrank»
Kaum kontrastierender hätten die Architekten Böden und Einbauten auch in den Obergeschossen gestalten können. Gelb-grüner Kunstharz-Fliessbelag und die im selben Farbton gehaltenen Bücherregale, Theken, Computer-Korpusse, Vitrinen-Schränke verschmelzen beinahe miteinander. Die Künstlichkeit scheint auf die Spitze getrieben und lässt das Organische der Stützen noch viel prägnanter erscheinen. Dem Organischen des Holzes «entsprechen» die organischen Formen der Möbel – Sessel von Ron Arad, Tischchen von Eero Saarinen –, die wie weisse Kunststoffblumen eingestreut sind.
Dann aber schiebt sich auch der Lagercharakter in den Vordergrund, etwa bei den Leuchtstoffröhren, die in serieller, aber versetzter Reihung positioniert sind. Abgeblendet werden sie durch die Balken, ihr Licht diffus gestreut aber durch die Deckenverkleidung aus einem fein gesponnenen Chromstahlgeflecht. Deutlicher noch und symbolisch überhöhter ist die Anspielung auf das einstige Weinlagerhaus, die auf den Holzbalken in roter Schablonenschrift prangt: «Margaux», «Petrus», «L’Hermitage», «Latour». Sie wirken, als wären es Überbleibsel, die man zu entfernen vergessen hat. Doch die edlen Weine, die genannt sind, waren hier nie gelagert: wieder ein Schnippchen geschlagen und kundgetan, wes Geist die Bibliothek ist.
Wieder mit einem historischen Bild spielen die Architekten beim Treppenhaus, dessen leicht grünlich gefärbte Gläser eine vielfache Brechung und Spiegelung erzeugen, die an Eschersche Kompositionen gemahnen. Verstärkt wird der Effekt durch das Wasser, das den Boden des Lichthofs im Untergeschoss bedeckt. Er ist nach dem Entwurf von Stefan Banz mosaikartig mit gebrochenen Ziegeln ausgelegt, in die weiss gefärbte Stücke gestreut sind, die den zweiten Teil des Zitats auf dem Dach beschreiben: «RECHERCHE». Dass der Hof nicht begehbar ist, macht ihn zu einer Art verbotenem Terrain, als berge er das Geheimnis des Wissens – wie der «Giftschrank», der einst die verbotenen Bücher barg.
Organisch komponierte Form
Die Areuse-Brücke von Geninasca & Delefortrie
Brückenbau hat in der Schweiz eine grosse Tradition. Vordenker wie Robert Maillart und Christian Menn leisteten mit ihren konstruktiv innovativen und formal spektakulären Werken eine wichtige Pionierarbeit. Spätestens mit der 1996 vollendeten Brücke über die Via Mala ist der Churer Ingenieur Jürg Conzett in ihre Fussstapfen getreten. Nun haben in der Westschweiz Laurent Geninasca und Bernard Delefortrie, die in Neuenburg mit dem Schulhaus Pierrabot und dem Spital Pourtalès bereits viel Beachtung fanden, in der Areuse-Schlucht, einem Mekka des Wandertourismus, eine Brücke gebaut, die konstruktiv bestechend einfache und formal spannende Ingenieurbaukunst verbindet.
Die unweit von Boudry als Stahl-Holz-Konstruktion errichtete Passerelle überspannt die Distanz von 27,5 Metern stützenlos. Statisch ist die Brücke wie eine Röhre konzipiert. Die organisch komponierte S-Form absorbiert die Spannungen und fügt sich harmonisch in die Landschaft des zwischen Felsen sich windenden Flusses ein. Die horizontalen Holzlamellen spenden Schatten und erzeugen im Innern der Passerelle tanzende Lichtreflexe.
Architektonische Alliterationen
Ein Gespräch mit Annette Gigon und Mike Guyer
Nach dem Archäologischen Museumspark Kalkriese in Norddeutschland konnten Annette Gigon und Mike Guyer vor wenigen Tagen mit der «Pflegi»-Wohnanlage in Zürich ein weiteres Werk vollenden. Mit dem Zürcher Architektenduo, dem soeben der Fritz-Schumacher-Preis zugesprochen wurde, sprach Rahel Hartmann.
Sie haben vor einem Jahr den Wettbewerb für die Erweiterung des Kunstmuseums Basel gegen Herzog & de Meuron gewonnen. Das Projekt soll nun nicht gebaut werden. Sind Sie enttäuscht?
Gigon: Es wurde entschieden, auf den Erweiterungsbau zu verzichten und lediglich die bestehenden Gebäude zu renovieren. Dazu wäre kein Wettbewerb mit internationaler Jury nötig gewesen. Wir sind daher schon enttäuscht.
Dann sind Ihnen auch die Gründe, die zu diesem Entscheid geführt haben, nicht bekannt?
Guyer: Nun, wir können nur versuchen, uns einen Reim darauf zu machen.
Man hört, es gibt eine starke Fraktion, die einen Bau von Herzog & de Meuron will.
Guyer: Das mag sein. Aber die spektakuläre Geste von Herzog & de Meuron hätte doppelt so viel gekostet, als vorgegeben war. Zurzeit wird ja argumentiert, man habe noch nicht einmal die finanziellen Mittel für unser kostengünstiges Projekt.
Ihr Projekt ging auf den Kontext ein. Sie entwarfen eine der Hofsituation angemessene Pavillonarchitektur. War diese zu wenig spektakulär?
Gigon: Den Neubau als «Pavillon» mit filigraner Aussenhaut zu projektieren, entsprang keineswegs falscher Bescheidenheit. Wir wollten mit dem vergleichsweise kleinen Neubauvolumen nicht gegen die Massen von Kunstmuseum und Laurenzbau (ehemalige Nationalbank) ankämpfen, sondern dem lauschigen Rückraum des Laurenzbaus die Reverenz erweisen. Mehrere Schichten aus glänzenden Metallgittern hätten den Betonkern sowohl verschleiert als auch durchscheinen lassen. Ob das Gebäude eine zurückhaltende oder spektakuläre Wirkung gehabt hätte, wäre davon abhängig gewesen, ob die Fassade bewachsen lassen worden wäre oder nicht.
Die Idee des «All over»
Sie haben die Idee des «All over» umzusetzen versucht. Das Betondach ist mit metallischen Gittern abgedeckt und wird so zur fünften Fassade.
Gigon: Ja, aber statt von «All over» könnte man auch von einem gemeinsamen Nenner sprechen oder von einer Verwandtschaft zwischen verschiedenen Teilen - vergleichbar mit der Alliteration oder dem Reim in der Dichtung. Wir haben den Begriff «All over» verwendet, um unser Bestreben zu benennen, die vielen Bestandteile eines Bauwerks in einen konzeptionellen, aber auch optischen Zusammenhang zu setzen.
Guyer: Ein gutes Beispiel scheint mir das unlängst fertig gestellte Archäologische Museum im norddeutschen Kalkriese zu sein. Hier ist Stahl der gemeinsame Nenner fast aller Interventionen. Rostende Stahlplatten sind als Wegbedeckung eingesetzt, Stahllarsen (Spundwände) bilden die Begrenzung der tiefer gelegenen, nachgebauten Landschaft. Die Tragkonstruktion des Museums mit Aussichtsturm sowie die drei Pavillons im Park bestehen aus gestrichenen Stahlprofilen, die wiederum mit rostenden Stahlplatten verkleidet sind. Die Innenauskleidung des Museums schliesslich besteht aus grauen Stahlplatten.
Warum wählten Sie für die Stätte zum Gedenken an die Varusschlacht, in der sich Germanen und Römer im Teutoburger Wald bekämpften, Stahl? Wären Holz oder Stein nicht angemessener gewesen?
Gigon: Es sollte nicht der Eindruck erweckt werden, unsere Eingriffe seien Rekonstruktionen germanischer oder römischer Bauten - solche gab es dort nämlich nicht; Kalkriese war nur ein Schlachtfeld. Das moderne Baumaterial Stahl kennzeichnet unsere Interventionen im Gelände. Ausserdem erlaubte Stahl eine Skelettbauweise und damit minimale Eingriffe im fundträchtigen Boden. Weiter schien uns Stahl, dessen Alterungsprozess sichtbar wird, geeignet, um Vergangenheit oder besser «Vergänglichkeit» auszudrücken. Schliesslich waren hier die meisten Fundstücke metallischer Natur: vom Schuhnagel über Schleuderbleie bis zu den Münzen.
Die Bedeutung der Farbe
Beim Kirchner-Museum war Glas das dominierende Material. Es erscheint in verschiedenen «Aggregatszuständen» - von Quarz und Siliciumcarbid, das in den Beton gemischt wurde, über Fensterglas bis zu den Glasscherben, die das Dach beschweren. Ähnlich verfuhren Sie in der soeben vollendeten «Pflegi»-Wohnanlage in Zürich.
Gigon: Bei der «Pflegi» ist Beton das vorherrschende Konstruktionsmaterial. Selbst die Fussböden bestehen aus Beton. Sie sind in grosse Felder geteilt und bilden gewissermassen riesige «Beton-Megalithen». Bestandteile von Beton - Armierungseisen und Kies - finden sich in der Umgebungsgestaltung wieder in Form von Kiesflächen und «Töpfen» aus Armierungseisen.
Neben dem Material bilden seit dem Davoser Sportzentrum in ihrem Werk Farben ein wichtiges Gestaltungselement. Dabei arbeiten Sie immer wieder mit Künstlern zusammen. Bei der «Pflegi» und dem Universitätshörsaal, der demnächst fertiggestellt wird, war das Adrian Schiess. Soll die Farbe ebenfalls vereinheitlichend wirken?
Guyer: Während die drei farbig gestrichenen Fassaden beim «Pflegi»-Areal die massive, reliefartige Wirkung des Betons kontrastieren und die Baukörper eher individualisieren, sind die unterschiedlichen Elemente beim neuen unterirdischen Hörsaal der Uni Zürich über das Thema der Farbe miteinander verknüpft: Die Akustikpaneele des Hörsaals sind farbig gestrichen, die Aussenwände bestehen aus schichtweise gegossenem, eingefärbtem Beton, und das Wasserbassin, das über dem abgesenkten Hörsaal zu liegen kommt, ist mit roter Farbe gestrichen. Die Wahl der Farbtöne ist auf die Farben des Universitätsgebäudes von Karl Moser abgestimmt und verhehlt dennoch nicht den neuen Eingriff.
Ihre Entwicklung geht also dahin, den «All over»-Charakter weiter zu fassen, von der deutlichen Lesbarkeit beim Kirchner-Museum zu heterogeneren Materialanwendungen und Konzepten?
Guyer: Im holländischen Almere planen wir zurzeit einen Wohnbau, dessen Tragkonstruktion aus Beton besteht. Weil der Bau aber ein objekthafter Solitär ist, erschien uns ein gläserner Charakter richtiger. Deshalb wird die äussere Erscheinung mehrheitlich aus Glas sein. Der vierzehnstöckige, vieleckig sich nach oben verbreiternde Baukörper wird voraussichtlich eine umlaufende Balkonschicht aus farbigen Gläsern haben. Das Farbkonzept stammt wiederum von Schiess.
Gigon: Das Kirchner-Museum bestand aber auch schon aus Betonkern und gläserner Fassade - und ist doch ganz anders. Ich würde daher nicht von einer Entwicklung im Sinne eines Fortschreitens sprechen, eher von Adaptionen an verschiedene Aufgabenstellungen an unterschiedlichen Orten. So reagierte das Kirchner-Museum auf das alpine Klima, die grossartige Landschaft sowie die städtebauliche Struktur von Davos. Das Museum Liner antwortete mit seiner Form und der matt metallischen Gebäudehülle auf die Bedingungen des Appenzeller Standorts. Die Museumserweiterung in Winterthur hingegen ist mit ihrer industriellen Bauweise nicht zuletzt auf das schmale Budget zurückzuführen, während das neue Museum Albers/Honegger in Mouans-Sartoux zugeschnitten ist auf einen Sammler wie Honegger, der immer wieder betont, dass er seine Kunst in wohnartiger Umgebung sieht und nicht in hehren Museumsräumen. Er und Sybil Albers gingen so weit, die klassischen Belichtungsstandards von Museen zu verwerfen und direktes Sonnenlicht zuzulassen. Das kleine Museum hat darum ganz simpel nur seitliche Fenster als Lichtquellen - mit Sonnenstoren allerdings.
Keine lineare Entwicklung
Daran wird aber eine Entwicklung ablesbar?
Gigon: Aber es ist keine lineare, sondern eine sternförmige Entwicklung. Wir werden wohl immer versuchen, ein Gebäude als eine Einheit zu konstruieren - sei es bezüglich seiner Materialität, seiner Struktur oder Farbe. Interessant ist aber, dass bei diesem Ansatz die Unterschiedlichkeit der Bauaufgaben schliesslich zu einer Vielfalt von architektonischen Lösungen führt.
Ein Symbol für New York
Sechs Teams planen für Ground Zero
Mitte Juli präsentierte die Lower Manhattan Development Corporation (LMDC), die im Auftrag des Gouverneurs George E. Pataki die Planung auf Ground Zero vorantreibt, sechs Projekte für das Gebiet des ehemaligen World Trade Center, die bei der Bevölkerung auf wenig Begeisterung stiessen. Die LMDC sah sich genötigt, das Verfahren zu öffnen und international Architekten einzuladen. Nun hat sie aus 27 Bewerbern sechs Architekten bzw. Architektenteams ausgewählt: Daniel Libeskind, Norman Foster, eine New Yorker Gruppe (Richard Meier, Peter Eisenman, Charles Gwathmey, Steven Holl), ein sich United Architects nennendes Team (Foreign Office Architects, Imaginary Forces, UN Studio), eine Arbeitsgemeinschaft unter der Federführung von Skidmore, Owings & Merill (u. a. mit Michael Maltzan und SANAA) sowie ein Team mit Shigeru Ban, Frederic Schwartz, Ken Smith und Rafael Vinoly. Bis Ende November sollen sie konkrete Projekte ausarbeiten, die ein Memorial, Detailhandelsgeschäfte, Einrichtungen für den öffentlichen Verkehr und Büroraum enthalten. Ausserdem soll die Bebauung das Potenzial haben, zu einem New Yorker Symbol zu werden. Die LMDC will aus den Arbeiten einzelne Komponenten oder auch integrale Entwürfe selektieren, um die Zahl der Projekte bis Ende Jahr auf drei zu reduzieren.
Unvollendetes Triptychon
Ein neobarockes Hauptwerk von Luigi Moretti
In Italien gilt Luigi Moretti (1907-73) als „Borromini des 20. Jahrhunderts“. Doch die Quellen, aus denen der Römer Architekt schöpfte, sind vielfältiger. Eines der überzeugendsten Beispiele seiner Recherche architecturale, die Villa Saracena in Santa Marinella nördlich von Rom, soll nun fachmännisch renoviert werden.
Sie ist zur Pilgerstätte von italienischen Architekturstudenten geworden, die eine Zugstunde nördlich von Rom gelegene Villa Saracena in Santa Marinella. Die 1957 vollendete «Saracena» war die erste von drei Villen, die Luigi Moretti (1907-73) in Santa Marinella baute. Der Journalist Francesco Malgeri und Caterina di Geronimo waren die Besitzer zweier benachbarter Grundstücke zwischen der Küste und der Via Aurelia antica. In einer Bucht der weit ins Meer ausgreifenden Landzunge gelegen, thronen die Häuser auf einem Felsvorsprung. Die Lage vereint idyllische Abgeschiedenheit mit einem prächtigen Ausblick. Die «Saracena» steht zwischen der Casa Califfa (1967), die als Dépendance der «Saracena» geplant war, und der Casa Moresca (1967-81), die Moretti als sein Refugium entwarf. Ihre Vollendung erlebte der Architekt indes nicht mehr.
Idylle und Abgeschiedenheit
Die drei Villen geben sich zur Strasse hin verschlossen. Im Fall der «Saracena» ist es ein Hof, der, umfasst von einer mannshohen geschwungenen Mauer aus zwei Halbkreisen mit unterschiedlichen Radien, den Bau abschirmt. Vom Dach der «Saracena» gewinnt man den besten Eindruck dieses «unvollendeten Triptychons», wie es Moretti nannte: Linker Hand steht die «Califfa» mit ihrem charakteristischen Turm. Hier fällt das Licht durch horizontale, in den grobkörnigen Verputz geschnittene ornamentale Klappen ins Innere. Rechts erhebt sich die «Moresca», deren vorgestellter Wintergarten Morettis Entwurf verdirbt und gleichzeitig die Wirkung des Unvollendeten verstärkt. Die drei Villen heben sich deutlich von Morettis Vorkriegsbauten ab. Obwohl sich damals bereits barocke Elemente abzeichneten, wurzelten sie dennoch im Razionalismo, der italienischen Form des Neuen Bauens. In ihrer Expressivität, die sowohl formal als auch in den ornamentierten Oberflächen zum Tragen kommt, stehen die Villen von Santa Marinella den sakralen Projekten Morettis am nächsten.
Die Inspiration von Ronchamp bezüglich der plastischen Oberflächenbehandlung, der schwebenden Decken und des diffusen Lichts verhehlte Moretti nicht. So tritt die kreisförmige, ummauerte Terrasse, die über den Hauseingang auskragt, als schweres Volumen in Erscheinung. Gleichzeitig balanciert sie aber in einem labilen Gleichgewicht, weil sie wegen der verglasten Lichtschlitze über den Holztüren und der Mauer des Vorgartens auf nur einer Wand in der Mitte aufzuliegen scheint. Ähnlich verfuhr Moretti im Innern. Er schob Lichtbänder zwischen Decken und Wände ein, verlieh so den Dächern einen schwebenden Eindruck und erzielte eine zwischen Licht und Schatten changierende Atmosphäre. Die Mauerflächen brach er ebenfalls auf - etwa beim zweigeschossigen Schlaftrakt. Zwischen der seitlichen und der frontalen Wand fügte er je eine senkrechte verglaste Kerbe ein, die den Blick auf die Decken der beiden Geschosse beziehungsweise auf das Treppenhaus freigibt.
Antike und arabische Einflüsse
Nicht nur den Namen nach, sondern auch formal erwies Moretti mit den drei Villen der arabischen Kultur die Reverenz. Die Dachlandschaft der Casa Saracena evoziert mit einem Türmchen, das an ein Minarett en miniature erinnert, das Bild einer Medina. Verschlüsselter ist die typologische Herkunft. Das Haus erhebt sich über einem L-förmigen Grundriss, in dessen Winkel sich ein Garten befindet. Es besteht aus einem eingeschossigen, zum Meer hin orientierten Wohnteil mit Galerie, Esszimmer und Wohnnische und einem zweistöckigen kompakteren Schlaftrakt. Scharnier ist das trapezförmige Atrium, das Moretti als «punto focale», als Kern, beschrieb, aus dem sich die formale Kraft des Raums entwickle. Den Eingang von der Strasse in den Vorgarten konzipierte Moretti in den ursprünglichen Skizzen wie einen engen, «fauci» genannten Schlund zwischen zwei Mauern. Die Antike klang auch in den Bezeichnungen der drei kreisrunden Räume an, die Moretti auf der rückwärtigen Seite des Wohntrakts vorsah: Tepidarium, Caldarium und Fontanina. Diese fielen zwar in den endgültigen Plänen weg. Dennoch folgte die Anordnung der Räume dem Kanon eines pompejanischen Hauses mit Fauces (Eingang), Atrium, Andron (Durchgang) und Peristyl.
Renzo Cartonis Photographien der Casa Saracena, die unter der Aufsicht Morettis entstanden, boten ebenfalls das Bild einer archaischen Architektur, die immun ist gegen die Zeitläufe. Sie fokussierten aber auch die korrosive Materie - den grobkörnigen, dick aufgetragenen weissen Verputz. Moretti bezeichnete die Oberfläche als Kontaktpunkt zwischen Form und Raum. Das Ornament war für ihn nicht historisierendes Beiwerk, sondern Bereicherung und Akzentuierung des konstruktiven Systems.
Die Korrosion im wörtlichen Sinn hat nun den Villen in Santa Marinella sichtlich zugesetzt. Im Gegensatz zu anderen Werken von Moretti, etwa der Casa delle Armi und der Casa Ballila in Rom, die starke Eingriffe erleiden mussten, wurden an der Casa Saracena nur notdürftige Reparaturen vorgenommen, welche die Bausubstanz kaum angriffen und schon gar nicht Struktur oder Grundriss veränderten. Dennoch tut eine sorgfältige Renovation der «Saracena» not. Eine nur äusserliche, wie sie an der Casa Califfa ausgeführt wurde, vermöchte kaum das zerfressene Holz der Fensterrahmen, den Rost mancher Stahlprofile, den teilweise bröckelnden Verputz und die sichtbaren Armierungen zu kaschieren. Nun aber haben sich die Besitzer bereit erklärt, nach dem Ferragosto mit den Renovationsarbeiten zu beginnen. Damit besteht die Chance, ein Hauptwerk der italienischen Villenarchitektur der fünfziger Jahre unverändert der Nachwelt zu erhalten.
Historisches Kapital
Die Architektur der Expo-Städte
Murten zwischen Denkmalschutz und neuer Architektur
Zwei gegenläufigen Entwicklungen verdankt Murten seine Attraktivität: dem Erhalt der Ringmauern und dem Bau der Autobahn. So ist das Städtchen gut mit den Zentren verbunden und bietet zugleich ruhiges und attraktives Wohnen. Eine Bauwut hat die Expo in Murten nicht ausgelöst, aber gewisse Projekte beschleunigt. Im Vorfeld der Expo hatten aber nicht Neubauten Priorität, sondern die 1999 abgeschlossene Restaurierung der Wehranlagen. Die im Lauf von mehreren Jahrhunderten errichtete, durch Kriege zerstörte und wiederaufgebaute Ringmauer blieb trotz Eingriffen im 19. Jahrhundert, denen das Ryftor und das Obere Tor zum Opfer fielen, erhalten. Sie bedarf aber des kontinuierlichen Unterhalts. So galt es bei der neuesten Renovation eine in den zwanziger Jahren mit Beton ausgeführte Sanierung zu korrigieren.
Immer wieder war es die prekäre Finanzlage der Stadt, welche die Mauern vor dem Abbruch bewahrte. So auch 1853, als sie im Zusammenhang mit dem Auftrag einer Quartierplanung in St. Katharinen zur Disposition gestellt wurden. Zu utopisch mutete dann aber den Stadtbehörden der Vorschlag an, unter Verzicht auf die Mauern die Stadt um mehr als das Doppelte zu vergrössern. Von den hochtrabenden Plänen blieben nur vier Arbeiterhäuser übrig, die Hans Rychner für eine Baugesellschaft errichtete. Die Häuser gelten im Kanton Freiburg als das frühste Beispiel für günstigen Wohnungsbau, die auf Empfehlungen für Sozialbauten beruhten, wie sie an der Londoner Weltausstellung präsentiert worden waren.
Die Idylle des Städtchens, in das während der Expo der Garten der Gewalt einbricht, täuscht darüber hinweg, dass die Hauptgasse bis zum Bau der Umfahrungsstrasse im Jahre 1963 den gesamten Verkehr von Bern nach Lausanne schlucken musste. In den achtziger Jahren beauftragte die Stadt das Büro Metron, ein Konzept auszuarbeiten, um den Verkehr in der Altstadt zu reduzieren. Daraus resultierten ein Einbahnsystem sowie die Umgestaltung der Bernstrasse. Ein gepflästerter Mittelstreifen und hohe Kandelaber verleihen ihr heute einen urbanen Charakter. Nun soll der Platz vor dem Berntor auf der Basis eines Wettbewerbs neu gestaltet werden.
Das Terrain des ummauerten, alten Friedhofes, wo die Expo agricole ihr Stahlgerüst aufgebaut hat, könnte auch in Zukunft als Marktplatz dienen. Bedauerlich ist nur, dass die Bauern sich das 3,5-Millionen-Projekt Jean Nouvels nicht leisten wollten. Da das Gelände ausserhalb des für die Expo ausgeschiedenen Plan d'affectation cantonal liegt, hätte der Bau über die Expo hinaus fortdauern können.
Alt und Neu geht in der Stadt kaum auf Konfrontation. Um einen Zusammenklang mittelalterlicher Bauten mit zeitgenössischer Architektur aufzuspüren, muss man die Stadtmauern hinter sich lassen. In unmittelbarer Nachbarschaft und unter funktionaler Integration des gotischen Schlosses Löwenberg errichteten Fritz Haller, Alfons Barth und Hans Zaugg zwischen 1978 und 1982 das Schulungszentrum der SBB. Der Komplex, bestehend aus kubisch angelegten Schulbauten und Unterkünften, die in gedrungenen Türmen untergebracht sind, fügt sich dank der Absenkung des Terrains und dem Grünton der Fassadenelemente trotz der prägnanten Haller-Geometrie in die Landschaft ein. Gegenwärtig renovieren Bauart-Architekten die Bauten.
Bezüglich zeitgenössischer Bauten wird man im Quartier Prehl fündig, wo vor einem Jahr die gleichnamige zweisprachige Schul- und Sportanlage eröffnet wurde - ein Gemeinschaftswerk von 16 Gemeinden der Region Murten. Das Projekt ging aus einem Wettbewerb hervor, den der Thuner Pierre Baeriswyl unter anderem gegen Atelier 5 und Rolf Mühlethaler für sich entschied. Dem äusseren Eindruck, der durch die fabrikartigen Sheddächer geprägt wird, entspricht im Innern der symmetrischen Anlage eine klare, flexible Organisation, basierend auf einem regelmässigen Stützraster und nichttragenden Wandelementen, die variierende Raumgrössen ermöglichen. Kern der Anlage ist eine zentrale Halle, um die sich vier Schultrakte gruppieren, die wiederum je einen kleinen, sparsam begrünten Lichthof umschliessen. Dem Schulhaus angegliedert sind eine Dreifachturnhalle und Sportplätze. Relativiert wird die Nüchternheit der Anlage durch den japanisierend gestalteten Mühlebach, der wie eine Ader das Gelände durchzieht.
Vom Wohnhochhaus zum Glasturm
Die Architektur der Expo-Städte
Neue Bauten und Projekte in Neuenburg
Das Bundesamt für Statistik der Bauart-Architekten und Bottas Centre Dürrenmatt sind Bauten, die auch in der Deutschschweiz gewürdigt wurden. Daneben besitzt Neuenburg seit mehr als einem Jahr auch ein neues, funktionales Theater, das hierzulande allerdings wegen des Trubels um den Zürcher Schiffbau kaum beachtet wurde.
Als in den neunziger Jahren allenthalben Industriebrachen zur Umnutzung freigegeben wurden, standen auch in der Romandie ausgediente Fabrikareale zur Disposition: in Lausanne das Vallée du Flon, in Genf die Charmilles und in Neuenburg das 38 Hektaren umfassende Gelände der Schokoladefabrik Suchard, die zwischen 1988 und 1990 nach Bern dislozierte. Der Kanton, der das Gebiet im Quartier Serrières, das von der Rue de Tivoli durchschnitten wird, gern erworben hätte, musste passen, nachdem ihn die private Artufabe SA überboten und gegen 50 Millionen Franken bezahlt hatte. Das Projekt, das Rodolphe Lüscher im Direktauftrag entwickelte - die Umwandlung des Kakaosilos in einen Bürobau mit vorgehängter Glasfassade und der Bau von drei 40 Meter hohen Türmen - blieb Makulatur.
Mut zum Grossen
Mit Türmen tat sich die Stadt schon früher schwer. 1956 galten zwei Wohnhochhausprojekte als «Miniaturreproduktionen einer dieser aufgestellten Streichholzschachteln (. . .) nach dem Vorbild des Uno-Gebäudes in New York», und auch der 50 Meter hohe Turm, welcher dem Ende der neunziger Jahre errichteten Bundesamt für Statistik (BfS) vorangestellt werden sollte, stiess zunächst auf Widerstand. Dieser konnte indes überwunden werden. Der Glasturm der Bauart- Architekten steht vor der Vollendung.
Das langgestreckte, geschwungene BfS-Gebäude der Berner Bauart-Architekten - sie sind auch die Urheber der Erweiterung des Naturhistorischen Museums - machte den Anfang der Aufwertung des Quartiers rund um den Bahnhof. Dieser wurde seinerseits ausgebaut und sein Vorplatz zu einer Place de la Gare umgestaltet, die den Namen auch verdient. Geninasca Delefortrie und Robert Monnier versahen den Taxistand auf der Westseite mit einem auf schlanken Stahlsäulen montierten Betondach. Ein Kreisel klärt die Verkehrssituation zwischen Place de la Gare und Espace de l'Europe, die ausserdem nach dem Konzept von Paysagestion und Deschamps mit zwei Baumreihen begrünt wurden.
Das BfS ist Teil des «Ecoparc», der nördlich und östlich des Bahnhofs auf industriellem Brachland entstehen soll und sowohl Wohnbauten als auch Geschäftskomplexe umfasst. Die Stadt hat das Gebiet neben Pierrabot, Serrières (mit den Bauten von Suchard) und Monruz, wo die Werke der Luxusuhrenmarke Bulgari stehen, als einen von vier «Poles stratégiques» zur Entwicklungszone erklärt. Ziel ist es, ökonomische Rentabilität, ökologisches Gleichgewicht und soziale Solidarität unter einen Hut zu bringen, was die Nachhaltigkeit des Projekts garantieren soll. Der Association Ecoparc, die im September 2000 von Stadt, Kanton, BfS, SBB und Bauart gegründet wurde, schwebt eine Art Technopark vor.
Obwohl hoch über dem Neuenburgersee angelegt, steht der Bahnhof mit der weiten Wasserfläche in enger Beziehung. Hatte sich Biel mit dem Bahndamm den Zugang zum See verbaut, war der Bahnhofbau 1859 in Neuenburg verbunden mit Landgewinn am See. Das Bahnhofgebiet war einst von einem Hügelzug, der Crêt Taconnet, begrenzt. Dieser wurde abgetragen und zum See verfrachtet. Abgesehen vom Delta, das der Seyon bildete, verdankt die Stadt ihre flachen Ufergebiete fast ausschliesslich diesen Aufschüttungen. Der Bach wurde 1843 rund einen halben Kilometer nach Westen verlegt. Doch seit 1993 ist er im Stadtbild wieder physisch präsent - nicht mehr nur im Strassennamen Rue du Seyon, die das Quartier L'Ecluse am Hang mit der Place Pury am See verbindet, sondern in einer Wasserrinne, die auf die Place Pury führt und eine symbolische Mündung in einem rechteckigen Becken in der Nähe des Belle-Epoque-Kioskes hat. Obwohl es einiger Phantasie bedarf, die künstliche Wasserrinne mit dem einstigen Bach zu assoziieren, trägt der urbanistische Kunstgriff zum Verständnis der Entwicklung der Stadt bei.
Ablesbare Stadtentwicklung
Die Etappen der Aufschüttungen lassen sich anhand der Strassen nachvollziehen. Bis ins 10. Jahrhundert reichte der See an die Ränder der Rue de l'Hôpital, im 17. Jahrhundert bis zum Faubourg du Lac auf der Nordseite des Jardin anglais, und in den folgenden anderthalb Jahrhunderten hatte er bis zur Avenue du Premier- Mars zu weichen. Zwischen 1850 und 1900 wurden die umfangreichsten Aufschüttungen vorgenommen, darunter jene Verfrachtungen von der Crêt Taconnet beim Bahnhof, welche die 500 Meter lange Beaux-Arts-Esplanade mit ihrem intakten Ensemble von Gründerzeithäusern schufen. 20 Hektaren Land musste der See für die im letzten Vierteljahrhundert entstandenen Jeunes Rives hergeben, auf denen heute die Expo residiert. Während Neuenburg das Palais de l'Equilibre der Expo bewahren möchte, soll über das Gelände des gegenwärtigen Fun Park im Jahre 2005 oder 2006 ein Wettbewerb für Neubauten der juristischen Fakultät ausgeschrieben werden.
Der Expo verdankt die Stadt die Fun'ambule genannte neue Standseilbahn zwischen Bahnhof und See. Hier, im Englischen Garten, war in den sechziger Jahren eine neue Spielstätte für Theateraufführungen geplant, die damals im Konzertsaal von 1766-69 südlich vom Rathaus gastierten. Doch das Projekt erwies sich als zu kostspielig. 1988 wurde erneut ein Wettbewerb veranstaltet, wieder mit dem Standort im Englischen Garten. Dem Siegerprojekt von Bétrix & Consolascio hätte die Rotonde weichen müssen. Das Volk schickte den Entwurf bachab. Vor sieben Jahren wagte die Stadt einen neuen Anlauf. Diesmal wählte sie als Gelände für das Théâtre du Passage einen Hinterhof zwischen Faubourg de l'Hôpital, Passage Maximilien-de-Meuron und Avenue de la Gare. Walter Hunziker sowie Anton und Chi Chain Herrmann-Chong entschieden die Ausmarchung für sich. Gefordert war ein Bau, der sich ebenso für Theaterproduktionen wie für Tanz und Oper eignet, was flexibler technischer Installationen und räumlicher Disposition bedurfte. So verfügt der grosse Saal mit 520 Plätzen über einen Orchestergraben, der kleine mit 150 lässt sich variabel bestuhlen, das Foyer mit Restaurant ist öffentlich zugänglich. Stolz verkündet Direktor Robert Bouvier, René Gonzalez, Leiter des Théâtre de Vidy, habe «sein» Haus neidvoll bestaunt. Anschliessend bedauert er jedoch, sein Budget sei indes so bescheiden, dass er die Säle seit der Eröffnung im Oktober 2000 immer wieder auch vermieten muss.
«Blechkiste» statt Monument
Hunziker und Herrmann-Chong entwarfen keinen Repräsentationsbau, sondern ein 25,5 Millionen Franken teures «Werkzeug» mit einer unprätentiösen Fassadenverkleidung aus profiliertem Zink-Titan-Blech. Sie spannten es zwischen zwei bestehende historische Bauten, deren eine sie als Eingang zum Foyer konzipierten und deren anderer sie administrative Funktionen - die Büros der Direktion, eine Wohnung für die Regisseure - zuwiesen. Die Altbauten bewahren ihre Eigenständigkeit, die einzige Anlehnung der «Blechkiste» ist das Blaugrau der Fassade, das mit dem Ton der Fensterläden korrespondiert. Räumlich aber stellten Hunziker und Herrmann-Chong die Verbindung einerseits physisch mit einem Beton- Glas-Kubus zwischen Verwaltungsbau und 25 Meter hohem Bühnenturm her, andererseits visuell mit der Verglasung des Foyers, das den Blick auf einen kleinen Park und einige Bauten aus dem 18. Jahrhundert freigibt.
Wird man des Theaters erst ansichtig, wenn man schon davor steht, lässt sich das BfS der schwarzen kubischen Aufbauten wegen auch vom See her ausmachen. Die im Mai 2001 eröffnete Unimail, die Universität für die naturwissenschaftlichen Fächer, zieht die Aufmerksamkeit mit einer gigantischen Kolonnade auf sich, zwischen die die Fassade des alten kantonalen Gefängnisses gespannt ist. Sie macht den Bau aus der Distanz zum Blickfang, ist aber aus der Nähe nicht wirklich verständlich. Die Säulen sind ausschliesslich Zierwerk, stehen in keiner Verbindung zur Fassade, von der sie leicht abgesetzt sind, und erschöpfen sich in der Funktion, ein gewölbtes Vordach aus Metall zu tragen. Gérard Corti, der mit Philippe Guiony und Eric Ryser 1985/86 den Wettbewerb mit «Fleurs du Mal» gewann, versteckte hinter der Repräsentationsfassade einen nüchternen Bau aus Beton und Glas, der aus zwei durch Höfe getrennten parallelen Riegeln besteht. Ebenfalls auf der Unimail soll ab Mitte 2003 nach Plänen des jungen Genfer Architekten Andrea Bassi eine Primarschule entstehen.
Auf halber Höhe zwischen See und Unimail liegt das von den Lokalmatadoren Robert Monnier, Geninasca Delafortrie und Pierre-Emmanuel Schmid konzipierte Spital Pourtalès. (Monnier und Delafortrie zeichnen ausserdem verantwortlich für den Schulhausbau im Quartier Pierrabot, mit dem die Stadt 1999 den Solarpreis gewann, und werden nach der Expo die Salle du Sport am See errichten.) Der erste Trakt des Baus, der sich mit Laubengängen und einer grosszügigen Verglasung in einem Bogen nach Süden öffnet, wurde im Herbst 2001 fertiggestellt. Die drei weiteren Gebäude sollen 2005 stehen. Der Sockel aus ockerfarbigem Jurakalk erscheint als Hommage an das traditionelle Baumaterial der Stadt, dessen warmes Gelb die Häuser mit mediterranem Flair auflädt. Doch stammt der Stein nicht mehr wie einst aus Hauterive, da die dortigen Vorkommen erschöpft sind. Dafür wurde 2001 in Hauterive das Laténium der Genfer Architektengemeinschaft Laurent Chenu, Pierre Jéquier, Bruce Dunning, Pieter Versteegh und Philippe Vasserot eröffnet (NZZ 2. 11. 01). Das archäologische Museum befindet sich fast genau an dem Ort, wo vor knapp 6000 Jahren ein steinzeitliches Dorf stand.
Aufbruch ins Kommunikationszeitalter
Biel knüpft an städtebauliche Glanzzeiten an
Die Uhrenmetropole Biel war einst eine Stadt des Neuen Bauens. Um für den Sprung ins Kommunikationszeitalter des 21. Jahrhunderts gut gerüstet zu sein, absolvierte die Stadt nun einmal mehr einen ehrgeizigen urbanistischen Marathon.
Architektonisch machte Biel in den vergangenen Jahren in erster Linie mit der Erweiterung des Centre PasquArt von Diener & Diener und dem Bau der Schweizerischen Fachschule für Holzwirtschaft von Marcel Meili und Markus Peter von sich reden. Dies lenkte etwas davon ab, dass die Stadt in jüngster Zeit - die Gunst der Expo 02 nutzend - eine riesige Baustelle war. Die öffentliche Hand konzentriert sich vor allem auf die Innenstadt, für deren Verschönerung sie, den Plänen der Bieler Bauzeit-Architekten folgend, 150 Millionen Franken ausgibt, aber auch auf die Expo. Das Expogelände am See, das sie von Industriebrachen befreite, soll nach Abschluss der Grossveranstaltung einer gemischten Nutzung zugeführt werden. Sie hat aber auch bei der Planung von privaten Überbauungen, vor allem auf ehemaligen Industriearealen, die Hände mit im Spiel, indem sie Brachen aufkauft, Wettbewerbe ausschreibt und das Land dann mit den entsprechenden Auflagen im Baurecht weitergibt oder verkauft. Rund ein Viertel des Bieler Stadtgebietes ist in ihrem Besitz.
Der Einfluss der Stadt Biel auf die Architektur hat Tradition. Die erste Stadtplanung datiert in die 1880er Jahre und basierte auf einem orthogonalen, längsgerichteten Raster von 250 mal 85 Metern mit Haupt- und Nebenstrassen, Blockrandbebauung und regelmässig verteilten, platzartig erweiterten Strassenkreuzungen. Überlagert wurde dieses Muster von der Gartenstadt, die um die Jahrhundertwende mit durchgrünten Quartieren und Vorgartenzonen Einzug hielt, wobei das streng orthogonale Strassenmuster aufgebrochen und von der geschlossenen Bauweise abgerückt wurde. Architektonisch ist Biels Stadtgefüge gezeichnet von den Wechselfällen wirtschaftlichen Aufstiegs und Niedergangs von Maschinen-, Metall- und Uhrenindustrie, von weitsichtigen Stadtplanungen des Neuen Bauens und rücksichtsloser Zerstörung wertvoller Bausubstanz. Die Stadt präsentiert sich daher als ein Patchwork mit der Altstadt am Jurasüdhang, den Villen der Seevorstadt, der Fin-de-Siècle-Bebauung am Unteren Quai, den historistischen Bauten am Zentralplatz, den Arbeiterquartieren, den Fabrikarealen, den Zeugen des Neuen Bauens wie dem Volkshaus und dem Hotel Elite. Dazu kommen schliesslich Beispiele der «Jurasüdfuss»-Architektur: das Kongresshaus (1961-66) und das deutsche und französische Gymnasium auf dem Strandboden (1976-79) von Max Schlup.
Die Stadt als Patchwork
Zur Patchwork-Struktur gesellt sich der markante Gegensatz zwischen der am Hang gelegenen Altstadt und der Neustadt in der Ebene. Selbst politische Unterschiede manifestierten sich hier architektonisch: im sozialistischen Volkshaus an der Bahnhofstrasse, einerseits, das heute das Konservatorium beherbergt, und im gegenüberliegenden bürgerlichen Hotel Elite andererseits. Die Zweisprachigkeit schliesslich findet ihren Ausdruck in der Ansiedlung der Kommunikationstechnologie. Den Auftakt machte das Bundesamt für Kommunikation (Bakom), das sich in einer ehemaligen, von Flurin Andry und Partner zwischen 1992 un 1995 erweiterten Uhrenfabrik einquartiert hat. Das Swisscom-Gebäude (1996) von Andry, Habermann und Partnern reagiert mit seiner prägnanten Klinkerfassade auf das Volkshaus. Diese Analogie bleibt aber oberflächlich, nahmen die Architekten doch mit Tonnendach und überwölbten Lukarnen auch auf die Fassade der ehemaligen Bäckerei auf der anderen Seite des Schüss-Kanals Bezug, die erhalten werden musste. Sie integrierten sie in den Bau wie ein dekoratives Element aus vergangener Zeit.
Die Gegensätze der Stadt haben auch die Bauzeit-Architekten inspiriert, deren Projekt «nuits blanches» für die Innenstadtverschönerung auf einem System von Vertikalen - Kulturmasten und Kandelabern - und Horizontalen - verschiedenen Bodenbeläge - basiert. Sie haben der Stadt ausserdem neue Trolleybus-Unterstände beschert. Diese nehmen den Charakter der multifunktionalen Kleinarchitekturen aus der Zeit des Neuen Bauens auf, die heute noch auf acht Plätzen, unter andern auf dem Bahnhofplatz, dem General-Guisan-Platz und dem Zentralplatz, zu sehen sind. Mit Dualismen lebt die Stadt ganz gut. So sucht sie einerseits den Verkehr zu beruhigen und eine ausgedehnte fussgängerfreundliche Zone zu schaffen, baut aber anderseits auch Parkhäuser. Das neuste haben Vogt & Kistler beim Bahnhof für 22 Millionen Franken realisiert: unterirdisch, aber mit Tageslicht erhellt.
Am Zentralplatz ist man bemüht, die Nidaugasse und die Murtenstrasse, die diagonal auf den Platz münden, mit Asphaltkosmetik dem Schachbrett zu unterwerfen. Das ist umso unverständlicher, als im Gegenzug die Diagonale betont wird: Zum 1921 für den Schweizerischen Bankverein erstellten und 1996 um ein Stahl-Glas- Gebäude erweiterten UBS-Bau an der Nidaugasse, der die Diagonale mit einem abgerundeten und überkuppelten Kopfbau akzentuiert, wird auf der gegenüberliegenden Seite an der Murtenstrasse vom Bieler Henri Mollet ein zeitgenössisches Pendant in Stahl und Glas errichtet. Städtebaulich weitaus einschneidender ist die Diagonale, die durch den Bahndamm gebildet wird. Dieser wirkt wie eine brutale Schneise im urbanistischen Gefüge und schneidet die Stadt vom See ab. Die Erweiterung der Bahnhofpassage als Verlängerung der Bahnhofstrasse und Durchbruch zum Expogelände schafft der Stadt nun endlich einen Zugang vom Zentrum zum See. Wenn der Durchstich auch als Bahnunterführung ein Stollen ist, so haben sich Kistler & Vogt doch bemüht, durch dessen konische Form die Perspektive zu weiten auf den dreieckigen, baumbestandenen Robert-Walser-Platz. An diesen schliesst rechter Hand ein Betonkubus mit geätzter Glasverkleidung und versetzt angeordneten Fensterreihen an: das «Communication Center» von Gebert, Liechti, Schmid. Es beherbergt die Redaktionen von «Bieler Tagblatt», «Journal du Jura» und der lokalen Fernsehstation «TeleBielingue» sowie die Medienstelle der Expo 02.
Auf der andern Seite des Platzes erstrecken sich die einstigen Montagehallen von General Motors, die zwischen 1935 und 1937 auf Kosten der Stadt nach eigenen sowie nach Plänen von Haefeli, Moser & Steiger aus Zürich errichtet wurden. Heute beherbergen sie ein Coop-Einkaufszentrum und die Verwaltung der Opel Suisse. Ausserdem dienten sie als Provisorium für das Kongresshaus während der Renovation, die der Berner Architekt Rolf Mühlethaler soeben an dem Bau mit dem gigantischen Hängedach von Max Schlup (1961-66) vornahm. Das Kongresshaus verdankt seinen flankierenden Hochhausbau einer Zonenplanänderung, in deren Genuss auch das Palace kam: Zwischen 1997 und 1999 wurde es zum gemischt nutzbaren Kino- und Theatersaal umgestaltet. Gleichzeitig bauten Bauzeit-Architekten ein unterirdisches Kasino ein, von dem oberirdisch nur der Eingang in Erscheinung tritt, dessen Glasfassade ein Wasservorhang ziert.
Industrie- versus Gartenstadt
Östlich des Kongresshauses öffnet sich ein Gelände von rund acht Hektaren, das einst das Gaswerk und die Vereinigten Drahtwerke (VDW) nutzten. Übrig geblieben ist nur noch ein Gaskessel. In den Jahren 1993 bis 1995 renoviert und bunt bemalt, wird er heute von der Jugend genutzt. Etwas weiter östlich, auf dem ehemaligen VDW-Areal, kündet eine Tafel von einer geplanten Wohnsiedlung des Büros Vogt & Kistler, deren Projekt aus einem 1991 unter sechs geladenen Teams durchgeführten Wettbewerb hervorgegangen war. Die Stadt teilte das Gebiet dann aber auf, so dass es sich beim «Schüsspark» nun um ein redimensioniertes und überarbeitetes Projekt mit 55 Wohnungen und Atelierräumen handelt. Nehmen Vogt & Kistler mit dem Loftcharakter der Wohnungen Bezug auf die Industriearchitektur, greifen Bauzeit-Architekten in der eben realisierten Bebauung des Renferareals (Bözingen) mit ihren Vorgärten die Gartenstadt-Visionen der Jahrhundertwende auf. Mit ihrer Holzarchitektur schaffen sie gleichsam eine Verbindung zwischen der Sägerei, die das Gelände einst besetzte, und der neuen Fachschule für Holzwirtschaft von Meili & Peter.
Ähnlich wie die Expo hat auch Biel einen Marathon mit Schlussspurt absolviert: An diesem Wochenende weiht sie mit einem Fest die neuen Bauten ein. Doch bereits wird in die Zukunft geblickt mit einem Wettbewerb für die Erweiterung des renovierten Strandbades aus den dreissiger Jahren, der Planung des heutigen Expogeländes und der Gestaltung des öffentlichen Raums zwischen Zihl und Schüss, dessen Wettbewerb Elisabeth Brauen und Rudolf Zoss im Jahr 2000 für sich entscheiden konnten. Schliesslich sind Verhandlungen im Gange über die Helix, eine auf dem Expogelände in den See hinausführende Passerelle, die Stadtpräsident Hans Stöckli bewahren möchte.
Visualisierte Menschenströme
Das „Interface Flon“ von Tschumi & Merlini in Lausanne
Das ehemalige Industriequartier Vallée du Flon in Lausanne bot Bernard Tschumi und Luca Merlini ein ideales Experimentierfeld. Die Architekten, die sich 1992 mit dem Landschaftsgarten Parc de la Villette in Paris einen Namen gemacht haben, realisierten mit dem „Interface Flon“ eine abgespeckte Version ihres Projekts „Ponts-Villes“.
Es ist eines der wenigen ehemaligen Industriequartiere, die noch nicht dem Loft-Boom anheimgefallen sind: das Lausanner Vallée du Flon. Ob dem bunten Treiben zwischen dem „Bistrot du Flon“ im markanten „Entrepot féderal“, der „Broderie“ im ehemaligen Lagerhaus oder dem Kleidergeschäft „Trois mains“ vergisst man leicht, dass das Gebiet einem brutalen Eingriff in die Natur abgerungen wurde. Jean-Jacques Marcel- Mercier, der gut 20 Jahre nach dem Bahnhofbau zwischen 1877 und 1879 die Metro-Verbindung vom See hinauf zur Stadt schuf, ebnete mit dem Aushub das Tal des Flusses Flon ein und verbannte ihn in den Untergrund.
Tal zwischen zwei Hügeln
Schien es im Jahre 1989, als wäre dem Quartier nur noch eine Galgenfrist gewährt, so ist nun eine seiner repräsentativsten Bauten renoviert, der andere eingerüstet. Mit ihren historisierenden Fassaden markieren die beiden Gebäude den Eingang zum Quartier wie Torbauten. Von der Tabula rasa, die Mario Botta damals den Grundeigentümern vorschlug, blieb das Quartier verschont. Auch das Gespenst, dass man dereinst über das Quartier hinwegschreiten würde, ist vertrieben. Diese Furcht hatte das Projekt von Bernard Tschumi und Luca Merlini ausgelöst, mit dem sie 1989 den städtebaulichen Wettbewerb gewannen, der einer jahrzehntelangen Planungsgeschichte ein vorläufiges Ende setzte: Vom grossen Wurf ihrer „Ponts-Villes“ wurde indes nur eine Brücke, der „Métropont“, realisiert.
Das Konzept des als Vertreter einer dekonstruktivistischen Architektur international bekannt gewordenen Bernard Tschumi ging von der charakteristischen Topographie seiner Heimatstadt aus, die sich über Hügel ausstreckt und in Täler duckt. Hoch oben, im historischen Zentrum, thront die Kathedrale, steil fallen die Strassen nach Süden ab bis zur „Klippe“ am Ende der Rue Pichard, unter der sich das Quartier des Vallée du Flon ausbreitet. Im Osten wird das Tal vom Grand Pont begrenzt. Die markante, mit groben Steinquadern verkleidete Brücke hat ihr Pendant im Westen im eleganten Pont Chauderon. Jenseits des Tals steigt das Terrain wieder an bis zur Höhe des Hotel Palace und erstreckt sich dann hinunter bis nach Ouchy am See. Von dort fährt man mit der Metro zurück zum Bahnhof und von da noch weiter hinauf zum Gare du Flon. Um auf die Linie Lausanne-Echallens-Bercher (LEB) umzusteigen, begibt man sich hier in den Untergrund, wo die neue Metrostation liegt.
Im Wettbewerbsprojekt überlegten sich Tschumi & Merlini, die Büros in New York und Paris unterhalten, wie der Charakter einer Stadt ausgerechnet dort betont werden kann, wo sie ihn am meisten negiert: Wie wäre die pittoreske Topographie Lausannes mit dem amerikanisch anmutenden Schachbrettmuster des Talbodens zu versöhnen? Wie das Quartier zu integrieren, das zwar im Herzen der Stadt liegt und dennoch vom historischen Kern abgeschnitten ist, weil es 13 Meter tiefer liegt als jener? Wie „die unbewusste Modernität“ einer Stadt hervorzuheben, in der - „wie in Metropolis“ - die Eingänge der Häuser an der Place Saint- François im 6. Stock sind, während ihre Ausgänge in der Rue Centrale im Erdgeschoss liegen, in der Bauten als vertikale Korridore funktionieren und Brücken als mehrgeschossige Übergänge? Die Antwort war ebenso einfach wie bestechend: Tschumi & Merlini entwarfen fünf „bewohnte“ Brücken - Pont de la Vigie, Pont Montbenon, Pont des Terraux, Pont Bel- Air und Métropont -, die über das Tal führen, gleichzeitig eine vertikale Verbindung schaffen und so den Flon mit dem historischen Zentrum verbinden sollten. Mit Bauten bestückt, war jede der Brücken bestimmten Nutzungen zugeordnet - so sollte der Pont Montbenon das Centre de l'Art Contemporain beherbergen und der Métropont die Fussgängerverbindungen schaffen.
Verwirklichen mochte die Stadt die Vision dann aber nicht. 1994 verwarf sie „Ponts-Villes“ und beauftragte die Architekten mit einer abgespeckten Variante der Verkehrserschliessung - ohne kommerzielle und kulturelle Ein- und Aufbauten. Der nun realisierte Métropont ersetzt die unansehnliche Fussgängerbrücke, die früher die Place de la Gare du Flon überspannte und den südlichen Hügel (Hotel Palace) mit der Anhöhe des historischen Zentrums verband. Zur horizontalen Verbindung gesellt sich die vertikale. Ein verglaster Liftturm verschränkt drei Ebenen: die neue unterirdische Metrostation der Linie LEB, die Place de la Gare du Flon, die umgetauft wurde in Place de l'Europe, und die Fussgängerpasserelle. Der Turm wächst aus einem Glaskubus, der den Eingang zur Metrostation markiert. Er trennt den in einem Oval geführten Verkehr auf der Westseite vom autofreien östlichen Teil des Platzes.
Tschumi hat nicht versucht, die Komplexität der Verkehrsverbindungen aufzulösen. Vielmehr hat er sie verstärkt und transparent gemacht. So verbindet nicht nur eine Treppe die Station mit dem Niveau der Place de l'Europe, sondern deren drei: Vom Gare du Flon führt eine Rolltreppe hinunter zur neuen Station der LEB. Von hier kann man zur Place de l'Europe hochsteigen, den Lift nehmen oder - dem Trassee der Bahn folgend - über eine Wendeltreppe am Ende des Platzes zur Tour Bel Air gelangen, wo eine Treppe auf die Ebene der Fussgängerbrücke führt. Überwinden lässt sich der Höhenunterschied zwischen Platz und historischem Zentrum schliesslich auch über die vom Verkehr befreite Rampe der Route Bel Air, eine Verlängerung des Unterbaus des gleichnamigen Turms. Es gibt keine Umwege, und man ist sich immer aller Ebenen bewusst, weil Tschumi & Merlini den Untergrund nicht zubetonierten. Von der Place de l'Europe kann man auf die Metrostation hinunterblicken. Denn die Architekten haben die Verkehrsinsel als schräg zur Metrostation hin abfallende begrünte Ebene gestaltet. Das Trassee der Bahn wird an der Oberfläche nachgezeichnet. Nicht nur durch den Glaskubus; auch die Gitterroste der Lichtschächte, die Strasse und die Rampe der Route Bel Air folgen ihrem Verlauf.
Räumliche Beziehungen
Stahl, Glas und Beton bestimmen die Materialität des „Interface Flon“, Gitterroste und rote Streifen in verschiedenen Massstäben die Textur - vom Strichcode, mit dem die Glaspaneele von Kubus, Liftturm und Brückengeländer bedruckt sind, bis zum Fussgängerstreifen auf dem Platz, der Brücke und dem Perron der Metro. Die roten Streifen verdeutlichen das Bewegungsmotiv und verleihen Lichtturm, Glaskubus und Brücke einen einheitlichen Aspekt. Doch sie täuschen nicht darüber hinweg, dass das grobe Stahlrohrgerüst, das die Passerelle stützt, zur Eleganz des Zugbandes kontrastiert.
Als magere Alternative zum ursprünglichen Entwurf muss man die roten Streifen empfinden, wenn man weiss, dass Tschumi & Merlini die Brücke als „Media Strip“, als Projektionsfläche von „medialen Ereignissen“ (einschliesslich Werbung) projektiert hatten, die zusammen mit der Bewegung der Menschen das Interface in einen fliessenden Raum der Daten- und Menschenströme verwandelt hätten. Doch nun finden sich auf den Glaspaneelen statt digitaler Botschaften nur papierene Werbekleber. Es ist bedauerlich, dass der Stadt der Mut fehlte. Die Bravour, mit der die Architekten die räumlichen Beziehungen klärten, hätte eine prägnantere visuelle Inszenierung verdient - ganz zu schweigen von der verpassten Chance, mit dem Einbau von zusätzlichen Nutzungen Brücke, Haus und Strasse zu verflechten. Tschumi & Merlinis Métropont hätte zum städtebaulichen Akzent im Spannungsfeld von Kathedrale und Bel Air sowie zu einem Signal des Informationszeitalters werden können.
Immerhin wird das „Interface Flon“ ab dem Jahre 2005, wenn der Nordosten der Stadt mit der Metro erschlossen sein wird, noch stärker in Erscheinung treten. Tschumi, obwohl überzeugt, dass die „bewohnten Brücken der Aktivität“ Generatoren der Urbanität hätten sein können, verkraftet die Abstriche,: „Ich bin glücklich über das gebaute Projekt. Es ist die erste Phase eines reinen Infrastruktur-Zirkulations-Schemas. Die zweite Phase beinhaltet Lifte, welche die Verbindung der neuen Metrolinie mit dem Grand Pont schaffen werden.“
Licht formt den Beton
Massimiliano Fuksas' Kirchenprojekt für Foligno
Italien sucht Anschluss an die internationale Architektur. Was dem Staat und der Stadt Rom recht ist - beide haben in den vergangenen Jahren mittels Wettbewerben Projekte für Musiksäle, Kongresshallen und Museen in der Kapitale erkoren -, ist auch der Kirche billig: Im Hinblick auf das «Giubileo 2000» wählte das römische Vikariat den US-Architekten Richard Meier für den Bau der «Chiesa del 2000». Während nun Meiers Kirche im Quartier Tor Tre Teste im unwirtlichen Osten Roms im Entstehen begriffen ist, forcieren die kirchlichen Auftraggeber die Auseinandersetzung mit religiöser Baukunst im ganzen Land. Im Jahr 1999 veranstalteten sie Wettbewerbe für die Diözesen von Mailand, Perugia und Lecce, im Jahr darauf für diejenigen von Bergamo, Porto Santa Rufina und Potenza und 2001 für Modena-Nonantola, Catanzaro und Foligno.
Die eingereichten Projekte sind so verschieden wie die Namen der Urheber illuster: Für Modena entwarf Paolo Portoghesi einen sechseckigen Baukörper, den er mit einem pyramidalen Glasdach überwölbte und an den er drei wiederum sechseckige Baukörper andockte. Guido Canella wählte ebenfalls Modena als Standort für seinen dreischiffigen Bau, der von einem Tonnendach überwölbt ist. Nicola di Battista projektierte für Foligno einen Würfel mit eingeschriebenem Kreis. Das kargste, aber überzeugendste Projekt reichte Massimiliano Fuksas ein. Aufsehen hatte Fuksas bereits 1985 mit dem Gymnasium in Paliano erregt, das mit seiner in Schräglage vor den Bau gestellten stilisierten Renaissancefassade die Postmoderne auf die Schippe nahm. Die Spannung zwischen alt und neu war auf ernsthaftere Weise wieder Thema im Architekturinstitut in Rouen (1990-92), einer Aufstockung eines ehemaligen Klosters.
In Fuksas' Werk ist Spannung ein zentraler Begriff. In der Universität Michel de Montaigne in Rouen (1993/94) war es die Tension zwischen verschiedenen Materialien, in den Studentenunterkünften in Herouville Saint-Clair (1992-95) das Aufeinandertreffen verschiedener Farben, im Projekt für das Centro Congressi in Roms Vorstadt EUR (1999) die Beziehung zwischen einer amorphen inneren Struktur und dem sie umhüllenden strengen Glaskubus. Im siegreichen Projekt für Foligno sind zwei kubische Baukörper ineinander gestellt, so dass im Hohlraum dazwischen ein Lichtraum entsteht. In die äussere Hülle aus Sichtbeton schneidet Fuksas Öffnungen in der Form unregelmässiger Vierecke. Das Licht, das dereinst durch sie auf den Altar, den Ambo und das Taufbecken gelenkt werden wird, dürfte dem Innenraum nicht nur eine stimmungsvolle Atmosphäre verleihen, sondern auch die skulpturale Qualität des Betons evozieren.
Innenschau und Aussensicht
Zeitschriften zur Schweizer Architektur
Das Börsenbarometer der Marke «Swiss Architecture» weist weiterhin nach oben. Davon kann man sich in der neusten Ausgabe der Zeitschrift «Archithese» überzeugen. Unter dem Titel «Swiss Performance 02» präsentiert sie zum zweiten Mal einen Überblick über das brandaktuelle architektonische Schaffen der Schweiz und füllt damit die editorische Lücke eines Architekturjahrbuchs, die leider hierzulande im Gegensatz etwa zu Deutschland, Holland oder Spanien noch immer klafft. Die «Archithese» versucht nicht, die Bauten in das Korsett einer Tendenz zu zwingen, sondern offenbart deren Vielfalt in einem Tour d'horizon - vom Sportpalast über das urbane Interface, das Schulhaus, den Wohnbau in der Agglomeration und die Stadtvilla bis zur alpinen Industrieanlage und zu dem identitätsstiftenden Mehrzwecksaal. So rücken nicht nur Werke von internationalem Rang ins Blickfeld, sondern auch baukünstlerische Trouvaillen. Hoch im Kurs steht die Schweizer Architektur aber weiterhin auch im Ausland. So nennt die französische Zeitschrift «Techniques et architecture» ihr neustes Heft «Suisse, identités» und schlägt mit Christoph Allenspachs Essay «Minimalisme suisse, sec et sensuel» eine Brücke zwischen Aussensicht und Innenschau.
[ Techniques et architecture: «Suisse, identités - Swiss singularities». No. 457 (Januar 2002), EUR 24.39. - Archithese: «Swiss Performance 02». Nr. 1/02, Fr. 28.-. ]
Die surrealen Kulissen der Ewigen Stadt
Roms Umgang mit der lange Zeit wenig geliebten Architektur des Razionalismo
Italien tut sich schwer mit den Meisterwerken des Razionalismo. Die unter Mussolini in der Formensprache der Moderne errichteten Gebäude tragen noch immer das Stigma des Faschismus. In Rom, wo alle grossen italienischen Rationalisten bauten oder wenigstens planten, sucht man einen neuen Zugang zum Bauerbe der dreissiger Jahre.
«Stülpt dem Obelisken doch eine Kapuze über!» Dies war die ironische Reaktion von Giorgio Muratore, Architekturprofessor an der «Sapienza» in Rom, auf das Dilemma, mit dem ihn Vertreter des italienischen Kulturministeriums konfrontierten. Der in der Achse des Ponte Duca d'Aosta auf dem grossen Platz vor dem Foro Italico stehende Obelisk trägt nämlich die Inschrift «Mussolini». Dass viele beeindruckende Bauten Roms von Libera, Moretti, Ponti, Nervi, Luccichenti, Minnucci, Cafiero und BBPR mit dem Namen Mussolini verbunden sind, trug nicht nur zum negativen Image jener Architekturepoche bei, sondern besiegelte oft auch das Schicksal der Bauwerke. Die Casa delle Armi von Luigi Moretti wurde den Carabinieri überlassen, das Stadio Olimpico zum Verkauf freigegeben, die Gebäude der Gioventù Italiana del Littorio (GIL) wurden zerstückelt. Hinter der Hilflosigkeit im Umgang mit der Mussolini-Inschrift steckt der Wille, den schleichenden Zerfall oder die mutwillige Zerstörung dieser architektonischen Zeugen zu verhindern, die mit dem Foro Italico, mit der Neustadt der Esposizione Universale di Roma (EUR) und der unweit des Bahnhofs gelegenen Città Universitaria ganze Stadtteile der Ewigen Stadt prägen.
Phönix aus der Asche
Der Brand im Palazzo dei Congressi - von Adalberto Libera 1937-1943 auf dem Gelände errichtet, wo 1942 die EUR hätte stattfinden sollen - geriet in den achtziger Jahren zum Fanal einer breiten Rückbesinnung auf Roms Moderne: Antonino Gallo Curcio und Paolo Portoghesi renovierten 1988-93 den symmetrischen Bau mit den stilisierten dorischen Säulen. Bis heute hat der mit einer Kuppel bekrönte Kubus des Kongresspalastes, durch dessen verglaste Bogenfelder das Licht in die zentrale Halle fällt, nichts von seiner imposanten Erscheinung eingebüsst: Mit seinen 36 Metern Kantenlänge könnte der Kubus das Pantheon aufnehmen. Das Auditorium auf der Rückseite zeugt ebenso von Liberas Beschäftigung mit der Konstruktion grosser Säle wie die «Höhle» des 1956 eröffneten Cinema Airone, bei dem allerdings der ursprüngliche Raum nicht mehr erfahrbar ist. Denn wie die meisten Säle aus der Zeit der Blüte des italienischen Films wurde auch dieser in mehrere Kinos unterteilt.
Gleichermassen mit der Film- wie mit der Architekturgeschichte verbunden ist der Palazzo della Civiltà Italiana (1938-1940). Er hätte 1942, im Jahr der EUR, Austragungsort der «Olimpiade delle Civiltà» werden sollen. Der symbolisch aufgeladene, im Volksmund Colosseo Quadrato genannte Bau war in den Nachkriegsjahren zur Sprengung freigegeben worden. Doch blieb er bestehen und erlangte bald Bekanntheit als Hintergrund von Film- und Modeaufnahmen. Dieses an de Chiricos Bilderwelt erinnernde Monument war stets mehr Hülle als Behältnis: eine surreale Kulisse, vor der einst Anita Ekberg, einem Werbeplakat entsteigend, ihr Kleid fallen liess. Nun soll das Colosseo Quadrato erstmals in seiner Geschichte einer Funktion zugeführt werden.
Schon Marcello Piacentini, Mitglied der Jury, die das Projekt von Giovanni Guerrini, Enzo Bruno La Padula und Mario Romano auserkoren hatte, erkannte, dass dieses Gebäude ein unvollendetes Werk darstellte. Seine vier Seiten sind identisch und weisen auf jeweils sechs Geschossen 54 Bogen auf, deren gleichförmiger Rhythmus beliebig erweiterbar erscheint. Im Wettbewerbsprojekt erstreckte sich das Bogenmotiv auch über das siebte Geschoss, so dass der Bau keinen oberen Abschluss hatte. Seine Arkaden wurden dann geschlossen zugunsten der propagandistischen Inschrift: «Un popolo di Poeti di Artisti di Eroi di Santi di Pensatori di Scienziati di Navigatori di Trasmigratori». Konstruktiv kommt den Bogen keine Funktion zu. Der Travertin ist nur die Haut über dem Skelett der Betonstützen. Mit den Worten: «Abstraktion, nicht Konstruktion», brachte der Architekt Gio Ponti das Werk auf den Punkt. Vorgesehen war ein Museum, das wegen des Krieges nicht mehr realisiert wurde: Die Besucher sollten das Gebäude wie auf einer Prozession von oben nach unten durchwandeln. Doch nun will das Kulturministerium in diesem architektonischen Phantom das Museo dell'Audiovisivo einrichten. Dazu hat es einen Wettbewerb ausgeschrieben: Projektiert werden soll die Infrastruktur für eine audiovisuelle Zeitreise, die von Tondokumenten ausgeht und über Film und Fernsehen zu den Erzeugnissen der multimedialen Informationsgesellschaft führt - ein Parcours wie in den vierziger Jahren, nur mit anderen Inhalten.
Zu den historisch am stärksten belasteten Bauwerken Roms gehören die auch Case della Balilla genannten Case della Gioventù Italiana Littorio (GIL), Zentren, in denen die italienische Jugend eine umfassende faschistische Bildung - sprich Indoktrination - und körperliche Ertüchtigung erfahren sollte. Luigi Moretti wurde 1933 mit dem Bau der Case della Balilla in Trastevere beauftragt, deren spannungsvolle volumetrische Komposition und plastische Qualität der Textur sich heute nur mehr erahnen lassen. Plane Flächen wechseln mit geschwungenen Linien, geschlossene Fassaden mit durchlässigen Volumen.
Die transparenten Elemente sind modular durch Sprossen und Lamellen strukturiert oder plastisch durch vorkragende Betonkonsolen hervorgehoben. Moretti operierte mit dem goldenen Schnitt ebenso wie mit einfachen geometrischen Verhältnissen. Der fünfgeschossige Büroturm des Komplexes, den die römische Gemeinde nutzt, wurde mit dem Einbau von Normfenstern auf der einst geschlossenen Rückseite verunziert. Das anschliessende Theater beherbergt nach einem Umbau das Kino Troisi. Die oberen zwei Geschosse des schmalen Turnhallentrakts, den Moretti auf der Rückseite senkrecht zum Hauptbau angliederte, wurden zugemauert. Doch nicht nur die Komposition geriet aus den Fugen. Der dunkelrote Anstrich des Bürogebäudes zerreisst das einst teils weiss verputzte, teils mit Marmorplatten verkleidete Ensemble. Da es unter Schutz steht, wurden in den achtziger Jahren mehr schlecht als recht Instandstellungsarbeiten vorgenommen.
Auch Morettis Casa delle Armi (1933-36) am südlichen Ende des Foro Italico war ursprünglich als Casa della Balilla geplant, ehe es zur Accademia delle Schermi, zur Fechtanlage, wurde. Sie steht ganz oben auf der Liste der Bauten, die Pio Baldi, Chef der Direzione generale per l'architettura e l'arte contemporanee (DARC), vor der Zerstörung bewahren will. Noch vor zwei Jahren beschlossen die Behörden den Ausverkauf des ehemaligen Foro Mussolini, das gewissermassen das sportliche Gegenstück zur kulturellen EUR darstellt. In der «Gazzetta Ufficiale» publizierten sie das Gesetz über die Privatisierung von alten Kasernen und Bürogebäuden, darunter auch das Foro Italico. Das Gelände wurde in 16 Parzellen aufgeteilt. Offerten blieben indes aus. Da die Massnahme nur Hohn provozierte, schlugen die damaligen Schatz- und Finanzminister, Visco und Del Turco, eine andere Strategie ein. Sie stellten die Bauten des Foro Italico unter Schutz, nahmen davon allerdings das Stadion aus und versuchten dieses loszuwerden. Inzwischen wurde der Beschluss vom Tribunale amministrativo regionale (Tar) auf Grund eines Rekurses des Italienischen Olympischen Komitees (Coni) annulliert.
Bei der umzäunten und von Kameras überwachten Casa delle Armi hofft Baldi nun auf Schützenhilfe. Dabei darf er auf Giorgio Muratore zählen, den hartnäckigsten all jener Architekturfreunde, die seit Jahren monieren, dass hier ein baukünstlerisches Bijou dem Untergang geweiht sei, seit es einst die Carabinieri unter dem Eindruck des Terrorismus der Brigate Rosse belegten. Schon damals erhob sich Protest. Doch erst die städtebaulichen Planungen für den Norden Roms rückten den Bau wieder ins Blickfeld. Die Casa delle Armi besteht aus zwei kubischen Baukörpern, dem stadtseitigen Riegel der Bibliothek und dem zum Foro hin weisenden Trakt der Sala delle Armi, die einen L-förmigen Grundriss bilden und über eine lichte Passerelle miteinander verbunden sind. Scharnier ist das barocke Element des über elliptischem Grundriss sich erhebenden Empfangsraums auf der dem Tiber abgewandten Seite. Die stadtwärts gerichtete Fassade der Bibliothek ist fast völlig geschlossen, während die Nordseite grosszügig befenstert ist.
Für die Belichtung der riesigen Sala delle Armi gestaltete Moretti die Decke aus zwei zueinander versetzten Betonkonsolen, so dass über die ganze Länge des Baus ein nahezu senkrechter Lichtschacht entstand. Dank der parabolischen Wölbung beider Konsolen wird das Licht gleichmässig verteilt und gedämpft. Verkleidet sind die beiden Bauten mit Carrara-Marmor, das Innere ist weiss verputzt, abgesehen vom Pompejanischrot der Bibliotheksdecke. Die massivsten Eingriffe wurden im Innern vorgenommen. Die zum Austragungsort von Strafprozessen umfunktionierte Sala delle Armi wurde mit vergitterten Zellen bestückt, der Lichtschacht verschwand hinter einer abgehängten Decke. Zudem wurden in der Bibliothek zwei Bürogeschosse eingezogen.
Baldi und Muratore, sonst eher Kontrahenten, sind sich einig, die architektonische Aufbruchstimmung zu nutzen, um Morettis Bau den Carabinieri zu entreissen und ihn in Roms künftige Museumslandschaft zu integrieren, die mit der Galleria Nazionale d'Arte Moderna, die von Diener & Diener erweitert wird, und dem Centro per le Arti Contemporanee von Zaha Hadid im Quartier Flaminio eine ganz neue Ausrichtung erhalten soll. Der Bau Morettis, einer der charakteristischen Zeugen des Razionalismo römischer Ausprägung, scheint geradezu prädestiniert zum Architekturmuseum, zumal es vorläufig noch an Geldern für ein solches Museum im Centro per le Arti Contemporanee mangelt.
Ville radieuse und Villaggio arabo
Einen positiven Effekt erhoffen sich die Planer der genannten Museumsneubauten und des Auditoriums von Renzo Piano aber auch auf das Villaggio Olimpico, das Vittorio Cafiero, Adalberto Libera, Luigi Moretti, Vincenzo Monaco und Amedeo Luccichenti im Auftrag des Istituto per le case degli impiegati dello stato (Incis) im Hinblick auf die olympischen Spiele von 1960 bauten. Die Siedlung mit verschiedenen Bautypen - lange, um einen Hof gruppierte Baukörper und solche mit quadratischem oder kreuzförmigem Grundriss - diente als Sportlerunterkunft und wurde nach den Spielen 6500 Bewohnern zur Verfügung gestellt. 1985 verkaufte ihnen das Incis die Bauten.
Noch heute beeindruckt die Dynamik der konkav geschwungenen, lang gestreckten Bauten, obwohl teilweise die Armierungen frei liegen, einige Betonpfeiler schadhaft und Backsteine aus den Fassaden herausgebrochen sind. Die über die ganze Länge der Gebäude führenden Fensterbänder kontrastieren mit der Kleinteiligkeit der ockergelben Backsteinverkleidung. Getrübt wird der ursprüngliche Eindruck, weil die Treppenhäuser zwischen den Pilotis mit verglasten Windfängen ausgestattet wurden - eine Massnahme, die schon Anfang der sechziger Jahre durchgeführt wurde. In weiser Voraussicht wurden an der Piazza Grecia zwischen den Pilotis von Anfang an Geschäfte eingeplant, um zu verhindern, dass die Bewohner sich dieses «brachliegenden» Raums bemächtigten und allmählich überall die Durchblicke verstopften. Baldi hofft, dass die Aufwertung des Quartiers den Villaggio so attraktiv machen wird, dass die Bewohner ihre Häuser gegen gutes Geld verkaufen und die neuen Besitzer diese sanieren werden. Anstrengungen, den Boom zu antizipieren, sind jedenfalls im Gang: So soll nach einem Projekt der jungen römischen Architektengruppe «n! studio» für rund 600 000 Franken eine neue Piazza Grecia entstehen.
Auch Architekturhistoriker bemühen sich um den Ruf des Villaggio. Marida Talamona, Professorin an der Architekturfakultät von «Roma Tre», die die Geschichte des Villaggio aufgearbeitet hat, will auf ein Zitat Le Corbusiers gestossen sein, in welchem dieser den Architekten attestiert, eine Ville radieuse verwirklicht zu haben: mit der Gesamtanlage, den Pilotis, den Dachaufbauten und dem grosszügig bemessenen Grünraum. Dass der Corso di Francia von Pierluigi Nervi mittels V-förmiger Stützen über das Terrain gehoben wurde, mag durchaus auf die Idee der Ville radieuse verweisen, das Zitat hingegen sieht Giorgio Muratore eher im Zusammenhang mit einer Skizze, die Le Corbusier 1935 für die Urbanisierung des Nordens der Stadt angefertigt hatte.
Es bedarf nicht des Zeugnisses des Meisters, um im Quartier Tuscolano 3 von Adalberto Libera aus den Jahren 1950-54 die horizontale Weiterentwicklung einer Recherche zu erkennen, die Le Corbusier zur Unité d'habitation geführt hatte. Die Siedlung, für 200 Familien oder rund 1000 Personen konzipiert, fand 1955 auch hierzulande im «Werk» Beachtung. Libera verwob jeweils vier L-förmig um einen Hof organisierte eingeschossige Einfamilienhäuser zu einer Teppichsiedlung. Erschlossen werden die Häuser über den zentralen trapezförmigen Park. Hier hinein schob Libera auch das dreigeschossige, auf Stützen ruhende Laubenganghaus mit Kleinstwohnungen. Zur Strasse hin ist das Quartier durch eine Ladenpassage abgeschirmt, unterbrochen vom Zugang, der mit einer Betonschale überwölbt ist. Mit wechselweise geneigten Pultdächern gestaltete Libera eine wogende Dachlandschaft. Den Bewohnern bietet die Siedlung trotz ihrer Dichte - der sie den Übernamen Villaggio arabo verdankt - ein hohes Mass an Privatsphäre, denn ausser Küche und Esszimmer öffnen sich alle Räume der Häuser zum eigenen Hof hin, der seiner Funktion als Zimmer im Freien gerecht wird. Allein schon die Tatsache, dass die Bauten mit den Jahren nicht verunstaltet wurden, beweist die Funktionsfähigkeit dieser Anlage.
Tribut steigender Studentenzahlen
Nach diesen rationalistischen Nachkriegsplanungen muss noch die Città Universitaria erwähnt werden, deren urbanistische Anlage 1932 von Marcello Piacentini entworfen wurde. Ausgelegt für 15 000 Studenten, wird sie heute von 150 000 besucht. Die herausragenden Bauten sind die 1933 bis 1935 realisierten Institute für Mathematik von Gio Ponti, für Physik von Giuseppe Pagano, für Mineralogie und Geologie von Giovanni Michelucci und für Botanik von Giuseppe Capponi. Ponti kombinierte einen hohen Kubus mit zwei niedrigen Seitenflügeln, die einen Halbkreis bilden, und - in der Mittelachse - einem über fächerförmigem Grundriss sich erhebenden Baukörper. Dieser birgt drei übereinander gestapelte grosse Aulen, deren Befensterung den ansteigenden Verlauf der Sitzreihen abbildet.
Vor zwei Jahren wurde fast die gesamte ursprüngliche Einrichtung, die ebenfalls der geniale Ponti entworfen hatte, in Camions abtransportiert. Geblieben sind nur ein paar originale Sessel in der Bibliothek und einige spartanische Holzstühle. Aber auch das Gebäude selbst wurde respektlos behandelt: So wurden die Seitenflügel verlängert und an den Frontalbau angedockt, was die Komposition stark beeinträchtigt. Noch schlechter erging es Capponis botanischem Institut, einem langen, schmalen, leicht geschwungenen Bau, dessen Mitte durch zwei über Eck verglaste Türme akzentuiert wird. Exakt im Zentrum des Platzes, der durch die beiden seitlich ausgreifenden Trakte geformt wird, steht heute ein mit groben schwarzen Metallträgern gerahmter Baukörper. Ein solcher Umgang mutet umso barbarischer an, als in universitären Kreisen Fachleute vorhanden wären, die hier intervenieren könnten. Die Projektverfasser einer der beispielhaftesten Renovationen in den vergangenen Jahren in Rom gehören der Universität «Tor Vergata» an. Sie konnten vor acht Monaten ihre Instandstellungsarbeiten am Postgebäude von Adalberto Libera und Mario de Renzi (1933-1935) in der Via Marmorata unweit der Cestio-Pyramide abschliessen. Der Portikus, der dem Bau zur Strasse hin vorgelagert ist, wurde von den weissen Granitplatten befreit und wieder mit Platten aus dunkelviolettem, fast schwarzem Porphyr verkleidet. Der elliptische Lichtschacht über der Publikumszone, durch den kaum mehr Licht drang, wurde freigelegt. Seine geschwungene Form steht im Kontrast zum kantigen U-förmigen Bau, zwischen dessen Schenkel die Schalterhalle gespannt ist.
Die Hoffnung ist berechtigt, dass das Beispiel Schule machen wird. Bereits zwischen 1985 und 1997 wurde das 1934 von Angiolo Mazzoni entworfene Postgebäude in Ostia restauriert. Vordringlich wäre nun die Sanierung des elegant geschwungenen Postgebäudes von Mario Ridolfi (1933-35) an der Piazza Bologna, dessen einst transluzides Deckengewölbe einem fast auf den Kopf zu fallen scheint, seit es mit Kunststoffplatten verkleidet ist. Zu wünschen wäre ausserdem die Wiederbelebung des Projekts für das 1960 vollendete Velodrom von Cesare Ligini, Dagoberto Ortensi und Silvano Ricci, das das Italienische Olympische Komitee (Coni) vor vier Jahren ins Auge fasste. Aber auch die Casa Balilla (1943) im Gebiet Montesacro von Gaetano Minnucci, der Palazzo Salvatelli von Gio Ponti (1940), die Siedlung der ICP im Quartier Garbatella (ab 1920) von Gustavo Giovannoni und Massimo Piacentini, das Postgebäude (1942) von BBPR im Stadtteil EUR oder die Häuser «Tirrena» (1934) von Libera in Ostia warten noch immer auf restauratorische Eingriffe. - Sollten Inschriften die Umsetzung lähmen, so könnte man allenfalls Christo zu Hilfe rufen. Vielleicht wäre er nicht abgeneigt, den Obelisken einzupacken . . .
[Die Kunsthistorikerin Rahel Hartmann arbeitet als Architekturkritikerin in Luzern.9
Wettbewerb statt Lotterie
Wermutstropfen für die italienische Architektur
Die Architekten, die auch ausserhalb ihrer italienischen Heimat respektiert werden, sind an einer Hand abzuzählen. Die neu geschaffene Direzione generale per l'architettura e l'arte contemporanee (DARC) des Kulturministeriums will die Qualität der Architektur verbessern. Wie, erklärt deren Leiter, Pio Baldi, im Gespräch mit Rahel Hartmann.
Herr Baldi, Paolo Portoghesi proklamierte 1980 auf der Architekturbiennale in Venedig die «strada novissima», die (auch) der italienischen Architektur einen neuen Weg zu weisen suchte. 1996 präsentierte Marino Folin ebenda die junge Architektengeneration. Sie selber haben mit einem kurzfristig ausgeschriebenen Wettbewerb für junge Architekten nachgedoppelt. Trotzdem liegt die italienische Architektur noch immer in Agonie.
Dass die italienische Architektur heute nichts zu bieten hätte, scheint mir eine etwas zu restriktive Sicht zu sein. Immerhin geniessen einige Exponenten - ich denke etwa an den früh verstorbenen Aldo Rossi, an Vittorio Gregotti, Gae Aulenti, Massimiliano Fuksas oder Renzo Piano - durchaus internationalen Ruf. Aber es stimmt schon: Wir nagen an der Geschichte, und zwar in zweifacher Hinsicht. Gerade die Architektur, mit der Italien international Furore machte, die der zwanziger und dreissiger Jahre, geriet, weil sie in der faschistischen Ära entstanden war, im eigenen Land derart in Verruf, dass sich keiner die Hände schmutzig machen wollte, indem er an sie anknüpfte. Es entstand ein Vakuum. Um sich abzugrenzen, war danach jeder Architekt Marxist, und die Exponenten des Razionalismo wurden totgeschwiegen. Dass Giuseppe Terragnis Casa del Fascio in Como umbenannt wurde in Casa del Popolo, illustriert diese Berührungsangst.
Gerade Terragni erfuhr aber - vor allem durch Bruno Zevi - durchaus Rehabilitation.
Terragnis Rehabilitation ist sicher das Verdienst Bruno Zevis. Aber auch Giorgio Muratore versucht seit Jahren zu verhindern, dass die Moderne der Vergessenheit anheim fällt und vernachlässigt oder gar abgebrochen wird. Dennoch zeitigte die Diffamierung der Moderne zunächst die Auswirkung, dass die antiken Bauwerke eine enorme Aufwertung erfuhren. Wurden sie während Jahrhunderten als Lieferanten von Baumaterial genutzt, sind sie heute so unantastbar, dass etwa Renzo Piano eine römische Villa in sein Auditorium integrieren muss . . .
. . . oder in der Galleria Nazionale d'Arte Moderna ein Mauerstück eines nicht identifizierbaren antiken Baus bewahrt, ein Zeuge der Moderne aber - Luigi Cosenzas Erweiterung der Galerie - abgebrochen wird . . .
Wir müssen wieder ein Sensorium für die Veränderung des Bestehenden entwickeln, ein Bewusstsein dafür, dass - wie es Zumthor einmal auf den Punkt gebracht hat - jede Architektur den Kontext verändert. Aber eben nicht, indem sie die Landschaft verschandelt, wie es während der letzten zwanzig Jahre geschah, sondern, indem sie sich harmonisch einfügt oder sie gar aufwertet.
Solches realisieren italienische Architekten im Ausland. Im eigenen Land sind sie dann nicht eben wohlgelitten. Renzo Piano etwa wird unterstellt, auf der «Lohnliste» der Fiat zu stehen.
Ich glaube, die Skrupel rühren eher daher, dass Wettbewerbe bis vor wenigen Jahren - wenn denn überhaupt welche ausgeschrieben wurden - weniger mit einer Ausmarchung als mit einer Lotterie zu tun hatten. Um auch nur den Hauch einer Chance zu haben, waren die Architekten gezwungen, ausführungsreife Projekte einzureichen, was mit horrenden Kosten verbunden war: ein ruinöser Wettbewerb, den sich letztlich nur diejenigen leisten konnten, die finanziell anderweitig - etwa durch eine Professur - abgesichert waren. Heute führen wir zweistufige Wettbewerbe durch: In einer ersten Phase sollen die Teilnehmer ihr Projekt skizzieren. Die Jury wählt dann zehn bis fünfzehn Architekten aus, die ihre Arbeit in der zweiten Runde mit Modellen, Plänen usw. konkretisieren.
Trotzdem sind die Wettbewerbe selten anonym, was denn auch dem Vorwurf Vorschub leistet, die Auftraggeber frönten dem Starkult - wie im Fall des Centro per le Arti Contemporanee in Rom, das von Zaha Hadid entworfen wurde.
International renommierte Architekten nach Rom zu holen, halte ich nicht für verwerflich - im Gegenteil: Ich erhoffe mir einen stimulierenden Effekt auf die hiesige Architekturszene. Wir wollen die Wettbewerbskultur aber auch etablieren, indem wir den Provinzen und Gemeinden bei Ausschreibungen beratend zur Seite stehen. Ausserdem möchten wir Architekturpreise aus der Taufe heben - und zwar nicht nur für gute Architektur, sondern auch für Bauherrschaften, die solchen Bauten zum Durchbruch verhelfen. Ich glaube, dass es in unserem Land eine wachsende Sensibilität für die architektonische Qualität und den Schutz der Landschaft gibt, weshalb mir eine Umkehr der zerstörerischen Tendenz der vergangenen Jahre möglich erscheint. Vielversprechend scheint mir etwa die Initiative zu sein, die im Jahr 2000 acht Universitäten - Venedig, Turin, Genua, Chieti, Camerino, Rom, Neapel und Palermo - unter der Bezeichnung «Villard» gestartet haben, um die junge Generation für den Kontext zu sensibilisieren, in dem sie baut. Jedes Jahr wird ein Wettbewerb für ein Projekt ausgeschrieben, das einen Ort aus ihrem Einzugsgebiet ins Visier nimmt, der städtebaulich aufgewertet werden soll. Im Jahr 2000 war es Palermo, dieses Jahr nun Lecce. Die Projekte werden ausgestellt und diskutiert; das beste wird prämiert.
Ende April dieses Jahres wurden Sie mit dem neu geschaffenen Amt des Direktors für zeitgenössische Architektur und Kunst im Kulturministerium betraut, obwohl der Regierungswechsel bereits Tatsache war. Ein etwas seltsamer Zeitpunkt.
Die Idee, die DARC zu schaffen, geht auf eine Initiative des damaligen Kulturministers Walter Veltroni zurück. Am 10. Februar 1998 lud er hundert renommierte Architekten zum Gespräch über Massnahmen zur Förderung guter Architektur ein, unter ihnen Bruno Zevi, Francesco Cellini, Alessandro Anselmi, Giorgio Muratore, Paolo Portoghesi, Massimiliano Fuksas, Gae Aulenti, Vittorio Gregotti. Es war eine Marathondebatte, die zunächst im Vorschlag Zevis gipfelte, ein Gesetz für die Architektur zu schaffen und - später - die DARC ins Leben zu rufen.
Das Gesetz, das Zevi, der im Herbst desselben Jahres verstarb, vorschlug - wurde es geschaffen?
Ja, es wurde vom Ministerrat gebilligt, aber die Zeit reichte vor dem Ablauf der Legislatur nicht mehr, es auch vom Parlament absegnen zu lassen. Ich hoffe, es wird dem jetzigen Parlament ein analoges Gesetz vorgelegt werden können.
Was ist der Inhalt des Gesetzes?
Das Gesetz begünstigt das Ausschreiben von Architekturwettbewerben, wenn öffentliche Körperschaften Bauten realisieren wollen. Es schafft die Voraussetzung, dass auch architektonische Werke der jüngeren Vergangenheit geschützt werden können - ein Passus, der zwar durch das Urheberrechtsgesetz von 1941 bereits abgedeckt wäre. Aber mit der DARC besteht nun eine Institution, die dem Ministerium Bauten nennen kann, die sie besonders schützen möchte. Parallel dazu verankert das Gesetz die Aufgabe der DARC, sich für Lehrgänge an den Universitäten auf dem Gebiet der Erhaltung moderner und zeitgenössischer Architektur einzusetzen.
Noch ist das Gesetz nicht in Kraft. Welche Aufgaben können Sie ohne diese Legitimation anpacken?
Oberstes Ziel ist es, die zeitgenössische Architektur und Kunst zu fördern. Was das bedeutet, mögen Sie an der Zahl der Museen ermessen: Soviel ich weiss, haben Sie in der Schweiz nahezu in jedem Kanton ein Museum für zeitgenössische Kunst, in ganz Italien sind es nicht mehr als zehn. Und Architekturmuseum gibt es kein einziges. Es ist deshalb auch vorgesehen, ein spezielles Augenmerk auf die Nachlässe und Archive namhafter Architekten des 20. Jahrhunderts zu werfen. Wir wollen sie sammeln und erschliessen, ehe sie entsorgt oder veräussert werden - eine Gefahr, die ihnen latent droht. Das geplante Architekturmuseum im Centro von Zaha Hadid in Rom soll denn auch der Knotenpunkt eines Netzes von Architekturmuseen und Privatarchiven werden.
Und ausgerechnet für das in Hadids Centro geplante Architekturmuseum fehlen noch die Gelder?
Inzwischen haben wir immerhin die Finanzierung für die Projektierung und den Bau von mehr als der Hälfte des Gebäudes - für die Sammlung der Kunstwerke des 21. Jahrhunderts, für temporäre Ausstellungen usw. Dass die Kosten für das Architekturmuseum, für Forschungslabors und Künstlerateliers noch nicht gedeckt sind, ist zweifellos ein Wermutstropfen.
Berlusconi hat den Politikwissenschafter Giuliano Urbani als Kulturminister eingesetzt, der schon 1994 dem Kabinett des «cavaliere» angehörte. Wird er das Ulivo-Erbe von Walter Veltroni und Giovanna Melandri antreten?
Nun, gegenwärtig signalisiert Urbani, die Kontinuität bewahren zu wollen. Man wird sehen, wie es sich weiterentwickelt.
Starkult und „Esterofilismo“
Umstrittener architektonischer Aufbruch in Rom
In den letzten Jahren dominierte die Polemik um Renzo Pianos Auditorium die architektonischen Schlagzeilen über die Ewige Stadt. Dass zahlreiche Wettbewerbe nicht im Getriebe der Bürokratie zermalmt wurden, wird kaum wahrgenommen, obwohl sie mehrheitlich an international tätige Architekten gingen. Roms architektonische Erneuerung dürfte auch unter dem neuen Bürgermeister Walter Veltroni andauern.
Die Meinungen über die Regierungszeit der bisherigen Ulivo-Koalition sind in Italien - wie die jüngsten Wahlen zeigten - geteilt. Doch war es der erfolglos als Spitzenkandidat des Centrosinistra ins Rennen gestiegene und deshalb Anfang Jahr zurückgetretene Bürgermeister von Rom, Francesco Rutelli, der sich wie kein anderer Politiker für die architektonische Erneuerung der Ewigen Stadt eingesetzt hatte. Er liess die antiken Stätten für das Giubileo rüsten, Palazzi und Kirchen restaurieren, Plätze neu gestalten und vom Verkehr befreien. Rutelli initiierte zudem - unterstützt von Walter Veltroni, dem einstigen Kulturminister und frisch gewählten Römer Bürgermeister - wichtige Architekturwettbewerbe. Deren letzter war die jüngst jurierte Ausschreibung für das Gebiet der ehemaligen Birreria Peroni im Quartier Salario-Nomentano unweit der vor kurzem restaurierten und ausgebauten Stazione Termini, aus der die Französin Odile Decq als Siegerin hervorging.
Das ambitionierteste Neubauprojekt ist hingegen das Centro per le Arti Contemporanee im Quartier Flaminio, das aus der Feder Zaha Hadids stammt. Mit diesem korreliert der Erweiterungsbau der Galleria Nazionale d'Arte Moderna von Diener & Diener. Geographisch zwischen beiden liegt Renzo Pianos Auditorium. Gewissermassen als Gegengewicht zu diesen den Norden der Stadt privilegierenden Projekten entsteht im Gebiet von EUR der von Massimiliano Fuksas skizzierte Centro Congressi; und im Herzen der Stadt, auf der Piazza Augusto Imperatore, ist die neue Hülle für die Ara Pacis von Richard Meier in Bau. Im Westen, im Gebiet Tor Tre Teste, setzt derselbe Architekt mit der Chiesa del 2000, die indes erst Ende dieses Jahres geweiht werden wird, ein religiöses Zeichen.
Zu viele ausländische Architekten?
Nach all diesen Projekten nun also noch der von Odile Decq gewonnene Umbau eines Teils der Birreria Peroni. Drei Gebäudekomplexe umfasste das Peroni-Imperium bis 1971, als die Produktion aufgegeben wurde: den Firmensitz, hinter dessen repräsentativer Fassade sich heute ein Parkhaus verbirgt, die Fabrikbauten aus der Jahrhundertwende an der Piazza Alessandria, die heute in renoviertem Zustand eine Ladenpassage beherbergen, und das Konglomerat auf dem von der Via Reggio Emilia, der Via Nizza und der Via Cagliari begrenzten Grundstück. Dieses wird neues Domizil der Galleria Comunale d'Arte Moderna e Contemporanea. Von dem Teil, den Gustavo Giovannoni in den zwanziger Jahren entwarf, hat sie bereits Besitz ergriffen. Der Bau mit der Portiersloge an der Via Reggio Emilia ist nunmehr Eingang zur Galerie. Die dahinter liegenden ehemaligen Stallungen und Magazine, die einen Hof flankieren, wurden von einem kommunalen Planungsbüro 1996 bis 1999 zu Ausstellungsflächen und Büros umfunktioniert.
Sich mit diesem Fait accompli zu arrangieren und den gegen die Via Nizza und die Via Cagliari orientierten Bereich zu gestalten, war keine leichte Aufgabe. Die divergierenden Auffassungen der beiden Wettbewerbsbeiträge von Odile Decq und Nicola di Battista, wie dies zu lösen sei, zeigen sich insbesondere an der Behandlung der Fassaden, die erhalten werden mussten. Zwar macht Decq wie kaum einer ihrer Konkurrenten deutlich, dass diese äussere Hülle nur noch Relikt ist. Aber sie wertet sie auch auf, indem sie die Fassaden in der Ecke, dem Schnittpunkt von Via Nizza und Via Cagliari, mit einem Eingang aufbricht und ihn mit einem markanten, vorkragenden Glaskubus überhöht. Di Battista hingegen tastet die Integrität der Ecke nicht an. Indem er drei Zugangstore ausschneidet, die die Proportionierung der bestehenden Fassade wahren, betont er deren Mediokrität.
Manche Italiener fühlen sich auf Grund des Juryentscheides einmal mehr benachteiligt. Sie monieren, die Juroren frönten dem «Esterofilismo» und überliessen den Einheimischen bloss die undankbare Aufgabe von Platzgestaltungen, mit denen kaum Lorbeeren zu holen seien. Dass das Programm der Cento Piazze von Architekten der zweiten und dritten Garde bewältigt wird, hat indes auch finanzielle Gründe. Da der Satz, der für die Wettbewerbsprämien zur Verfügung steht, auf ein Prozent der Bausumme reduziert wurde, wäre ein zweistufiges Verfahren heute auch für die Birreria nicht mehr möglich. Deren Baukosten werden auf rund 16 Millionen Franken veranschlagt. Der so zustande gekommene Ausschluss der Stars bei der Gestaltung der 100 Plätze böte aber jungen Architekten die Chance, sich zu profilieren. Dass die indes bisher nur bedingt genutzt wurde, zeigen die Giardini San Giovanni, die Piazza Parlamento, die Piazza del Popolo oder die Piazza Montecitorio. Letztere etwa ist im Wesentlichen ein Rückbau der Eingriffe Ernesto Basiles und eine Annäherung an die barocke Platzgestalt aus der Zeit, da Carlo Fontana den von Bernini begonnenen Palazzo Montecitorio vollendete.
Moderne auf dem Opferaltar?
Ein anderer Fall ist der Platz vor der Ara Pacis Augustae. Den Auftrag, den Friedensaltar mit einer neuen Hülle zu umgeben, vergab die Stadt ohne Wettbewerb an den Amerikaner Richard Meier. An diesem Entscheid haben die Römer vor Ort ihren Unmut ausgelassen: Mehr oder minder unflätige Sprüche «zieren» die Bauabschrankung. Dahinter erhebt sich ein Podium, auf dem ein langgestrecktes, einstöckiges Gebäude entsteht, das in drei Teile gegliedert ist: in ein Auditorium mit 150 Plätzen, einen verglasten Pavillon, der den Altar birgt, und einen steinverkleideten Ausstellungsraum und Museumsshop. Erst wenn dieser Bau steht - voraussichtlich im Jahr 2002 -, soll ein Wettbewerb über die Platzgestaltung ausgeschrieben werden. Darüber ärgert sich Giorgio Muratori, Professor für moderne und zeitgenössische Architektur an der Universität La Sapienza, ebenso wie über den Entscheid, einen modernen Bau «einfach durch einen andern modernen Bau zu ersetzen». Jener war laut Meier aber im Zustand fortgeschrittenen Zerfalls.
Für Muratori, einen der radikalsten Polemiker in der römischen Architekturdebatte, zeugt dieses Vorgehen hingegen vom mangelnden Respekt gegenüber der Architektur der Moderne, wie er sich auch im Falle der Galleria d'Arte Moderna e Contemporanea am Viale delle Belle Arti manifestiere. Deren Erweiterungsbau, den Luigi Cosenza 1965 entwarf, wird einem Projekt von Diener & Diener «geopfert». Doch so einfach - abreissen oder erhalten - stellte sich die Frage nicht. Zum einen ging es nicht um einen isolierten Bau des neapolitanischen Ingenieurs, sondern um eine Erweiterung des 1911 von Cesare Bazzini zur 50-Jahr-Feier der Einheit Italiens errichteten und 1933 vergrösserten Baus. Um diese monumentale Anlage mit klassizierender Fassade konnte man sich nicht foutieren. Zum andern mutet es anachronistisch an, Cosenzas in den sechziger Jahren entworfenen Bau im Jahr 2001 zu Ende bauen zu wollen. Einen Bau, der Mitte der siebziger Jahre in Angriff genommen und 1988 eingestellt wurde, als erst ein Teil, die sogenannte Manica lunga, stand.
Ein Zeugnis eines Architekten abzubrechen, der für die italienische Architektur prägend war, empfanden dennoch alle Konkurrenten ausser Diener & Diener offenbar als Vandalenakt. Jedenfalls erwiesen sie der Manica lunga mehr oder weniger ausgeprägt ihre Reverenz. Sei es, dass sie nur die Form des langgestreckten Baukörpers, sei es, dass sie auch die charakteristische zenitale Belichtung übernahmen. David Chipperfield wollte die Manica lunga gar restaurieren und mit Bauten ergänzen, die sich in ihrer Formensprache klar von dieser abgrenzen. Noch einen Schritt weiter ging Dominique Perrault. Er behandelte die Manica lunga wie eine moderne archäologische Ruine und packte deren konstruktives Skelett in eine Hülle aus Glas.
Es mag erstaunen, dass Diener & Diener, die sich gerade auch durch ihren subtilen Umgang mit historischer Bausubstanz einen Namen schufen, den radikalsten Eingriff aller Wettbewerbsteilnehmer vorlegten - radikal gegenüber Cosenza. Die Autonomie, die die Architektur der sechziger Jahre für sich reklamierte, scheint für Roger Diener überholt zu sein - spätestens seit die Charta von Venedig 1964 postulierte, das Denkmal nicht zur Kulisse zu degradieren. So lehnt sich sein Projekt nicht nur in der Volumetrie, sondern auch physisch an Bazzinis Bau an. In Opposition zu diesem stellt er sich, indem er die Orientierung ändert und den Zugang auf die Ostseite verlegt. Diese öffnet sich gegen die Via Gramsci mit einer grandiosen Skulpturenvitrine. Dahinter verbirgt sich das Auditorium, an das die Säle anschliessen, die 4000 Quadratmeter durch Shed-Oberlichter natürlich beleuchtete Ausstellungsfläche bieten. Das Untergeschoss beherbergt Räume für die grafische Sammlung, für Depots und die Restaurierungslabors. Auch mit der Farbgebung verneigen sich Diener & Diener vor Bazzini. Die Wandflächen der in Sichtbeton ausgeführten Struktur, an denen die innere Gliederung der Räume ablesbar ist, werden mit Glasfeldern bzw. Sandstein ausgefacht. Ende August will Diener das Ausführungsprojekt abgeben, im Oktober den Vertrag mit dem Generalunternehmer unterzeichnen und danach mit dem 30-Millionen-Franken-Bau beginnen, der rund zwei Jahre in Anspruch nehmen soll.
Unabhängig von der Qualität des Siegerprojekts ist der Entscheid - für Bazzini, wider Cosenza - auch ein ideologischer, der nicht der Ironie entbehrt. Eine Ironie, die Perrault mit seiner Schutzhülle für Cosenza transparent machte. In dem Graben, der sich zwischen Bazzinis 33er Bau und Cosenzas Manica lunga auftut, befinden sich nämlich die kümmerlichen Überreste eines altrömischen Brunnens oder eines Farblagers, die sich einer genauen Identifizierung entziehen. Mehr als die Hälfte dieser einst wohl einen Kreis umschreibenden Mauern fielen dem zweiten Bazzini-Bau zum Opfer. Der Rest muss nun konserviert und in den Neubau integriert werden!
Konservatorische Schizophrenie
Muratoris Kopfschütteln über die Schizophrenie im Umgang mit historischer Bausubstanz - so unzimperlich gegenüber dem modernen Erbe, so hysterisch gegenüber dem antiken - ist, wenn man an Renzo Pianos Auditorium denkt, durchaus nachvollziehbar. Der Genuese war gezwungen, sein Projekt zu ändern, um eine römische Villa zu integrieren, auf die man bei den Aushubarbeiten gestossen war. Nachdem man ausserdem festgestellt hatte, dass das Niveau des Grundwasserspiegels höher lag als ursprünglich angenommen, mussten die drei muschelförmigen Baukörper so angehoben werden, dass ihre gewölbten Dächer nun eher in Konkurrenz zur hügeligen Parklandschaft der Villa Glori treten, als sie als Prospekt zu gewinnen. Nervis legendärer Palazzetto dello Sport wird so gleichsam miniaturisiert. Bis zu seiner Vollendung in drei Jahren wird das Auditorium voraussichtlich statt rund 100 gegen 160 Millionen Franken verschlungen haben.
Einen Steinwurf vom Auditorium entfernt, im Flaminio-Quartier zwischen der Piazza del Popolo und dem Ponte Milvio, liegen die Hallen der von Riccardo Memmo 1907 errichteten ehemaligen Autofabrik Montello. Anfang 2002 sollen hier die Bauarbeiten für das Centro per le Arti Contemporanee beginnen - so meint jedenfalls Zaha Hadid, die Urheberin des siegreichen Wettbewerbsprojekts von 1999. Francesco Garofalo, Professor an der Architekturfakultät von Pescara, sieht den Zeitplan pessimistischer und rechnet mit dem Baubeginn Ende 2002. Garofalo war Mitglied der Gruppe, die das Programm für das neue Kunstzentrum festlegte. Geleitet wurde sie von der Direktorin der Galleria d'Arte Moderna e Contemporanea, Sandra Pinto. Denn Hadids und Dieners Projekt sind miteinander verbunden, war doch ursprünglich vorgesehen, rund 250 nach 1968 entstandene Werke von der Galleria d'Arte Moderna ins Centro per le Arti Contemporanee zu transferieren. Die Jahrzahl sollte nicht so sehr eine politische Zäsur nachvollziehen als vielmehr die Galleria d'Arte Moderna von zunehmend «sperriger» werdenden Werken «entlasten». Ausserdem hätte dem Centro per le Arti Contemporanee gleichsam der Grundstock einer Sammlung zur Verfügung gestanden. Inzwischen will Sandra Pinto aber keinen ihrer Schätze mehr hergeben. Die noch zu nominierende Direktion des Centro per le Arti Contemporanee wird «da zero» beginnen müssen.
Auch architekturhistorisch ist der Zusammenhang zwischen der Galleria d'Arte Moderna und dem Centro per le Arti Contemporanee gegeben. Jene internationale Ausstellung zur 50-Jahr-Feier der Einigung Italiens 1911 war auch ein Fanal für die moderne Architektur. Marcello Piacentini skizzierte die Pläne für das Gebiet der Piazza d'Armi auf der andern Seite des Tibers. Der Ponte Risorgimento entstand nach dem Entwurf von François Hennebique. Später entwarf Luigi Moretti das Foro Mussolini und baute die Casa delle Armi. In den fünfziger und sechziger Jahren folgten das Stadio Flaminio, der Palazzetto dello Sport, Nervis Viadotto di Corso di Francia sowie der Villaggio Olimpico mit Bauten von Cafiero, Libera, Luccichenti, Monaco und Moretti.
Zweifellos legte Zaha Hadid das visuell dynamischste der eingereichten Projekte vor. Aus der Vogelschau erinnert es an die Geleiseanlage eines Bahnhofes. Man nimmt zunächst ein Gewirr von Bändern wahr, die in Kurven das Terrain durchziehen. Diese Bänder, in denen man dereinst weniger flanieren als navigieren wird, bündeln sich zu einzelnen Gebäudekomplexen. Sie sind über- und nebeneinander geschichtet oder durchstossen sich. Bald erstrecken sie sich von der Via Guido Reni über das ganze Terrain bis zur Via Masaccio, bald diktiert ihnen die im Westen angrenzende Polizeikaserne eine Richtungsänderung, bald bleiben sie als Fragment förmlich in der Luft hängen. An dieser Stelle, am höchsten Punkt des Baus, placiert Hadid das Auditorium, das 450 Menschen Raum bietet. Neben Ausstellungsräumen für das Museum des 21. Jahrhunderts - dreimal 2000 Quadratmeter für die Sammlung und weitere 2000 Quadratmeter für Wechselausstellungen - soll das Centro per le Arti Contemporanee im Jahre 2005 unter anderem ein Architekturmuseum, Einrichtungen für kulturelle Aktivitäten, Biblio- und Mediathek, Läden und Galerien, Künstlerateliers, Räume für Forschung und Konservierung und ein Restaurant beherbergen. Alles in allem 26 000 Quadratmeter. In den auf knapp 200 Millionen Franken budgetierten Baukosten ist ausserdem ein Parkhaus enthalten.
Indem Hadid ihren Gebäudekomplex diagonal über das Grundstück hinweg zieht, schafft sie nicht nur ein überfälliges Gegengewicht zu der mit den beiden parallelen Strassen Viale Flaminia und Viale Tiziano extrem Nord-Süd-orientierten Erschliessung. Sie verstärkt auch die Querverbindung der Via Guido Reni zum Tiber und antizipiert gleichsam die Fussgängerbrücke zum Foro Italico - ein seit 1911 bestehendes Defizit. Für diesen Ponte della Musica gibt es inzwischen auch ein Projekt von Davood Liaghat und Edward Happold, den Ingenieuren von Richard Rogers' Millennium Dome in London.
Und Hadid zollt dem Industriebau Tribut. Erhalten bleiben eine grosse Halle und das Eingangsgebäude an der Via Guido Reni. Ausserdem ist die Dachlandschaft mit ihren lamellenartigen Betonstreifen, zwischen die Glas gefügt wird, durch das das Licht fällt, eine adäquate Antwort auf die Sheddächer der Fabrikhallen. Geisselt Muratori das Hoffen auf den «Bilbao-Effekt», so vertraut die Agenzia Spaziale d'Italia (ASI) auf die Anziehungskraft des Centro per le Arti Contemporanee und seiner Erschliessung. Ein Tram verbindet den Ponte Milvio mit der Porta del Popolo, wo sich die Station Flaminio der Metrolinie A befindet. Von der Piazza Mancini aus, die sich zum Knotenpunkt entwickelt hat, werden die Gebiete im Norden und Osten bedient, und die neue Metrolinie C wird in der Nähe des olympischen Stadions Halt machen. Neben Hadids Centro per le Arti Contemporanee lässt die ASI von Massimiliano Fuksas ihren Sitz errichten. Obwohl dieser eher ins Gebiet um den Bahnhof Tiburtina gepasst hätte, das noch immer seinem Ruf, das «Beirut» Roms zu sein, gerecht wird. Mehrere Studienaufträge für die Gegend - unter anderem einer von Piano, der den Bau von acht Wolkenkratzern vorschlug - verliefen vorläufig im Sand.
Hommage an den «Razionalismo»
Fuksas ist auch der Urheber der Pläne für den Centro Congressi auf dem EUR-Gelände, der mit 160 bis 240 Millionen Franken zu Buche schlagen soll. Seine schärfsten Konkurrenten waren Richard Rogers und Ove Arup mit einem Projekt, in dessen wie eine Wanne ausgebildetem und zwischen Stahlgerüste gespanntem Dach der Versammlungssaal eingebettet worden wäre. Fuksas hingegen packt das Auditorium in eine unförmige Hülle aus Teflon, die durch eine Gitterstruktur aus Stahl zusammengehalten wird, und hängt sie in einen 30 Meter hohen kubischen, transluziden Baukörper. Nimmt sich das amorphe Gebilde im Grundriss wie eine Wolke aus, erinnert es von der Seite an einen Zeppelin in einem Hangar. Er wird über Kongressteilnehmern und Quartierbewohnern schweben, die den Bau vom Viale Europa zum Viale Shakespeare durchqueren. Dass Fuksas die strenge Geometrie des äusseren «Behälters» als Hommage an Adalberto Liberas Kongresszentrum verstanden wissen will, hat selbst Muratori versöhnlich gestimmt. Diese Gunst hätten indes auch Spadolini/Carmassi verdient, erinnert ihr Entwurf doch an Terragnis Danteum.