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Der Traum von der Europastadt
Neues Leben für ein architektonisches Juwel
Görlitz, die östlichste Stadt Deutschlands, hat Chancen, als Weltkulturerbe anerkannt zu werden. 13 Jahre Sanierung haben zur Wiedergeburt einer Stadt geführt, deren bauliche Entwicklung über Jahrhunderte von Fernhandel und Industrialisierung geprägt wurde. Heute fehlt der Stadt an der Grenze zu Polen nur noch eine gewisse Urbanität.
9. Januar 2003 - Gabriele Hoffmann
Wer als Westbesucher zu DDR-Zeiten nach Görlitz kam, erlebte an der deutsch-polnischen Grenze eine von Bomben und übereiltem Wiederaufbau verschonte deutsche Stadt. Es gab noch den Unter- und Obermarkt mit spätgotischen Laubengängen, Renaissance- und Barockbauten, dazu jenseits der erst 1848 abgebrochenen Stadtmauer die neuen Viertel mit gründerzeitlichen Mietshäusern und grossbürgerlichen Villen. Dreizehn Jahre danach ist Görlitz immer noch zwischen zwei Nationen geteilt. Doch mit dem sich abzeichnenden EU-Beitritt Polens beginnt sich das von Vorurteilen belastete Klima in der Neissestadt zu ändern. Die jungen Leute hüben und drüben stehen in den Startlöchern, um gemeinsam die Europastadt zu bauen, das deutsch- polnische Görlitz/Zgorzelec. Eines der vielen Zeichen guten Willens ist die für nächstes Frühjahr geplante Neukonstruktion der 1945 gesprengten Altstadtbrücke.
Hoffen auf den «Aufschwung Ost»
An Besuchern mangelt es der Grenzstadt schon längst nicht mehr. Was fehlt, sind junge Görlitzer, die verhindern, dass dieses einzigartige, mit viertausend denkmalgeschützten Objekten gesegnete Gemeinwesen zu einem Museum wird. Eine niedrige Geburtenrate und die Abwanderung junger Menschen in den Westen haben dafür gesorgt, dass die Einwohnerzahl von 80 000 Ende der sechziger Jahre auf heute 63 000 geschrumpft ist. Das ist nicht verwunderlich angesichts der Tatsache, dass als einziges grösseres Industriewerk nur der Bombardier-Waggonbau überlebt hat. Die vielen restaurierten Häuser können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der «Aufschwung Ost» in Görlitz noch nicht angekommen ist.
Dabei kann die Stadt auf eine blühende Vergangenheit zurückblicken. Die böhmischen Herzöge, die im 11. Jahrhundert über die Oberlausitz herrschten, besassen mit dem sorbischen Dorf Goreliz einen Kreuzungspunkt zweier bedeutender Handelsstrassen in West-Ost- und Nord-Süd- Richtung. Vom böhmischen König Ottokar I. ins Land gerufene Siedler aus Franken und Thüringen gründeten dann in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts auf dem Westufer der Neisse eine erste Kaufmannssiedlung, die sich bis 1220 zu einem städtischen Fernhandelsplatz erweiterte. Wirtschaftliche Kraft besass die Stadt im Mittelalter durch das Tuchmacherhandwerk sowie den Handel mit Tüchern und dem Färbemittel Waid. Mit königlichen Privilegien wie Münzprägerecht und Hoher Gerichtsbarkeit ausgerüstet, trat Görlitz 1346 dem oberlausitzischen Sechsstädtebund bei. Das Ziel war zunächst der Schutz der Handelswege. Doch mit Beginn der Hussitenkriege setzten die Städte ihre vom König verbriefte Macht mehr und mehr gegen die mit den «Ketzern» sympathisierenden Handwerker und Besitzlosen ein. Aus dem oft blutigen Machtgerangel ging in Görlitz die Ratsoligarchie gestärkt hervor.
Das Bild, das die herausgeputzte Neissestadt heute wieder bietet, ist ein getreues Abbild dieser Entwicklung. Das Repräsentationsbedürfnis der reichen Kaufmannsschicht prägte den Stil der Häuser von der Neissstrasse über den Untermarkt, die Brüderstrasse und den Obermarkt bis zum Kaisertrutz, der mächtigsten unter den mittelalterlichen Bastionen, und seinem über hundert Jahre älteren eleganten Gegenstück, dem Reichenbacher Turm. Die Viertel der Gerber und Tuchfärber lagen zu beiden Seiten des Flusses; Bäcker, Schmiede und Papierschöpfer nutzten die Wasserkraft von Neisse und Lunitz für ihre Mühlen. Der Initiative von Kunsthistorikern, Denkmalpflegern und engagierten Bürgern ist es zu danken, dass in der DDR-Zeit der Abriss historischer Gebäude verhindert werden konnte.
Kaufmannshäuser und Sakralbauten
Der grösste Teil der Baudenkmäler, die den Krieg und die spätere Verwahrlosung überstanden, wurde saniert und bestimmt heute wieder das Stadtbild. Der ringförmige, durch die «Zeile» in einen nördlichen und einen südlichen Bereich geteilte Untermarkt besitzt auf der Ostseite noch die alten «Hirschläuben», einen gotischen Arkadengang mit Netzrippengewölbe. Nach dem grossen Stadtbrand von 1525 dienten die stehen gebliebenen Verkaufslauben als Substruktion für Neubauten im Stil der Renaissance. Aus dieser Zeit stammt der prachtvolle Schönhof, ein Werk, mit dem der in Schlesien und der Oberlausitz tätige Wendel Roskopf d. Ä. in die Reihe der führenden deutschen Renaissancebaumeister aufrückte. Von ihm stammt auch die Görlitzer Rathaustreppe von 1537 mit Kanzel und Justitia- Standbild. Die Restaurierung nach 1989 galt gewachsenen Ensembles - kleinen und grossen Stadträumen, die miteinander in lebhaftem Austausch stehen. Aus diesem Zusammenklang historischer Stile tönen mal lauter, mal leiser die Stimmen einzelner Architekten und Bauherren.
Wir sind es gewohnt von Residenzstädten baukünstlerische Höchstleistungen zu erwarten. Görlitz ist ein Gegenbeispiel, eine Bürger- und Handelsstadt, die sich ihren architektonischen Reichtum aus den Anpassungen an wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen geschaffen hat. Den überzeugendsten Ausdruck dafür findet man im Typus des Görlitzer Hallenhauses, der Wohn- und Arbeitsstätte eines Handelsherrn. Die Organisation des Hauses lässt sich nur erschliessen, wenn man durch das Portal in die gewölbte Erdgeschosshalle tritt. Von dort führt eine Treppe in den Keller, wo das selbst gebraute Bier lagerte, eine andere in die zentrale Halle, die durch mehrere Stockwerke bis unter das Dach reichte. Von dort empfing sie durch ein Fenster Tageslicht. Eine Öffnung zwischen Zentralhalle und Kontor verschaffte dem Hausherrn die Kontrolle über wichtige Vorgänge in seiner Umgebung. Umlaufende Galerien und die halbgeschossig versetzten Wohn-, Arbeits- und Lagerräume bildeten ein ebenso zweckmässiges wie repräsentatives Ganzes. Die Görlitzer Hallen sind in ihrem heutigen Zustand das Ergebnis mehrerer zweckgerichteter Umbauten, bei denen von der ursprünglichen Grosszügigkeit immer etwas verloren ging. Heftige Diskussionen löst bei jeder Sanierung die Frage aus: Wo soll erhalten, wo zurückgebaut werden? Allgemein gilt, dass historische Veränderungen von zeitgeschichtlicher Bedeutung bewahrt werden.
Unter den Görlitzer Sakralbauten besitzt neben der Peterskirche, einem spätgotischen, in seiner Leichtigkeit beeindruckenden fünfschiffigen Hallenbau, das Heilige Grab stadtgeschichtliche Bedeutung. Die private Stiftung aus dem späten 15. Jahrhundert ist eine ziemlich massstabgetreue Nachbildung des Jerusalemer Heiligen Grabes mit Kreuzkapelle, Grabkapelle und Salbstein in der von den Kreuzrittern im 12. Jahrhundert geschaffenen Form. Von anderen europäischen Heiliggrab-Nachbildungen unterscheidet sich die Görlitzer durch ihre Einbettung in die Landschaft. Die Restaurierung der Anlage bewirkte, dass die Karfreitagsprozession von der Peterskirche zum Heiligen Grab wiederbelebt wurde.
Es gibt noch einen anderen Ort, dem die Görlitz-Enthusiasten zu einem Superlativ verholfen haben: Karstadt, «Deutschlands schönstes Kaufhaus» von 1912. Die Fassade der wuchtigen natursteinverkleideten Stahlskelettkonstruktion verrät nichts von ihrem Inneren. Das Haus empfängt seine Kunden in einem weiten Lichthof unter einer prächtigen Jugendstil-Glaskuppel und geleitet sie über eine stilvolle zweiarmige Treppenanlage zu den drei oberen Einkaufsgalerien. Nach der Restaurierung sind selbst die lange verbannten Lüster wieder an ihren Platz zurückgekehrt. - Seit 1995 werden mit dem jährlich überwiesenen Geld eines anonymen Spenders immer mehr Sanierungsprojekte realisiert. Das ist die eine Wahrheit. Die andere lautet: Zurzeit wird ein «Stadt-Umbau-Programm» diskutiert, das bis 2015 den Abriss von 8500 nicht vermietbaren und also dem Verfall preisgegebenen Wohnungen vorsieht.
Hoffen auf den «Aufschwung Ost»
An Besuchern mangelt es der Grenzstadt schon längst nicht mehr. Was fehlt, sind junge Görlitzer, die verhindern, dass dieses einzigartige, mit viertausend denkmalgeschützten Objekten gesegnete Gemeinwesen zu einem Museum wird. Eine niedrige Geburtenrate und die Abwanderung junger Menschen in den Westen haben dafür gesorgt, dass die Einwohnerzahl von 80 000 Ende der sechziger Jahre auf heute 63 000 geschrumpft ist. Das ist nicht verwunderlich angesichts der Tatsache, dass als einziges grösseres Industriewerk nur der Bombardier-Waggonbau überlebt hat. Die vielen restaurierten Häuser können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der «Aufschwung Ost» in Görlitz noch nicht angekommen ist.
Dabei kann die Stadt auf eine blühende Vergangenheit zurückblicken. Die böhmischen Herzöge, die im 11. Jahrhundert über die Oberlausitz herrschten, besassen mit dem sorbischen Dorf Goreliz einen Kreuzungspunkt zweier bedeutender Handelsstrassen in West-Ost- und Nord-Süd- Richtung. Vom böhmischen König Ottokar I. ins Land gerufene Siedler aus Franken und Thüringen gründeten dann in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts auf dem Westufer der Neisse eine erste Kaufmannssiedlung, die sich bis 1220 zu einem städtischen Fernhandelsplatz erweiterte. Wirtschaftliche Kraft besass die Stadt im Mittelalter durch das Tuchmacherhandwerk sowie den Handel mit Tüchern und dem Färbemittel Waid. Mit königlichen Privilegien wie Münzprägerecht und Hoher Gerichtsbarkeit ausgerüstet, trat Görlitz 1346 dem oberlausitzischen Sechsstädtebund bei. Das Ziel war zunächst der Schutz der Handelswege. Doch mit Beginn der Hussitenkriege setzten die Städte ihre vom König verbriefte Macht mehr und mehr gegen die mit den «Ketzern» sympathisierenden Handwerker und Besitzlosen ein. Aus dem oft blutigen Machtgerangel ging in Görlitz die Ratsoligarchie gestärkt hervor.
Das Bild, das die herausgeputzte Neissestadt heute wieder bietet, ist ein getreues Abbild dieser Entwicklung. Das Repräsentationsbedürfnis der reichen Kaufmannsschicht prägte den Stil der Häuser von der Neissstrasse über den Untermarkt, die Brüderstrasse und den Obermarkt bis zum Kaisertrutz, der mächtigsten unter den mittelalterlichen Bastionen, und seinem über hundert Jahre älteren eleganten Gegenstück, dem Reichenbacher Turm. Die Viertel der Gerber und Tuchfärber lagen zu beiden Seiten des Flusses; Bäcker, Schmiede und Papierschöpfer nutzten die Wasserkraft von Neisse und Lunitz für ihre Mühlen. Der Initiative von Kunsthistorikern, Denkmalpflegern und engagierten Bürgern ist es zu danken, dass in der DDR-Zeit der Abriss historischer Gebäude verhindert werden konnte.
Kaufmannshäuser und Sakralbauten
Der grösste Teil der Baudenkmäler, die den Krieg und die spätere Verwahrlosung überstanden, wurde saniert und bestimmt heute wieder das Stadtbild. Der ringförmige, durch die «Zeile» in einen nördlichen und einen südlichen Bereich geteilte Untermarkt besitzt auf der Ostseite noch die alten «Hirschläuben», einen gotischen Arkadengang mit Netzrippengewölbe. Nach dem grossen Stadtbrand von 1525 dienten die stehen gebliebenen Verkaufslauben als Substruktion für Neubauten im Stil der Renaissance. Aus dieser Zeit stammt der prachtvolle Schönhof, ein Werk, mit dem der in Schlesien und der Oberlausitz tätige Wendel Roskopf d. Ä. in die Reihe der führenden deutschen Renaissancebaumeister aufrückte. Von ihm stammt auch die Görlitzer Rathaustreppe von 1537 mit Kanzel und Justitia- Standbild. Die Restaurierung nach 1989 galt gewachsenen Ensembles - kleinen und grossen Stadträumen, die miteinander in lebhaftem Austausch stehen. Aus diesem Zusammenklang historischer Stile tönen mal lauter, mal leiser die Stimmen einzelner Architekten und Bauherren.
Wir sind es gewohnt von Residenzstädten baukünstlerische Höchstleistungen zu erwarten. Görlitz ist ein Gegenbeispiel, eine Bürger- und Handelsstadt, die sich ihren architektonischen Reichtum aus den Anpassungen an wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen geschaffen hat. Den überzeugendsten Ausdruck dafür findet man im Typus des Görlitzer Hallenhauses, der Wohn- und Arbeitsstätte eines Handelsherrn. Die Organisation des Hauses lässt sich nur erschliessen, wenn man durch das Portal in die gewölbte Erdgeschosshalle tritt. Von dort führt eine Treppe in den Keller, wo das selbst gebraute Bier lagerte, eine andere in die zentrale Halle, die durch mehrere Stockwerke bis unter das Dach reichte. Von dort empfing sie durch ein Fenster Tageslicht. Eine Öffnung zwischen Zentralhalle und Kontor verschaffte dem Hausherrn die Kontrolle über wichtige Vorgänge in seiner Umgebung. Umlaufende Galerien und die halbgeschossig versetzten Wohn-, Arbeits- und Lagerräume bildeten ein ebenso zweckmässiges wie repräsentatives Ganzes. Die Görlitzer Hallen sind in ihrem heutigen Zustand das Ergebnis mehrerer zweckgerichteter Umbauten, bei denen von der ursprünglichen Grosszügigkeit immer etwas verloren ging. Heftige Diskussionen löst bei jeder Sanierung die Frage aus: Wo soll erhalten, wo zurückgebaut werden? Allgemein gilt, dass historische Veränderungen von zeitgeschichtlicher Bedeutung bewahrt werden.
Unter den Görlitzer Sakralbauten besitzt neben der Peterskirche, einem spätgotischen, in seiner Leichtigkeit beeindruckenden fünfschiffigen Hallenbau, das Heilige Grab stadtgeschichtliche Bedeutung. Die private Stiftung aus dem späten 15. Jahrhundert ist eine ziemlich massstabgetreue Nachbildung des Jerusalemer Heiligen Grabes mit Kreuzkapelle, Grabkapelle und Salbstein in der von den Kreuzrittern im 12. Jahrhundert geschaffenen Form. Von anderen europäischen Heiliggrab-Nachbildungen unterscheidet sich die Görlitzer durch ihre Einbettung in die Landschaft. Die Restaurierung der Anlage bewirkte, dass die Karfreitagsprozession von der Peterskirche zum Heiligen Grab wiederbelebt wurde.
Es gibt noch einen anderen Ort, dem die Görlitz-Enthusiasten zu einem Superlativ verholfen haben: Karstadt, «Deutschlands schönstes Kaufhaus» von 1912. Die Fassade der wuchtigen natursteinverkleideten Stahlskelettkonstruktion verrät nichts von ihrem Inneren. Das Haus empfängt seine Kunden in einem weiten Lichthof unter einer prächtigen Jugendstil-Glaskuppel und geleitet sie über eine stilvolle zweiarmige Treppenanlage zu den drei oberen Einkaufsgalerien. Nach der Restaurierung sind selbst die lange verbannten Lüster wieder an ihren Platz zurückgekehrt. - Seit 1995 werden mit dem jährlich überwiesenen Geld eines anonymen Spenders immer mehr Sanierungsprojekte realisiert. Das ist die eine Wahrheit. Die andere lautet: Zurzeit wird ein «Stadt-Umbau-Programm» diskutiert, das bis 2015 den Abriss von 8500 nicht vermietbaren und also dem Verfall preisgegebenen Wohnungen vorsieht.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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