Artikel
Abenteuer Konstruktion
Heinz Hossdorf und die Kunst des Bauingenieurs
4. März 2003 - Jürg Conzett
Den herausragenden Qualitäten seines Lebenswerks, seiner Vielseitigkeit und seinem unkonventionellen Denken zum Trotz ist der Bauingenieur Heinz Hossdorf bisher von einer breiten Öffentlichkeit nicht in dem ihm zustehenden Mass wahrgenommen worden. Sein Buch «Das Erlebnis Ingenieur zu sein» bietet nun die Möglichkeit, sich mit seinem Werk gründlich auseinanderzusetzen. Im ersten Teil, überschrieben mit «Baukonstruktionen», werden vierzehn ausgeführte Bauten vorgestellt, darunter die Goldzack-Werke in Gossau, der Pavillon «Les échanges» der Expo 64 in Lausanne und das bis in die Freitreppen virtuos durchgestaltete Betonwerk in Gunzgen. Anschliessend erklärt Hossdorf die formale und materialgerechte Umsetzung statischer Konzepte. Bei räumlichen Gebilden wie Schalenkonstruktionen besteht keine eindeutige Beziehung zwischen leistungsfähigster Form und Beanspruchung. Die dadurch mögliche Vielfalt der letztlich intuitiven Formfindung fasziniert Hossdorf, und deshalb liebt er komplexe räumliche Tragwerke. Um diese realisieren zu können, muss er seine technischen Hilfsmittel über die Grenzen der ebenen Stabstatik hinaus erweitern.
Assoziative Lösungsvorschläge
Ab den fünfziger Jahren beginnt er, sein Laboratorium für Modellstatik aufzubauen. Der Einbezug des Computers führt später zur Hossdorf'schen Hybridstatik, bei der Messungen an Modellen mit elektronischer Datenverarbeitung verknüpft werden. Die Geschichte des Versuchslabors mit all den eigens dafür entwickelten Maschinen und Geräten bildet den zweiten, mit «Entwurfswerkzeuge» überschriebenen Teil des Buches. Ein abschliessendes Kapitel über Hossdorfs spätere Forschungstätigkeit zur Computermodellierung der gegenständlichen Welt ist vom Physiker und Informatiker Peter Dietz verfasst worden.
Bereits bei einem Tragwerk geringer Komplexität ist die Form das Ergebnis einer persönlichen Interpretation des Problems und damit eine individuelle Wahl. Der Entscheid für ein statisches System wird durch die Vorstellungswelt des Entwerfenden geprägt, und diese ist Quelle assoziativer Lösungsvorschläge, die anschliessend auf ihre Tauglichkeit überprüft werden müssen. Damit distanziert sich Hossdorf von der üblichen Anschauung, dass Bauingenieurarbeit vorwiegend rational determiniert sei, einer Haltung, die innerhalb der Zunft auch deshalb weit verbreitet ist, weil sie ihren Vertretern Macht aus der angeblich unbestechlichen Berechenbarkeit verleiht. Erfrischend ist auch, wie Hossdorf die gegenwärtig modischen organischen Analogien zwischen Tragwerk und Formen der Tier- und Pflanzenwelt als untauglich bezeichnet und die Bedeutung der Idealformen der anorganischen Welt (wie aufgelegte Tropfen usw.) auf diejenige von Denkanstössen begrenzt.
Aus der historischen Tatsache, dass Ingenieurtheorien in der Regel post festum entstanden sind, schliesst er, dass auch der Seitenblick auf eine zufällige und limitierte Sammlung von bereits bestehenden Tragwerkstypologien wenig leistungsfähig sei. Von zentraler Bedeutung hingegen ist ihm die taktile Wahrnehmung, die für den Konstrukteur weit lebenswichtiger als der Sehsinn sei, und er weist darauf hin, dass ein Kleinkind, dessen Drang zum Aufschlitzen, Aufbrechen und Kaputtmachen unterbunden werde, später nie einen intuitiven Bezug zur physischen Wesensart der Materie entwickeln könne.
Ingenieur im umfassendsten Sinn
Für Hossdorfs Arbeitsweise ebenfalls bezeichnend ist sein unbefangener Umgang mit «Störungen»; seine Werke sind nicht idealistisch im Sinn einer «reinen Form», die der Konfrontation mit der brutalen Realität ausweicht. Vielmehr empfindet Hossdorf geradezu Freude daran, die Robustheit und Anpassungsfähigkeit seiner Systeme in der rauen Wirklichkeit zu erproben und sich von widrigen Umständen inspirieren zu lassen. So ist die Zugschale des Stadttheaters Basel an ihrem unteren Rand nur punktuell gehalten. Das heisst, zwischen diesen Verankerungsstellen gibt es Dachpartien, die spannungslos und damit schlaff sind. Genau da schlitzt nun Hossdorf die Schale auf, fixiert die dadurch entstandenen Streifen auf verschiedenen Höhen und füllt die dazwischenliegenden vertikalen Zwickel mit Betonstreifen, die statisch als kurze, in der Aussenwand eingespannte Kragarme wirken und damit die schlaffen Schalenteile wirkungsvoll versteifen.
Als Zugabe ergeben sich daraus neue, unerwartete Möglichkeiten der Raumbelichtung, und ein scheinbarer Nachteil des ursprünglich gewählten Konzepts wird im Lauf der Arbeit in eine raffinierte und überzeugende Lösung umgemünzt, denn Hossdorf ist Ingenieur im umfassendsten Sinn dieses Begriffs. Auf einzigartige Weise vereint er schöpferisches Entwerfen auf dem gesamten Feld des konstruktiven Ingenieurbaus mit scharfsinniger statischer Analyse. Hossdorfs Buch verdient eine genaue Lektüre.
[Heinz Hossdorf: Das Erlebnis Ingenieur zu sein. Mit einem Beitrag von Peter Dietz und einem Vorwort von José Antonio Torroja. Birkhäuser-Verlag, Basel 2003. 272 S., Fr. 88.-.]
Assoziative Lösungsvorschläge
Ab den fünfziger Jahren beginnt er, sein Laboratorium für Modellstatik aufzubauen. Der Einbezug des Computers führt später zur Hossdorf'schen Hybridstatik, bei der Messungen an Modellen mit elektronischer Datenverarbeitung verknüpft werden. Die Geschichte des Versuchslabors mit all den eigens dafür entwickelten Maschinen und Geräten bildet den zweiten, mit «Entwurfswerkzeuge» überschriebenen Teil des Buches. Ein abschliessendes Kapitel über Hossdorfs spätere Forschungstätigkeit zur Computermodellierung der gegenständlichen Welt ist vom Physiker und Informatiker Peter Dietz verfasst worden.
Bereits bei einem Tragwerk geringer Komplexität ist die Form das Ergebnis einer persönlichen Interpretation des Problems und damit eine individuelle Wahl. Der Entscheid für ein statisches System wird durch die Vorstellungswelt des Entwerfenden geprägt, und diese ist Quelle assoziativer Lösungsvorschläge, die anschliessend auf ihre Tauglichkeit überprüft werden müssen. Damit distanziert sich Hossdorf von der üblichen Anschauung, dass Bauingenieurarbeit vorwiegend rational determiniert sei, einer Haltung, die innerhalb der Zunft auch deshalb weit verbreitet ist, weil sie ihren Vertretern Macht aus der angeblich unbestechlichen Berechenbarkeit verleiht. Erfrischend ist auch, wie Hossdorf die gegenwärtig modischen organischen Analogien zwischen Tragwerk und Formen der Tier- und Pflanzenwelt als untauglich bezeichnet und die Bedeutung der Idealformen der anorganischen Welt (wie aufgelegte Tropfen usw.) auf diejenige von Denkanstössen begrenzt.
Aus der historischen Tatsache, dass Ingenieurtheorien in der Regel post festum entstanden sind, schliesst er, dass auch der Seitenblick auf eine zufällige und limitierte Sammlung von bereits bestehenden Tragwerkstypologien wenig leistungsfähig sei. Von zentraler Bedeutung hingegen ist ihm die taktile Wahrnehmung, die für den Konstrukteur weit lebenswichtiger als der Sehsinn sei, und er weist darauf hin, dass ein Kleinkind, dessen Drang zum Aufschlitzen, Aufbrechen und Kaputtmachen unterbunden werde, später nie einen intuitiven Bezug zur physischen Wesensart der Materie entwickeln könne.
Ingenieur im umfassendsten Sinn
Für Hossdorfs Arbeitsweise ebenfalls bezeichnend ist sein unbefangener Umgang mit «Störungen»; seine Werke sind nicht idealistisch im Sinn einer «reinen Form», die der Konfrontation mit der brutalen Realität ausweicht. Vielmehr empfindet Hossdorf geradezu Freude daran, die Robustheit und Anpassungsfähigkeit seiner Systeme in der rauen Wirklichkeit zu erproben und sich von widrigen Umständen inspirieren zu lassen. So ist die Zugschale des Stadttheaters Basel an ihrem unteren Rand nur punktuell gehalten. Das heisst, zwischen diesen Verankerungsstellen gibt es Dachpartien, die spannungslos und damit schlaff sind. Genau da schlitzt nun Hossdorf die Schale auf, fixiert die dadurch entstandenen Streifen auf verschiedenen Höhen und füllt die dazwischenliegenden vertikalen Zwickel mit Betonstreifen, die statisch als kurze, in der Aussenwand eingespannte Kragarme wirken und damit die schlaffen Schalenteile wirkungsvoll versteifen.
Als Zugabe ergeben sich daraus neue, unerwartete Möglichkeiten der Raumbelichtung, und ein scheinbarer Nachteil des ursprünglich gewählten Konzepts wird im Lauf der Arbeit in eine raffinierte und überzeugende Lösung umgemünzt, denn Hossdorf ist Ingenieur im umfassendsten Sinn dieses Begriffs. Auf einzigartige Weise vereint er schöpferisches Entwerfen auf dem gesamten Feld des konstruktiven Ingenieurbaus mit scharfsinniger statischer Analyse. Hossdorfs Buch verdient eine genaue Lektüre.
[Heinz Hossdorf: Das Erlebnis Ingenieur zu sein. Mit einem Beitrag von Peter Dietz und einem Vorwort von José Antonio Torroja. Birkhäuser-Verlag, Basel 2003. 272 S., Fr. 88.-.]
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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