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Größer, Genosse Architekt, größer!
Stalins Bauten ignorierten die Wirklichkeit, und dennoch prägen sie noch heute Städte in halb Europa.
1. März 2003 - Reinhard Seiß
Als höchstes Gebäude der Welt sollte der 415 Meter hohe „Palast der Sowjets“ die Überlegenheit des Sozialismus zeigen - nicht zuletzt durch eine den Bau bekrönende 100 Meter hohe Lenin-Statue. Anstelle der 1932 gesprengten Christus-Erlöser-Kathedrale hätte das gewaltige Politik- und Kulturforum nicht nur den nahen Kreml als neues Zentrum Moskaus überstrahlt, sondern auch als symbolischer Mittelpunkt der Sowjetunion, ja der gesamten „progressiven Welt“ gewirkt. Zur Realisierung gelangte jedoch nur das Fundament, denn bei Ausbruch des „Großen Vaterländischen Krieges“ wurde das Projekt stillgelegt - und danach nicht wieder aufgenommen.
Die Idee einer städtebaulichen Umgestaltung Moskaus fand dennoch eine Fortsetzung - basierend auf dem „Generalplan zur Stadterneuerung“ von 1935. Die Motivation für diese auf zehn Jahre ausgelegte nationale Kraftanstrengung bestand zum einen in der Machtdemonstration des stalinistischen Regimes. Zum anderen war eine grundlegende Modernisierung Moskaus, das 1918 nach 200 Jahren wieder Hauptstadt geworden war, in Folge massenhaften Bevölkerungszuzugs dringend erforderlich.
So wurde das Stadtgebiet durch Eingemeindungen mehr als verdoppelt, ein zweiter großzügiger Straßenring angelegt und der Bau des weitläufigen Metronetzes in Angriff genommen. Man schuf ausgedehnte Grün- und Erholungsflächen, verbesserte die Wasserversorgung und machte die beiden Flüsse Moskwa und Jauza schiffbar. 200.000 Bauarbeiter - die meisten davon politische Gefangene - waren an der Umsetzung des Generalplans beteiligt.
Weniger in technischen Notwendigkeiten als in der Gigantomanie des Diktators lag der brachiale Umgang mit der gewachsenen Struktur Moskaus begründet: Quer durch die Altstadt wurden neue Magistralen geschlagen, zahlreiche historische Baudenkmäler wichen überdimensionierten Prunkbauten. Nur der Zweite Weltkrieg, im Zuge dessen 1700 sowjetische Städte zerstört wurden, verhinderte paradoxerweise die vollständige Demolierung des alten Moskau, da die Bauarbeiten ab 1941 eingestellt werden mussten.
1947 wurde beschlossen, Moskau an acht ausgewählten Standorten mit Hochhäusern zu versehen. Denn die Stadt hatte durch den Abriss vieler Kirchen und Kathedralen sowie die nun allgemein höhere Bebauung nicht nur wichtige Orientierungspunkte, sondern auch ihre einst malerische Silhouette verloren. Die Sowjetmacht, die sich mittlerweile im Wettstreit mit den USA befand, forderte dabei, dass die Bauten keine Kopien ausländischer Wolkenkratzer sein dürften, sondern von russischer Architekturtradition geprägt sein müssten.
Der herausragendste der sieben ab 1949 realisierten Türme ist zweifellos der Komplex der Lomonosow-Universität auf den Leninbergen nach Plänen von Lew Rudnjew. Stalin war begeistert von Rudnjews monumentaler und reich dekorierter Architektur - von andern schon damals verächtlich als Zuckerbäckerstil bezeichnet - und erklärte sie quasi zur ästhetischen Maxime für den Ausbau der sowjetischen Großstädte. So sind auch die sechs anderen Moskauer Hochhäuser - zwei Ministerien, zwei Hotels und zwei Wohnbauten - von jenem wahlweise neogotischen, neobarocken oder neoklassizistischen RetrosStil geprägt.
Allgemein dominierten Größe und Form über Zweckmäßigkeit und Funktion: Die imposante Lomonosow-Universität zeichnet sich im Inneren durch immens lange Wege aus. Die neu geschaffenen, überbreiten Boulevards blieben jahrzehntelang quasi leer, da ein massenhafter motorisierter Individualverkehr politisch nicht gewollt war. Im Wohnbau wiederum errichtete man relativ großzügige Einfamilienwohnungen mit hohen Räumen, die in der Praxis aber von vier bis fünf Familien belegt wurden. Für Peter Noever, Direktor des Wiener MAK, sollten die realitätsfremden Bauten vom tristen Alltag ablenken und eine scheinbar nahe, bessere Zukunft verheißen.
Dennoch oder gerade deshalb wurden die in Moskau erprobten Planungsprinzipien auf die gesamte Sowjetunion übertragen. Bereits in den 30er-Jahren begann man mit der Gründung zahlreicher Industriestädte wie Donjezk, Kusnjezk, Murmansk oder des Paradebeispiels Magnitogorsk. Nach 1945 standen der Wiederaufbau der im Krieg zerstörten Städte sowie der Umbau der wichtigsten Zentren des Landes an. Minsk, Nowgorod und Stalingrad, Rostow am Don oder auch Sewastopol wurden nach den Prinzipien des stalinistischen Urbanismus gestaltet. Die Altstadtbereiche von Leningrad und Kiew erneuerte man ähnlich wie in Moskau durch den Bau einer Metro, die Errichtung repräsentativer Gebäude und die Anlage breiter Straßenzüge.
Schließlich galt es, den sowjetischen Stil auch in die neuen Bruderstaaten zu exportieren: Die Warschauer Marschalkowskaja folgte ebenso dem Beispiel der großmaßstäbigen Prospekte wie die Ostberliner Stalin-Allee. Und so wie der Kulturpalast im Zentrum der polnischen Kapitale hätte auch in der Hauptstadt der DDR ein Hochhaus Marke Rudnjew entstehen sollen: anstelle des gesprengten Berliner Schlosses.
Der Gestaltungsdrang der Stalin-Ära beschränkte sich nicht auf Architektur allein: Zeitgenössische Malereien und Mosaike schmückten die palastartigen Stationen der Moskauer Metro. Die stalinistischen Designer entwarfen Möbel ebenso wie Uniformen oder alltägliche Gebrauchsgegenstände - etwa Geschirr, das mit Darstellungen des Sowjetpalasts, von Flugzeugen oder Armeeaufmärschen dekoriert war. Auch die ersten sowjetischen Limousinen der Marke Cajka stammen aus dieser Zeit, sodass man durchaus von einem stalinistischen Gesamtkunstwerk sprechen kann.
Ein Luxus, der mit dem Tod des Generalissimus und der Offenlegung seiner Schreckensbilanz durch Chruschtschow ein jähes Ende fand. Schon zu Stalins Lebzeiten gab es viel zu wenig Wohnungen - nun, da Millionen von politischen Opfern aus den Straflagern entlassen wurden, stand das Land vor einer massenhaften Obdachlosigkeit. Chruschtschow wandte sich von jeglicher Baukunst ab und setzte auf die Standardisierung und Industrialisierung des Bauens, um rasch und kostengünstig Versäumtes nachzuholen. Laufende Großprojekte, die er von seinem Vorgänger geerbt hatte, wurden vielfach eingestellt: Die Fundamente des Sowjetpalasts im Zentrum Moskaus etwa dienten fortan als öffentliches Schwimmbad.
Heute steht die stalinistische Architektur durchaus wieder hoch im Kurs. Im Gegensatz zu den uniformen und mangelhaften Plattenbauten der 60er-, 70er- und 80er-Jahre erfreuen sich die soliden Ziegelbauten der Stalin-Zeit am Moskauer Immobilienmarkt reger Nachfrage. Der Lemberger Architekturprofessor Bohdan Tscherkes weiß sogar von der beabsichtigten Errichtung des achten, bis dato nicht realisierten historischen Hochhauses zu berichten. Ein anderes unvollendetes Großprojekt Stalins wird hingegen keine Verwirklichung mehr erfahren: Die Fragmente des „Palasts der Sowjets“ wurden endgültig abgetragen - und die Christus-Erlöser-Kathedrale wieder aufgebaut. []
[Reinhard Seiß ist Raumplaner, Filmemacher und Fachpublizist und arbeitete u.a. an Stadtplanungsprojekten in Russland. „Diagonal“ (Ö1, ab 17.05 Uhr) sendet heute zum Thema Stalin seinen Beitrag „Bauten für die Ewigkeit“.]
Die Idee einer städtebaulichen Umgestaltung Moskaus fand dennoch eine Fortsetzung - basierend auf dem „Generalplan zur Stadterneuerung“ von 1935. Die Motivation für diese auf zehn Jahre ausgelegte nationale Kraftanstrengung bestand zum einen in der Machtdemonstration des stalinistischen Regimes. Zum anderen war eine grundlegende Modernisierung Moskaus, das 1918 nach 200 Jahren wieder Hauptstadt geworden war, in Folge massenhaften Bevölkerungszuzugs dringend erforderlich.
So wurde das Stadtgebiet durch Eingemeindungen mehr als verdoppelt, ein zweiter großzügiger Straßenring angelegt und der Bau des weitläufigen Metronetzes in Angriff genommen. Man schuf ausgedehnte Grün- und Erholungsflächen, verbesserte die Wasserversorgung und machte die beiden Flüsse Moskwa und Jauza schiffbar. 200.000 Bauarbeiter - die meisten davon politische Gefangene - waren an der Umsetzung des Generalplans beteiligt.
Weniger in technischen Notwendigkeiten als in der Gigantomanie des Diktators lag der brachiale Umgang mit der gewachsenen Struktur Moskaus begründet: Quer durch die Altstadt wurden neue Magistralen geschlagen, zahlreiche historische Baudenkmäler wichen überdimensionierten Prunkbauten. Nur der Zweite Weltkrieg, im Zuge dessen 1700 sowjetische Städte zerstört wurden, verhinderte paradoxerweise die vollständige Demolierung des alten Moskau, da die Bauarbeiten ab 1941 eingestellt werden mussten.
1947 wurde beschlossen, Moskau an acht ausgewählten Standorten mit Hochhäusern zu versehen. Denn die Stadt hatte durch den Abriss vieler Kirchen und Kathedralen sowie die nun allgemein höhere Bebauung nicht nur wichtige Orientierungspunkte, sondern auch ihre einst malerische Silhouette verloren. Die Sowjetmacht, die sich mittlerweile im Wettstreit mit den USA befand, forderte dabei, dass die Bauten keine Kopien ausländischer Wolkenkratzer sein dürften, sondern von russischer Architekturtradition geprägt sein müssten.
Der herausragendste der sieben ab 1949 realisierten Türme ist zweifellos der Komplex der Lomonosow-Universität auf den Leninbergen nach Plänen von Lew Rudnjew. Stalin war begeistert von Rudnjews monumentaler und reich dekorierter Architektur - von andern schon damals verächtlich als Zuckerbäckerstil bezeichnet - und erklärte sie quasi zur ästhetischen Maxime für den Ausbau der sowjetischen Großstädte. So sind auch die sechs anderen Moskauer Hochhäuser - zwei Ministerien, zwei Hotels und zwei Wohnbauten - von jenem wahlweise neogotischen, neobarocken oder neoklassizistischen RetrosStil geprägt.
Allgemein dominierten Größe und Form über Zweckmäßigkeit und Funktion: Die imposante Lomonosow-Universität zeichnet sich im Inneren durch immens lange Wege aus. Die neu geschaffenen, überbreiten Boulevards blieben jahrzehntelang quasi leer, da ein massenhafter motorisierter Individualverkehr politisch nicht gewollt war. Im Wohnbau wiederum errichtete man relativ großzügige Einfamilienwohnungen mit hohen Räumen, die in der Praxis aber von vier bis fünf Familien belegt wurden. Für Peter Noever, Direktor des Wiener MAK, sollten die realitätsfremden Bauten vom tristen Alltag ablenken und eine scheinbar nahe, bessere Zukunft verheißen.
Dennoch oder gerade deshalb wurden die in Moskau erprobten Planungsprinzipien auf die gesamte Sowjetunion übertragen. Bereits in den 30er-Jahren begann man mit der Gründung zahlreicher Industriestädte wie Donjezk, Kusnjezk, Murmansk oder des Paradebeispiels Magnitogorsk. Nach 1945 standen der Wiederaufbau der im Krieg zerstörten Städte sowie der Umbau der wichtigsten Zentren des Landes an. Minsk, Nowgorod und Stalingrad, Rostow am Don oder auch Sewastopol wurden nach den Prinzipien des stalinistischen Urbanismus gestaltet. Die Altstadtbereiche von Leningrad und Kiew erneuerte man ähnlich wie in Moskau durch den Bau einer Metro, die Errichtung repräsentativer Gebäude und die Anlage breiter Straßenzüge.
Schließlich galt es, den sowjetischen Stil auch in die neuen Bruderstaaten zu exportieren: Die Warschauer Marschalkowskaja folgte ebenso dem Beispiel der großmaßstäbigen Prospekte wie die Ostberliner Stalin-Allee. Und so wie der Kulturpalast im Zentrum der polnischen Kapitale hätte auch in der Hauptstadt der DDR ein Hochhaus Marke Rudnjew entstehen sollen: anstelle des gesprengten Berliner Schlosses.
Der Gestaltungsdrang der Stalin-Ära beschränkte sich nicht auf Architektur allein: Zeitgenössische Malereien und Mosaike schmückten die palastartigen Stationen der Moskauer Metro. Die stalinistischen Designer entwarfen Möbel ebenso wie Uniformen oder alltägliche Gebrauchsgegenstände - etwa Geschirr, das mit Darstellungen des Sowjetpalasts, von Flugzeugen oder Armeeaufmärschen dekoriert war. Auch die ersten sowjetischen Limousinen der Marke Cajka stammen aus dieser Zeit, sodass man durchaus von einem stalinistischen Gesamtkunstwerk sprechen kann.
Ein Luxus, der mit dem Tod des Generalissimus und der Offenlegung seiner Schreckensbilanz durch Chruschtschow ein jähes Ende fand. Schon zu Stalins Lebzeiten gab es viel zu wenig Wohnungen - nun, da Millionen von politischen Opfern aus den Straflagern entlassen wurden, stand das Land vor einer massenhaften Obdachlosigkeit. Chruschtschow wandte sich von jeglicher Baukunst ab und setzte auf die Standardisierung und Industrialisierung des Bauens, um rasch und kostengünstig Versäumtes nachzuholen. Laufende Großprojekte, die er von seinem Vorgänger geerbt hatte, wurden vielfach eingestellt: Die Fundamente des Sowjetpalasts im Zentrum Moskaus etwa dienten fortan als öffentliches Schwimmbad.
Heute steht die stalinistische Architektur durchaus wieder hoch im Kurs. Im Gegensatz zu den uniformen und mangelhaften Plattenbauten der 60er-, 70er- und 80er-Jahre erfreuen sich die soliden Ziegelbauten der Stalin-Zeit am Moskauer Immobilienmarkt reger Nachfrage. Der Lemberger Architekturprofessor Bohdan Tscherkes weiß sogar von der beabsichtigten Errichtung des achten, bis dato nicht realisierten historischen Hochhauses zu berichten. Ein anderes unvollendetes Großprojekt Stalins wird hingegen keine Verwirklichung mehr erfahren: Die Fragmente des „Palasts der Sowjets“ wurden endgültig abgetragen - und die Christus-Erlöser-Kathedrale wieder aufgebaut. []
[Reinhard Seiß ist Raumplaner, Filmemacher und Fachpublizist und arbeitete u.a. an Stadtplanungsprojekten in Russland. „Diagonal“ (Ö1, ab 17.05 Uhr) sendet heute zum Thema Stalin seinen Beitrag „Bauten für die Ewigkeit“.]
Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard
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