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Wo Lenin noch nach Moskau blickt
Neue Zürcher Zeitung

Neue Architektur in Kirgistans Hauptstadt Bischkek

In der Hauptstadt der östlichsten GUS-Republik scheinen die Uhren zehn Jahre nach der Unabhängigkeit noch immer etwas langsamer zu gehen als in den Nachbarländern. Bischkek, seit 1992 Kapitale der Kirgisischen Republik, wirkt auf seine Besucher fast noch wie zu Sowjetzeiten. Überzeugende neue Architektur findet man noch kaum.

2. Mai 2003 - Philipp Meuser
Kirgistan erscheint auch zehn Jahre nach der Unabhängigkeit wie eine vergessene Sowjetrepublik. Erst im vergangenen Sommer wurde auf dem Leninplatz in Bischkek, der nun wie in vielen anderen zentralasiatischen Städten Unabhängigkeitsplatz heisst, für Autos die Geschwindigkeitsbegrenzung von zwanzig Kilometern pro Stunde aufgehoben. Damit müssen nun die Fahrzeuge vor der knapp fünfzehn Meter hohen Lenin-Statue, die sich bis heute erhalten hat, nicht mehr abbremsen und so dem Volkshelden die Ehre bezeugen. Trotz dieser Beschleunigung muss man beim Blick auf den Stadtplan unweigerlich an eine Spielzeugstadt denken: Auf den von Strassen gerahmten grünen Flächen steht jeweils mittig ein Haus: Stadt, das ist in Bischkek vor allem eine Ansammlung streng auf die einzelnen Felder verteilter architektonischer Solitäre. Von einem städtebaulichen Kontext, gar einem Bezug zwischen Haus und Strasse wird man hier kaum sprechen wollen. Bischkek könnte eine sozialistische Idealstadt sein: Im Zentrum liegen gleich mehrere Parks, in die locker Kulturpaläste, Museen, Ministerien, Universitäten und sonstige Institutionen eingestreut sind. Was wie ein Freilichtmuseum der Sowjetarchitektur wirkt, ist jedoch das Ergebnis einer russischen Stadtgründung im 19. Jahrhundert.


Sowjetisches Erbe

Das für jene Zeit typische Schachbrettmuster, das sich in dieser Strenge in vielen altrussischen und sibirischen Städten wiederfindet, bot in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ideale Baugrundstücke für die an Selbstverliebtheit kaum zu übertreffende sowjetische Baukunst. Sieht das Zirkusgebäude von Bischkek wie ein soeben gelandetes Ufo aus, so sucht sich das unweit davon gelegene Hochschulgebäude mit seinem brutalen Fassadenschmuck als Bollwerk des kommunistischen Bildungssystems aufzuspielen. Auf dem monumentalen Platz vor dem Nationalen Historischen Museum hat sich Lenin inmitten kokettierender Baukörper auf einem fünf Meter hohen Sockel behauptet. Besucher, welche die zwanzig Meter breite Treppe zum Museum emporgestiegen sind, finden sich im Inneren des weissen Marmorwürfels erneut Lenin gegenüber, der übermannsgross mit vier Gefolgsleuten einherschreitet. Gleich eine ganze Etage ist seinem Leben und dem Werk von Marx und Engels gewidmet.

Vor dem Museum weist Lenin hinüber zu den schneebedeckten Gipfeln, als läge gleich dahinter das Arbeiter-und-Bauern-Paradies. Daran hat sich seit zehn Jahren nichts geändert. Von all den Gesten will Aigül Nasirdinova erst gar nichts wissen. Für die angehende Hochschulprofessorin an der schon zu Sowjetzeiten angesehenen Architekturfakultät von Bischkek ist die Umbenennung des ehemaligen Lenin-Museums in das Nationale Historische Museum eine Selbstverständlichkeit, über die man kaum nachdenken müsse. Dass sich innen ausser der Präsentation von einigen neuen Fotos des händeschüttelnden Staatspräsidenten Askar Askaev kaum etwas verändert hat, sei ebenso wenig der Rede wert. Schliesslich seien doch beide Figuren Teil der kirgisischen Geschichte im 20. Jahrhundert. In dieser Beziehung scheint Bischkek sehr tolerant mit der eigenen Vergangenheit umzugehen.
Architektonischer Neubeginn

Früher, als Bischkek noch Frunse hiess, war die Stadt ein wichtiger sowjetischer Vorposten vor dem Tienschan-Gebirge, dessen östliche Ausläufer bis nach China reichen. Heute präsentiert sich die kirgisische Hauptstadt als ein Ort, der sein architektonisches Erscheinungsbild zehn Jahre lang kaum verändert hat. Nur die Hyatt-Gruppe hat einen alten Hotelkasten mit einer neuen Fassade überzogen, dessen Bezug zum Strassenraum lediglich aus einem geschmiedeten Zaun besteht. Gleich davor liess ein ebenfalls privater Investor eine pyramidenförmige Bowlinganlage errichten. An diese beiden wohl auffälligsten Bauten in der Stadt denkt Nasirdinova, wenn sie eher zurückhaltend von einem architektonischen Neubeginn im jungen Staat spricht. Ihre sowjetische Vergangenheit verbietet ihr augenscheinlich, ein persönliches Urteil über die neue Architektur nach der Unabhängigkeit zu fällen. Und dann kommt doch noch ein Nachsatz, der sie als engagierte Architektin entlarvt. Die neue kirgisische Baukunst müsse doch ihre Form in der Tradition suchen. Das Wichtigste sei aber, dass überhaupt gebaut werde. Sonst könne sich wohl keine Tendenz herauskristallisieren, und die Entwürfe blieben wie in der Sowjetzeit blosse Utopien.

Tatsächlich sind seit dem Zerfall der Supermacht auch im Bau- und Planungswesen einige Änderungen durchgesetzt worden. Zu den wichtigsten gehört die Möglichkeit, Land zu besitzen. Wenn auch die von Staatspräsidenten unterstützte Forderung, Grundstücke als wirtschaftliches Gut zu betrachten, noch nicht vom Parlament ratifiziert wurde, so haben Hauseigentümer immerhin schon die Möglichkeit, ihre Grundstücke für 99 Jahre vom Staat zu pachten. Doch in Anbetracht der geringen Löhne und Gehälter - ein Lehrer verdient umgerechnet etwa 35 Franken im Monat - wird die kirgisische Bauwirtschaft wohl noch Jahre auf einen Boom der Einfamilienhäuser und Vorortvillen warten müssen.

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