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Der letzte architektonische Mosaikstein im St.-Alban-Tal
Das Quartier St.-Alban-Tal ist eines der ältesten der Stadt Basel, und es hat eine bewegte Geschichte. In den vergangenen Jahren wandelte es sich von einem historischen Industrieareal zu einer der beliebtesten Wohngegenden der Stadt. Belebt durch das Basler Konzil (1431-49) und seinen grossen Bedarf an Papier, entstand hier ab 1448 - noch vor dem Beginn des Buchdrucks - eine Industrie, die zuletzt elf Papiermühlen umfasste. Zwei der ältesten architektonischen Zeugnisse dieser Zeit werden heute von einem Papiermuseum genutzt. Es steht direkt neben einem Fragment der ebenfalls spätmittelalterlichen Stadtmauer.
Als 1956 der letzte papierproduzierende Betrieb den direkt am Rhein gelegenen Stadtteil verliess, dämmerten die Industrieanlagen und Wohnhäuser, die dort standen, vor sich hin. Die sechziger und siebziger Jahre, die in Westeuropa den Höhepunkt eines industriellen Bauens verkörpern, konnten an einem solchen Gebiet wenig Interesse haben. Zumal noch Teile eines Klosterbaus von 1100 vorhanden waren und auch eine Kirche weitgehend aus dieser Zeit stammt. Damit war das Quartier im aufmerksamen Blick der Denkmalpflege und deshalb für radikale Umnutzungen nicht geeignet.
Als seit Mitte der siebziger Jahre der architektonische Diskurs langsam wieder auf einen Dialog mit der gewachsenen Stadt setzte, war das seltsame bauliche Ensemble in naher Innenstadtlage ein ideales Experimentierfeld. Zumal sich auch neue Nutzungen anboten, die sich als wegweisend erwiesen. Als ein bedeutender italienischer Kunstsammler seine Schätze der Stadt leihen wollte, wenn ihm diese eine entsprechende Bleibe zur Verfügung stellen würde, beauftragte man Wilfrid und Katharina Steib, den Umbau einer ehemaligen Papierfabrik zu prüfen. Daraus entwickelte sich bald das Projekt für ein Museum für Gegenwartskunst. Steib und Steib rissen teilweise ab, errichteten einen Neubau, und plötzlich begann das Quartier 1980 wieder zu leben. Denn das Nebeneinander von Alt und Neu erwies sich nicht nur als eine ästhetische Lösung mit Perspektive, sondern die Architektur bot der Kunst der Nachkriegszeit auch den adäquaten gestalterischen Rahmen zu ihrer Produktion. Seit das Zentrum der zeitgenössischen Kunstproduktion in den sechziger Jahren nach New York gewandert war, waren Lofts oder loftähnliche Ateliers und Wohnungen auch in Europa gefragt. Der Bau von Steib und Steib lehnt sich hier an. Vergleicht man das Bauergebnis mit dem Drang anderer Museen zur Selbstinszenierung (in der Bundesrepublik hatten 1980 27 Museen Baubeginn oder waren im Bau), so darf das Basler Haus als ein frühes Beispiel sogenannt einfacher Architektur gelten.
Als 1986 ein paar hundert Meter entfernt, in unmittelbarer Rheinlage und vor dem historischen Ensemble von Papiermühle und Stadtmauer, eine elegante, aber kühle und klare Wohn- und Atelierkubatur von Diener & Diener bezogen wurde, schwoll die öffentliche Entrüstung mächtig an. Doch gerade mit diesem exponierten Bau wurde das St.-Alban-Tal zumindest in der Schweiz der wichtigste architektonische Ort für das Bauen in der historischen Stadt. Das neue Haus passte sich äusserst feingliedrig in den freien Raum ein, respektierte die Morphologie der altehrwürdigen Nachbarschaft, aber formulierte gleichzeitig einen konsequenten zeitgenössischen Formwillen. Synergetisch kam hinzu, dass Michael Alder fast gleichzeitig in unmittelbarer Nähe zwei weitere Architekturen realisierte. Er baute zwei kleine Riegel für Künstlerateliers und Werkstattläden, und er entkernte und restaurierte sorgfältigst ein Industrie- und Wohnhaus (1986/87). Dann setzte er moderne Wohneinheiten hinein und dem Ganzen eine Fassade aus unbehandeltem Holz vor. Hier manifestierte sich erstmals eine Umwertung des lange als bäurisch betrachteten Werkstoffs Holz.
Eine kleine Festung
Zwischen diesen beiden Bauten von Alder wurde nun jüngst ein Wohnhaus bezogen, das auf der letzten freien Parzelle des Quartiers entstand. Das St.-Alban-Tal, das als bauliche Einheit das gesamte ausklingende Jahrtausend vertritt, erhielt von Urs Gramelsbacher ein Haus mit der Präzision eines Uhrwerks. Wie eine kleine, zweigeschossige Festung hat er seine reine Sichtbetonkonstruktion auf die trapezoide Parzelle gestellt. Die Mietwohnungen konzentrieren sich ganz auf einen 17 mal 17 Meter grossen Innenhof. Hier zitiert der Architekt eine introvertierte Entwurfshaltung, wie sie Tadao Ando in Japan vertritt oder wie sie der römisch-antike oder der spanische und lateinamerikanische Hausbau um das Atrium oder den Patio kultivierte. An der Strassenseite kommt die radikale plastische Gestalt des Hauses am stärksten zur Geltung. Die minimalistische Bauschöpfung tritt hier nur mit einer Tür, dem Tor der Tiefgarage und einem horizontalen Mauerschlitz, der auf einen Innenhof führt (den man aber von der Strasse nicht sehen kann), in Erscheinung.
Obwohl der Bau von teilweise extremen Asymmetrien lebt, strebte der Architekt immer wieder nach einer idealen Geometrie und erreichte sie auch. Der quadratische Hof ist von konzentrierter Stille erfüllt. Die bepflanzte Fläche - auf der ein Baum steht - ist ebenfalls ein Quadrat. Die Wege sind hier mit grossen Kieselsteinen gepflastert, die man sorgfältig ausfugte, um das Gehen nicht zu erschweren. Ein visueller und materieller Kontrast zu den makellosen Betonflächen. Auch in der Organisation der Grundrisse ist Gramelsbacher fast immer vom Quadrat ausgegangen. Zwei Details sind wohl ein konstruktionstechnisches Novum. Alle Wohnungen - auch im Parterre - haben offene Lichthöfe, die eine hochkomplexe Betonschalung verlangten. Im Hof ist ein Brunnen durch einen zehn Meter langen und vier Zentimeter hohen Schlitz entstanden, aus dem das Wasser wie ein beweglicher Vorhang über den Stein in ein Glasbecken läuft. Und der Boden des Beckens ist gleichzeitig das Oberlicht der Tiefgarage. Bei fünf Mietparteien kann ein Teil der 30 Abstellplätze auch an andere Bewohner des Quartiers vermietet werden.
Nachdem Gramelsbacher mit seinen früheren Partnern Martin Erny und Karl Schneider im Basler Quartier St. Johann eine grosse Wohnsiedlung (Im Davidsboden, 1986-91) gebaut hatte, die vital in das Leben dieses überalterten Stadtteils eingriff, ist ihm nun im St.-Alban-Tal ein ähnlicher städtebaulicher Eingriff gelungen, nur dass er das Quartier nicht vitalisiert, sondern komplettiert. Vor seinem neuen Haus hat der Architekt eine Reihe kniehoher Beleuchtungswürfel installiert. Die feinen Lichtkuben führen in gerader Linie an den Nachbarbauten von Alder und dem historischen Wirtshaus Goldener Stern vorbei. Sie stossen fast an das Museum für Gegenwartskunst. Bei einbrechender Dunkelheit entsteht eine Lichterkette, die mit der Würfelform eine ideale Geometrie hat und wie eine Plastik der Minimal art aussieht. Obwohl die Lichtschiene aus dem angewandten Gestaltungsbereich stammt, stellt sie eine Art Kunstwert dar. Damit schafft Gramelsbacher eine subtile Verbindung zum Museum für Gegenwartskunst von Steib und Steib. Mit diesem Bau begann die Renaissance des Quartiers, das Gramelsbacher nun fertig baute.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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