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Die Privatisierung der Gartenstädte
Neue Zürcher Zeitung

Neue Wohnungsbautypen für Amsterdams Aussenbezirke

Grosse Wohnungen mit halböffentlichen Innenhöfen sollen in Amsterdams Aussenvierteln finanzkräftige Bewohner anlocken. Das Resultat sind Miniatur- Gartenstädte hinter hohen Mauern, die das Verhältnis von Innen und Aussen ganz neu definieren.

5. Mai 2006 - Anneke Bokern
«Ich komme aus einem abgelegenen marokkanischen Dorf. Aus Amsterdam-West.» Diesen Witz erzählt der marokkanisch-niederländische Kabarettist Rachid Larouz jetzt schon seit einigen Jahren, und das Publikum lacht immer noch. Amsterdam-West, das ist gleichbedeutend mit tristen Wohnhochhäusern, Satellitenschüsseln und Kopftüchern. Mehr als die Hälfte der Einwohner in den Stadtteilen westlich des Autobahnrings, der die Amsterdamer Innenstadt umgibt, stammen nicht aus den Niederlanden; 20 Prozent sind arbeitslos. Bekanntester Sohn der Aussenbezirke ist Mohammed B., der Mörder des Filmemachers Theo van Gogh.

Kein Wunder also, dass die Niederländer im vergangenen Herbst, als in Paris die Banlieues brannten, beunruhigt auf den Westen ihrer Hauptstadt schauten. Denn wie die Pariser Satellitenstädte wurden auch die Amsterdamer Stadterweiterungen nach dem Zweiten Weltkrieg nach modernistischen Städtebauprinzipien angelegt. Als Grundlage diente der «Allgemeine Erweiterungsplan», den der Stadtplaner Cornelis van Eesteren bereits zwischen 1929 und 1934 entwickelt hatte. Er sah eine strikte Funktionsscheidung vor: Wohnen, Erholung und Verkehr wurden räumlich getrennt voneinander organisiert; zum Arbeiten sollten die Einwohner in die Innenstadt oder an den Hafen pendeln. Die Wohngebiete wurden als sogenannte Gartenstädte angelegt, mit einer in öffentlichen Grünflächen nach dem Sonnenstand ausgerichteten, rationalistischen Zeilenbebauung. Bis zu 15-geschossige Wohnhochhäuser wechseln sich mit niedrigeren Reihenhauszeilen ab.

Monofunktional und leblos

Als die neuen Viertel um 1970 fertig gestellt waren, dauerte es jedoch nicht lange, bis sich dieses Konzept als gescheitert erwies. Die Siedlungen waren zu monofunktional und leblos, das Abstandsgrün zu ungemütlich und das Wohnungsangebot zu einseitig. Wer es sich leisten konnte, zog schnell wieder weg. Stattdessen kamen jene Bevölkerungsgruppen, die man in den Niederlanden gerne als «chancenarm» bezeichnet.

Seit einigen Jahren versucht die Stadt nun, die Verarmung aufzuhalten und die Gartenstädte wieder attraktiver zu machen. Im Gegensatz zu Rotterdam, wo in manchen Problembezirken kurzerhand ein Zuzugsstopp für Ausländer mit geringem Einkommen eingeführt wurde, setzt Amsterdam auf Neubauprojekte, die zahlungskräftigeres Publikum anlocken sollen. Von den derzeit 54 000 Wohnungen in Amsterdam-West werden bis 2015 etwa 10 000 abgerissen. Dafür sollen 17 500 Wohnungen neuen Typs entstehen. Das klingt drastisch, aber bis jetzt ist von grossen Abrissaktionen noch nichts zu sehen. Es hat erst eine vorsichtige «Impfung» der Stadtviertel mit einzelnen neuen Bauten begonnen. Eingeschleust wurden in den letzten Jahren vor allem Wohnkomplexe und -blöcke mit grossen Miet- und Eigentumswohnungen, deren Architektur sich möglichst deutlich von der Zeilenbebauung der Nachkriegszeit absetzt.

Moderne Festungen

Auffällig ist, dass kaum eines der Projekte versucht, sich in sein Umfeld einzufügen. Im Gegenteil: Allesamt grenzen sie sich ganz bewusst von der Umgebung ab. Den Anfang machte der «Noorderhof» nach einem städtebaulichen Plan von Rob Krier, dem luxemburgischen Neo-Traditionalisten. Wie das berühmte gallische Dorf hockt der Komplex aus hübschen Reihenhäuschen seit 1999 zwischen riesigen Wohnhochhäusern. Sprossenfenster, dekorative Gesimse, Vorgärtchen und verwinkelte Gassen bestimmen das Bild im Inneren der Hofanlage. Nach aussen schirmt eine höhere Randbebauung den Komplex von der ungeliebten Nachbarschaft ab. Das Konzept ging auf: Die Wohnungen im Noorderhof sind heiss begehrt und ebenso teuer wie in manch einem Innenstadtbezirk. «In der Nähe ist ein weiterer Wohnkomplex in Planung», sagt eine städtische Mitarbeiterin. «Wenn es nach den Anwohnern ginge, sollten wir dort ‹weiterkrieren›.»

Bis anhin ist der Noorderhof jedoch der einzige neotraditionalistische Eindringling in den Gartenstädten. Aber trotz ihrer moderneren Formensprache sind die meisten Neubauprojekte nicht minder introvertiert als die Anlage von Krier. So wurde 2002 ein origineller Wohnblock mit 26 verschiedenen Wohnungstypen vom jungen Architekturbüro Arons & Gelauff realisiert, der auf einem zweigeschossigen Sockel mit Geschäften und Parkgarage ruht. Auf dem Dach des Sockelbaus erheben sich die sechs Wohngeschosse und umschliessen einen kollektiven Innenhof für die Bewohner. Obwohl durch eine teilweise Aufständerung ein Durchguck geschaffen und mit Fensterbändern ein offener Fassadencharakter erzeugt wurde, ist der geschlossene Baublock eigentlich eine moderne Festung und zeigt der Umgebung ebenso die kalte Schulter wie der Noorderhof.

Pseudoöffentlicher Raum

Mit dem erhöhten Innenhof haben Arons & Gelauff Schule gemacht. Ganz in der Nähe ihres Projekts wurde vor kurzem ein Block von Mecanoo fertig gestellt, der auf einem ähnlichen Konzept beruht, wenngleich er auf den ersten Blick offener wirkt: Seine drei unterschiedlich hohen Flügel mit Fassaden aus dunklem Backstein und Metallpaneelen legen sich hufeisenförmig um einen grossen, mit Holzbohlen gedeckten Binnenplatz, der sich zu einem Park und einem See öffnet. Allerdings ist auch dieser Innenhof weder öffentlich zugänglich noch für Passanten einsehbar, denn er liegt etwa zwei Meter über Strassenniveau, über einer halb im Boden versenkten Garage. Es entsteht ein pseudoöffentlicher Raum, der vor allem der Aussicht der Bewohner dient.

Auch MVRDV spielen bei ihrem Wohnkomplex «Parkrand», der sich zurzeit im Bau befindet, mit dieser Semi-Öffentlichkeit. In einen öffentlichen Park stellen sie fünf Türme, die durch Wolkenbügel, aber auch durch eine kollektive Terrasse im ersten Stock miteinander verbunden sind. Der Park setzt sich also innerhalb des Blocks fort, ist aber nicht für jedermann betretbar. Einerseits ist diese Abgrenzung angesichts der schwierigen sozialen Situation in den Vierteln nachvollziehbar, andererseits wirkt sie ein wenig wie eine ängstliche Verballhornung der Gartenstadt-Utopie. Öffentlicher wird durch halbprivaten Raum, Abstandsgrün durch Gemeinschaftsterrassen ersetzt. FARO Architecten, die den neuen Typus mit einem Entwurf für zwei Strassenblöcke auf städtebaulichen Massstab übertragen haben, bezeichnen diesen denn auch als «zeitgenössische Gartenstadt». Hochhäuser und niedrigere Reihenhäuser bilden dort eine geschlossene Blockwand, die einen Innenraum mit einer Mischung aus kollektiven und privaten Gärten umschliesst. Offiziell mag die Schaffung unterschiedlicher Wohnungstypen das Hauptanliegen der neuen Entwicklungen in den Gartenstädten sein. Eigentlich geht es aber um eine Neubestimmung des Verhältnisses von Offenheit und Geschlossenheit, Öffentlichkeit und Privatheit, Innen und Aussen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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