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Der chamäleonartige Totempfahl
Jean Nouvels kinematographisch konzipierte Torre Agbar in Barcelona
Der erste Wolkenkratzer des französischen Architekten Jean Nouvel ist ein ebenso erstaunlicher wie kritikwürdiger Bau. Die spektakuläre äussere Erscheinung und die Perspektivwechsel im Innern zeugen vom kinematographischen Architekturverständnis des Franzosen.
29. Juli 2006 - Markus Jakob
Lange war der Flohmarkt «Les Encants» die einzige Attraktion der Plaça de les Glòries gewesen. Dabei bildet dieser Schnittpunkt dreier Hauptachsen auf Cerdás Stadterweiterungsplan von 1859 das eigentliche Zentrum Barcelonas. Mit dem Bau von Bofills Nationaltheater und Moneos Auditorium, wie auch durch die Verlängerung der Diagonale bis ans Meer, gewann der Platz in den letzten Jahren an Bedeutung. In Zukunft werden Bauten von Martorell Bohigas Mackay, Dominique Perrault, Zaha Hadid und Federico Soriano den Stadtteil weiter aufwerten. Auch sein zurzeit so einsam aufragendes Wahrzeichen wird dann - zum Guten oder Schlechten - Gesellschaft erhalten: die unlängst eröffnete Torre Agbar von Jean Nouvel, ein 144 Meter hohes Bürogebäude für den Wasserkonzern Aguas de Barcelona.
PHALLISCHE ARCHITEKTUR
Zur Ikone bestimmt ist es allein schon durch seine phallische Form. Nouvel schwebte nach eigenem Bekunden ein Geysir vor. Die Brüskheit, mit welcher der Turm aus einer vorläufig sehr disparaten Umgebung hervorschiesst, macht dies nur zu wahr. Zum eigentlichen Spektakel wird er aber durch das Fassadensystem. Die Aussenhaut besteht aus 60 000 abgewinkelten Glasscheiben, in denen sich die fünfundzwanzig verschiedenen Farbtöne der darunterliegenden Aluminiumverkleidung brechen. Je nach Lichtverhältnissen erscheint das Gebäude gleissend hell, fast immateriell, dann wieder stumpf und grau, oder es zeigt in verschiedenen Intensitätsgraden jene Polychromie, die nachts aus dem Bau einen Leuchtturm macht. Das Rot des unteren Teils geht unregelmässig in das oben dominierende Blau über - zufällig die Klubfarben des FC Barcelona. Doch noch eine andere Symbolik, die man im Innern wiederfindet, lässt sich daraus leicht herauslesen: Es sind die Flammen der Hölle, die da emporzüngeln! Mit der abschliessenden Kuppel scheint Nouvel, ähnlich wie bei seiner nicht realisierten «Tour sans fin» für Paris, die Auflösung des Gebäudes im Himmel anzustreben.
Nur noch erahnen lässt die schuppige, chamäleonartig schimmernde Haut die Struktur, die sich darunter verbirgt: den Betonzylinder mit seinen Fensteröffnungen, Quadraten von 92,5 Zentimetern Seitenlänge, 4400 an der Zahl. Sie sind nach dem Zufallsprinzip (allerdings nordseitig zahlreicher als gegen Süden) darüber verteilt, zuweilen einzeln, meist zu beliebigen Gruppen von drei bis sechs Quadraten formiert. Dieser fraktale Betonmantel bot während der Bauzeit einen womöglich noch phantastischeren Anblick als das Endergebnis. Da er zugleich das Tragwerk des Gebäudes bildet, machte seine extreme Durchlöcherung allerdings wiederum extreme konstruktive Kunstgriffe notwendig. Dafür gewährt diese Struktur allein durch ihre Betonmasse eine vorzügliche Wärmedämmung.
Das im Querschnitt kreisrund erscheinende Gebäude hat in Wirklichkeit einen leicht elliptischen Grundriss. Eine zweite, etwas dezentrierte Betonellipse in seinem Innern bildet den Technik- und Erschliessungskern. Die Aufzüge allerdings wurden mehrheitlich in die Aussenhaut verlegt, so dass die Liftfahrten einem Aufstieg in den Himmel über Barcelona gleichkommen. Der Effekt wird durch die von fuchsia über gelb zu blau reflektierenden Scheiben ins Psychedelische gesteigert: auf dem Trip ins Büro.
FILMISCHE EFFEKTE
Wie die äussere Erscheinung lässt auch das Innere mit seinen optischen Effekten, Reflexen und Perspektivwechseln keinen Zweifel an Nouvels kinematographischem Architekturverständnis. Es ist eine danteske Reise, die aus dem Soussol hinauf ins 34. Geschoss führt: aus dem geradezu an ein Inquisitionsgericht gemahnenden Auditorium in die rund und gleissend (fast wie der kahle Schädel des Architekten) den Bau abschliessende Kuppel. Dass sie dies als eigenständige Struktur tut, ist freilich ein Schwachpunkt des Baus, zumal wenn man Norman Fosters nur wenig früher entstandenen, als Gurke apostrophierten Swiss Re Tower in London zum Vergleich heranzieht. Dessen Eleganz resultiert eben aus der in sich geschlossenen Struktur, während hier der Übergang vom Betonmantel zu der ihm aufgesetzten Stahl- und Glaskuppel als Bruch erscheint: Nouvel vermochte das konstruktive System nicht durchzuziehen.
Einmal im Innern, ist es dann Geschmackssache, ob man Fosters unterkühlte Hall vorzieht oder doch eher Nouvels magmatischen, durch das Zufallsspiel der Fensterquadrate geprägten und im mediterranen Licht badenden Eingangsbereich. Eine massive Schiefertreppe führt von hier in die «Krypta», das finstere Auditorium, hinunter. Nouvel selbst nennt es den «Geigenkasten». Das Cafeteria-, Sitzungs- und Chefgeschoss überspringend, sei kurz ein Normalgeschoss geschildert. Zwischen den beiden elliptischen Betonzylindern von Aussenwand und Erschliessungskern nimmt es stützenfreie, 7 bis 14 Meter breite Grossraumbüros auf. Raffiniert sind die zweischichtigen Decken, die die Illusion einer grösseren Raumhöhe vermitteln. Die Möblierung ist angenehm unprätentiös. Dabei ist es Ansichtssache, ob man den kleinteiligen Raster der Vorhangfassade beim Blick durch die aleatorisch verteilten Fensterquadrate als störend empfindet. Er ist auch in Nouvels paradiesischem Aussichtsgeschoss nicht zu übersehen, unter der Kuppel, in deren Mitte eine weisse Eichel den Technikkern abschliesst. Kulisse für einen Kubrick-Film?
DER MEISTER VOR ORT
Die Torre Agbar ist ein Projekt von Jean Nouvel und von b720. Hinter diesem Namen verbirgt sich ein auf siebzig Mitarbeiter angewachsenes barcelonisches Büro, das von Fermín Vázquez geleitet wird. Dass bei Bauten der zum erlesenen Klub der weltweit tätigen Stars gehörenden Architekten ein lokaler Partner mitwirkt, dessen Name meist ungenannt bleibt, ist eher die Regel als die Ausnahme. Im Fall der Torre Agbar stand b720 sogar am Ursprung des Projekts: Vázquez war von der Stadt beauftragt worden, einen Nutzungsplan für das Gelände auszuarbeiten, und brachte, als ein Wettbewerb für den Turmbau ausgeschrieben wurde, den Namen Nouvel ins Spiel. So lässt sich festhalten, die Grobstruktur des Baus stamme von Nouvel, die Detailfragen seien indessen von b720 gelöst worden.
Fermín Vázquez hat auch seine eigenen Projekte; daneben arbeitet er zurzeit aber erneut mit zwei Global Players der Architektur zusammen. David Chipperfield und b720 errichten im Hafen von Valencia das Hauptgebäude für den America's Cup 2007 sowie die «Justizstadt» in Barcelona, eine Milliardeninvestition, um die bisher über die Stadt verstreuten Gerichtsbehörden zu zentralisieren. Unweit davon, gleichfalls an der bisher so schäbigen Stadteinfahrt vom Flughafen, plant Toyo Ito die Erweiterung der «Fira», mit der Barcelona seine Stellung als einer der weltweit führenden Messeplätze ausbauen will. Vázquez' Büro ist an der Projektierung der beiden je hundert Meter hohen Eingangstürme beteiligt.
PHALLISCHE ARCHITEKTUR
Zur Ikone bestimmt ist es allein schon durch seine phallische Form. Nouvel schwebte nach eigenem Bekunden ein Geysir vor. Die Brüskheit, mit welcher der Turm aus einer vorläufig sehr disparaten Umgebung hervorschiesst, macht dies nur zu wahr. Zum eigentlichen Spektakel wird er aber durch das Fassadensystem. Die Aussenhaut besteht aus 60 000 abgewinkelten Glasscheiben, in denen sich die fünfundzwanzig verschiedenen Farbtöne der darunterliegenden Aluminiumverkleidung brechen. Je nach Lichtverhältnissen erscheint das Gebäude gleissend hell, fast immateriell, dann wieder stumpf und grau, oder es zeigt in verschiedenen Intensitätsgraden jene Polychromie, die nachts aus dem Bau einen Leuchtturm macht. Das Rot des unteren Teils geht unregelmässig in das oben dominierende Blau über - zufällig die Klubfarben des FC Barcelona. Doch noch eine andere Symbolik, die man im Innern wiederfindet, lässt sich daraus leicht herauslesen: Es sind die Flammen der Hölle, die da emporzüngeln! Mit der abschliessenden Kuppel scheint Nouvel, ähnlich wie bei seiner nicht realisierten «Tour sans fin» für Paris, die Auflösung des Gebäudes im Himmel anzustreben.
Nur noch erahnen lässt die schuppige, chamäleonartig schimmernde Haut die Struktur, die sich darunter verbirgt: den Betonzylinder mit seinen Fensteröffnungen, Quadraten von 92,5 Zentimetern Seitenlänge, 4400 an der Zahl. Sie sind nach dem Zufallsprinzip (allerdings nordseitig zahlreicher als gegen Süden) darüber verteilt, zuweilen einzeln, meist zu beliebigen Gruppen von drei bis sechs Quadraten formiert. Dieser fraktale Betonmantel bot während der Bauzeit einen womöglich noch phantastischeren Anblick als das Endergebnis. Da er zugleich das Tragwerk des Gebäudes bildet, machte seine extreme Durchlöcherung allerdings wiederum extreme konstruktive Kunstgriffe notwendig. Dafür gewährt diese Struktur allein durch ihre Betonmasse eine vorzügliche Wärmedämmung.
Das im Querschnitt kreisrund erscheinende Gebäude hat in Wirklichkeit einen leicht elliptischen Grundriss. Eine zweite, etwas dezentrierte Betonellipse in seinem Innern bildet den Technik- und Erschliessungskern. Die Aufzüge allerdings wurden mehrheitlich in die Aussenhaut verlegt, so dass die Liftfahrten einem Aufstieg in den Himmel über Barcelona gleichkommen. Der Effekt wird durch die von fuchsia über gelb zu blau reflektierenden Scheiben ins Psychedelische gesteigert: auf dem Trip ins Büro.
FILMISCHE EFFEKTE
Wie die äussere Erscheinung lässt auch das Innere mit seinen optischen Effekten, Reflexen und Perspektivwechseln keinen Zweifel an Nouvels kinematographischem Architekturverständnis. Es ist eine danteske Reise, die aus dem Soussol hinauf ins 34. Geschoss führt: aus dem geradezu an ein Inquisitionsgericht gemahnenden Auditorium in die rund und gleissend (fast wie der kahle Schädel des Architekten) den Bau abschliessende Kuppel. Dass sie dies als eigenständige Struktur tut, ist freilich ein Schwachpunkt des Baus, zumal wenn man Norman Fosters nur wenig früher entstandenen, als Gurke apostrophierten Swiss Re Tower in London zum Vergleich heranzieht. Dessen Eleganz resultiert eben aus der in sich geschlossenen Struktur, während hier der Übergang vom Betonmantel zu der ihm aufgesetzten Stahl- und Glaskuppel als Bruch erscheint: Nouvel vermochte das konstruktive System nicht durchzuziehen.
Einmal im Innern, ist es dann Geschmackssache, ob man Fosters unterkühlte Hall vorzieht oder doch eher Nouvels magmatischen, durch das Zufallsspiel der Fensterquadrate geprägten und im mediterranen Licht badenden Eingangsbereich. Eine massive Schiefertreppe führt von hier in die «Krypta», das finstere Auditorium, hinunter. Nouvel selbst nennt es den «Geigenkasten». Das Cafeteria-, Sitzungs- und Chefgeschoss überspringend, sei kurz ein Normalgeschoss geschildert. Zwischen den beiden elliptischen Betonzylindern von Aussenwand und Erschliessungskern nimmt es stützenfreie, 7 bis 14 Meter breite Grossraumbüros auf. Raffiniert sind die zweischichtigen Decken, die die Illusion einer grösseren Raumhöhe vermitteln. Die Möblierung ist angenehm unprätentiös. Dabei ist es Ansichtssache, ob man den kleinteiligen Raster der Vorhangfassade beim Blick durch die aleatorisch verteilten Fensterquadrate als störend empfindet. Er ist auch in Nouvels paradiesischem Aussichtsgeschoss nicht zu übersehen, unter der Kuppel, in deren Mitte eine weisse Eichel den Technikkern abschliesst. Kulisse für einen Kubrick-Film?
DER MEISTER VOR ORT
Die Torre Agbar ist ein Projekt von Jean Nouvel und von b720. Hinter diesem Namen verbirgt sich ein auf siebzig Mitarbeiter angewachsenes barcelonisches Büro, das von Fermín Vázquez geleitet wird. Dass bei Bauten der zum erlesenen Klub der weltweit tätigen Stars gehörenden Architekten ein lokaler Partner mitwirkt, dessen Name meist ungenannt bleibt, ist eher die Regel als die Ausnahme. Im Fall der Torre Agbar stand b720 sogar am Ursprung des Projekts: Vázquez war von der Stadt beauftragt worden, einen Nutzungsplan für das Gelände auszuarbeiten, und brachte, als ein Wettbewerb für den Turmbau ausgeschrieben wurde, den Namen Nouvel ins Spiel. So lässt sich festhalten, die Grobstruktur des Baus stamme von Nouvel, die Detailfragen seien indessen von b720 gelöst worden.
Fermín Vázquez hat auch seine eigenen Projekte; daneben arbeitet er zurzeit aber erneut mit zwei Global Players der Architektur zusammen. David Chipperfield und b720 errichten im Hafen von Valencia das Hauptgebäude für den America's Cup 2007 sowie die «Justizstadt» in Barcelona, eine Milliardeninvestition, um die bisher über die Stadt verstreuten Gerichtsbehörden zu zentralisieren. Unweit davon, gleichfalls an der bisher so schäbigen Stadteinfahrt vom Flughafen, plant Toyo Ito die Erweiterung der «Fira», mit der Barcelona seine Stellung als einer der weltweit führenden Messeplätze ausbauen will. Vázquez' Büro ist an der Projektierung der beiden je hundert Meter hohen Eingangstürme beteiligt.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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