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Wer die Regeln ändern darf
Es gibt sie noch, die Meister der Architektur und des Lehrens! Was sie ausmacht, was man von ihnen lernen kann. Eine Würdigung Kazuo Shinoharas und Ernst Hiesmayrs, die in diesem Sommer gestorben sind.
20. August 2006 - Walter Zschokke
Innerhalb weniger Wochen sind diesen Sommer zwei Meister der Architektur und des Lehrens ver storben: Kazuo Shinohara und Ernst Hiesmayr. Nach der Mathematik fand Kazuo Shinohara, Jahrgang 1925, zur Architektur, in die ihn Meister Kyoshi Seike, am Tokyo Institute of Technology, einführte. Ab 1953 lehrte er selber an dieser Hochschule. Vom traditionalen japanischen Hausbau herkommend, entwickelte er einen „eigenen Stil“ anhand mehrerer Einfamilienhäuser, wobei er Abstraktion und Reduktion vertiefte. Ernst Beneder, der 1984 bei ihm in Tokyo studierte, zeigt in seinem ausgezeichneten Aufsatz im „Umbau“ (12, 1990) auf, wie über Kontakte des führenden japanischen Architekturkritikers Koji Taki zu Paris eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Theorien Roland Barthes' zustande kam. Dessen „Le degré zéro de l'écriture“ stieß nach 1970 in Japan auf großes Interesse, während Barthes seine Beobachtungen „Im Reich der Zeichen“ bestätigt sah.
Für einen Schriftsteller baute Shinohara 1974 das Tanikawahaus, dessen Äußeres einer simplen Scheune gleicht - allerdings mit geometrisch reinem 45-Grad-Satteldach. Im Sinne einer Nullpunkt-Berührung läuft im Hauptraum der leicht geneigte Hang unverändert als Humusboden durch. Er wollte nackten Raum bereitstellen, ohne Symbolik oder Bedeutung, hält er in seinem Vortrag „In Vorbereitung auf den vierten Raum“ fest („Prolegomena“, 53, 1986). Eine Stütze sollte eine Stütze sein, eine Strebe eine Strebe. Als er sah, dass dieser Raum bei den Betrachtenden dennoch Bedeutungen erzeugte, vertiefte er sei- ne Überlegungen zum Konzept der „im Nullpunkt angehaltenen Maschine“ und versuchte, dies auch in größeren Bauten umzusetzen.
Die Beziehung zu Wien beginnt 1980 mit einer Einladung an das Institut für Wohnbau der Technischen Universität, als Juror für den Prolegomena-Preis. 1986 gelingt es, Shinohara als Gastprofessor nach Wien zu holen. 40 Studierende nützen, anfangs eher zögerlich, diese einmalige Chance. 1997 organisiert das Architekturnetzwerk ORTE in der Steiner Minoritenkirche eine von Ernst Beneder gestaltete, den hohen Raum sensationell aktivierende Ausstellung. Und Shinohara kommt nach Krems, zur Eröffnung und zum Symposion „Transit.Orte.Metropolis“. Schüler aus Barcelona, Paris, Amsterdam, Berlin und Zürich reisen an, um den Kontakt mit ihm in der Diskussion zu erneuern. Und der Meister stellt Fragen, will vor allem zuhören, fragt die jungen Architekten nach ihren Überlegungen zur Zukunft der Architektur.
Im Jahr darauf vertieft er die inhaltliche Auseinandersetzung, ruft seine Schüler auf, schriftlich über Stand und Entwicklung von Architektur und Urbanismus in den Städten ihres Wirkens zu berichten. Und Shinohara reflektiert und kommentiert. Aus diesem weltweiten Diskurs entsteht ein dichtes, in Japan veröffentlichtes Buch, das belegt: Die Shinohara-Schule lebt. Ende Juni dieses Jahres starb Kazuo Shinohara. Er war aktiver Vertreter des in der japanischen Kultur bis heute verankerten und von seinen Schülern geschätzten Meistertypus. Trotz vorhandener Fesseln dieser Tradition ist ein Meister frei zu weiterer Entwicklung, entsprechend dem Kernsatz in dem japanischen Film „Der Tod des Teemeisters“: „Der Meister darf die Regeln ändern.“ - Was um 1600 noch den Tod durch Sepuku bedeutet, doch darüber ist das moderne Japan längst hinweg. In Europa hat sich ein traditionales Meisterprinzip fast gänzlich verloren. Nur mehr sporadisch finden sich Persönlichkeiten, die, meist Kraft eigenen Ringens, spontan zu jener Charakterbildung finden, in der wir Meisterschaft zu erkennen und anzuerkennen vermögen. Ernst Hiesmayr, von dem wir vergangene Woche Abschied nehmen mussten, war einer dieser raren, unmittelbar wirkenden Menschen. Selbst wenn er an einer „Massenuniversität“ lehrte, hat er eine „Schule“ begründet, deren Vitalität sich in einer wachsenden Zahl ausgezeichneter Bauten manifestiert, denn seine Theorie konstituierte sich als gelebte Praxis.
In Hiesmayrs eigenen Bauwerken findet sich ein vergleichbares Streben nach Reduktion und Klarheit wie bei Shinohara. Da sind seine „kleinen Häuser“, deren Entwürfe auf eigener Anschauung traditionaler Bautypen basieren - was seine vielen kraftvollen Skizzen belegen. In der Durcharbeitung führt er sie dann zu ungekünstelter Modernität und selbstverständlicher Einfachheit.
Mit der Heilig-Kreuz-Kirche im Langholzfeld in Pasching bei Linz, leistete Hiesmayr in den 1960er-Jahren einen grundsätzlichen Beitrag zum österreichischen Kirchenbau nach 1945. Das Urprinzip des Vierstützenhauses, der laterale Zugang durch die megalithartige Fügung der den Raum umschließenden Mauerblöcke und die als Weg und Ort integrierten Arbeiten des Bildhausers Karl Prantl verdichten sich zu einem Gesamtwerk, das der berühmten Nachbarin im Keferfeld würdig zur Seite steht.
Das Clima-Villen-Hotel in Nussdorf, eine der sensibelsten landschafts- und topografiefühligen Anlagen ihrer Zeit, ist heute zur Unkenntlichkeit verändert. Hier versagte die denkmalpflegerische Praxis, weil ein öffentliches Interesse in der Erkenntnis dieser einmaligen Qualität noch nicht ausreichend entwickelt war. Immerhin steht das Juridikum nahe der Wiener Börse auf seinen vier kräftigen Pfeilern unverändert im Stadtgefüge. Auch hier fließt der - in diesem Fall urbane - Boden, unmerklich abfallend, im Erdgeschoß des Gebäudes durch, ein anderer Kontext und doch der gleiche, die üblichen Regeln überschreitende Gedanke wie beim Tanikawahaus von Shinohara.
Die beiden Meister sind sich damals in Krems begegnet. Die Lingua franca unserer Zeit war ihrer Generation noch nicht so geläufig, der sprachliche Austausch begrenzt, aber die Hand konnten sie sich reichen, in gegenseitiger Anerkennung ihrer Leistungen. Was können wir von diesen Persönlichkeiten lernen? Sie waren wahrhaftig. Sie zählten nicht zu jenen „Meister“-Darstellern, die der Figur, die sie zu spielen vorgeben, ein mystifizierendes Mäntelchen umhängen, um Distanz zu erzeugen und „absolute Kompetenz“ vorzuspiegeln. Sie waren einzig der Sache der Architektur verpflichtet, weder politischer Macht noch der des Geldes, und kannten daher keine Berührungsängste, wussten aber, wo nötig, Distanz zu wahren. Gegenüber Gegenwart und Zukunft blieben sie stets offen, zugleich wissend, dass es absolute Sicherheiten nicht gibt, dass das Einsehen von Fehlern nicht Schwäche, sondern Stärke bedeutet und dass Unsicherheit und Zweifel auf dem Weg zur Vertiefung von Verstehen und Erfassen dazugehören. Sie stellten Fragen und suchten gemeinsam mit ihren Schülern nach Antworten. Wer kommen wollte, durfte kommen, wer da war, wurde akzeptiert, und wer eines Tages gehen wollte, ja zur persönlichen Entwicklung einfach musste, gehörte dennoch weiterhin zum großen Kreis. In einer Zeit, in der virtuell produzierte Scheincharaktere überhand nehmen, dürfen sich alle glücklich schätzen, die mit diesen starken Persönlichkeiten zusammenarbeiten durften.
Für einen Schriftsteller baute Shinohara 1974 das Tanikawahaus, dessen Äußeres einer simplen Scheune gleicht - allerdings mit geometrisch reinem 45-Grad-Satteldach. Im Sinne einer Nullpunkt-Berührung läuft im Hauptraum der leicht geneigte Hang unverändert als Humusboden durch. Er wollte nackten Raum bereitstellen, ohne Symbolik oder Bedeutung, hält er in seinem Vortrag „In Vorbereitung auf den vierten Raum“ fest („Prolegomena“, 53, 1986). Eine Stütze sollte eine Stütze sein, eine Strebe eine Strebe. Als er sah, dass dieser Raum bei den Betrachtenden dennoch Bedeutungen erzeugte, vertiefte er sei- ne Überlegungen zum Konzept der „im Nullpunkt angehaltenen Maschine“ und versuchte, dies auch in größeren Bauten umzusetzen.
Die Beziehung zu Wien beginnt 1980 mit einer Einladung an das Institut für Wohnbau der Technischen Universität, als Juror für den Prolegomena-Preis. 1986 gelingt es, Shinohara als Gastprofessor nach Wien zu holen. 40 Studierende nützen, anfangs eher zögerlich, diese einmalige Chance. 1997 organisiert das Architekturnetzwerk ORTE in der Steiner Minoritenkirche eine von Ernst Beneder gestaltete, den hohen Raum sensationell aktivierende Ausstellung. Und Shinohara kommt nach Krems, zur Eröffnung und zum Symposion „Transit.Orte.Metropolis“. Schüler aus Barcelona, Paris, Amsterdam, Berlin und Zürich reisen an, um den Kontakt mit ihm in der Diskussion zu erneuern. Und der Meister stellt Fragen, will vor allem zuhören, fragt die jungen Architekten nach ihren Überlegungen zur Zukunft der Architektur.
Im Jahr darauf vertieft er die inhaltliche Auseinandersetzung, ruft seine Schüler auf, schriftlich über Stand und Entwicklung von Architektur und Urbanismus in den Städten ihres Wirkens zu berichten. Und Shinohara reflektiert und kommentiert. Aus diesem weltweiten Diskurs entsteht ein dichtes, in Japan veröffentlichtes Buch, das belegt: Die Shinohara-Schule lebt. Ende Juni dieses Jahres starb Kazuo Shinohara. Er war aktiver Vertreter des in der japanischen Kultur bis heute verankerten und von seinen Schülern geschätzten Meistertypus. Trotz vorhandener Fesseln dieser Tradition ist ein Meister frei zu weiterer Entwicklung, entsprechend dem Kernsatz in dem japanischen Film „Der Tod des Teemeisters“: „Der Meister darf die Regeln ändern.“ - Was um 1600 noch den Tod durch Sepuku bedeutet, doch darüber ist das moderne Japan längst hinweg. In Europa hat sich ein traditionales Meisterprinzip fast gänzlich verloren. Nur mehr sporadisch finden sich Persönlichkeiten, die, meist Kraft eigenen Ringens, spontan zu jener Charakterbildung finden, in der wir Meisterschaft zu erkennen und anzuerkennen vermögen. Ernst Hiesmayr, von dem wir vergangene Woche Abschied nehmen mussten, war einer dieser raren, unmittelbar wirkenden Menschen. Selbst wenn er an einer „Massenuniversität“ lehrte, hat er eine „Schule“ begründet, deren Vitalität sich in einer wachsenden Zahl ausgezeichneter Bauten manifestiert, denn seine Theorie konstituierte sich als gelebte Praxis.
In Hiesmayrs eigenen Bauwerken findet sich ein vergleichbares Streben nach Reduktion und Klarheit wie bei Shinohara. Da sind seine „kleinen Häuser“, deren Entwürfe auf eigener Anschauung traditionaler Bautypen basieren - was seine vielen kraftvollen Skizzen belegen. In der Durcharbeitung führt er sie dann zu ungekünstelter Modernität und selbstverständlicher Einfachheit.
Mit der Heilig-Kreuz-Kirche im Langholzfeld in Pasching bei Linz, leistete Hiesmayr in den 1960er-Jahren einen grundsätzlichen Beitrag zum österreichischen Kirchenbau nach 1945. Das Urprinzip des Vierstützenhauses, der laterale Zugang durch die megalithartige Fügung der den Raum umschließenden Mauerblöcke und die als Weg und Ort integrierten Arbeiten des Bildhausers Karl Prantl verdichten sich zu einem Gesamtwerk, das der berühmten Nachbarin im Keferfeld würdig zur Seite steht.
Das Clima-Villen-Hotel in Nussdorf, eine der sensibelsten landschafts- und topografiefühligen Anlagen ihrer Zeit, ist heute zur Unkenntlichkeit verändert. Hier versagte die denkmalpflegerische Praxis, weil ein öffentliches Interesse in der Erkenntnis dieser einmaligen Qualität noch nicht ausreichend entwickelt war. Immerhin steht das Juridikum nahe der Wiener Börse auf seinen vier kräftigen Pfeilern unverändert im Stadtgefüge. Auch hier fließt der - in diesem Fall urbane - Boden, unmerklich abfallend, im Erdgeschoß des Gebäudes durch, ein anderer Kontext und doch der gleiche, die üblichen Regeln überschreitende Gedanke wie beim Tanikawahaus von Shinohara.
Die beiden Meister sind sich damals in Krems begegnet. Die Lingua franca unserer Zeit war ihrer Generation noch nicht so geläufig, der sprachliche Austausch begrenzt, aber die Hand konnten sie sich reichen, in gegenseitiger Anerkennung ihrer Leistungen. Was können wir von diesen Persönlichkeiten lernen? Sie waren wahrhaftig. Sie zählten nicht zu jenen „Meister“-Darstellern, die der Figur, die sie zu spielen vorgeben, ein mystifizierendes Mäntelchen umhängen, um Distanz zu erzeugen und „absolute Kompetenz“ vorzuspiegeln. Sie waren einzig der Sache der Architektur verpflichtet, weder politischer Macht noch der des Geldes, und kannten daher keine Berührungsängste, wussten aber, wo nötig, Distanz zu wahren. Gegenüber Gegenwart und Zukunft blieben sie stets offen, zugleich wissend, dass es absolute Sicherheiten nicht gibt, dass das Einsehen von Fehlern nicht Schwäche, sondern Stärke bedeutet und dass Unsicherheit und Zweifel auf dem Weg zur Vertiefung von Verstehen und Erfassen dazugehören. Sie stellten Fragen und suchten gemeinsam mit ihren Schülern nach Antworten. Wer kommen wollte, durfte kommen, wer da war, wurde akzeptiert, und wer eines Tages gehen wollte, ja zur persönlichen Entwicklung einfach musste, gehörte dennoch weiterhin zum großen Kreis. In einer Zeit, in der virtuell produzierte Scheincharaktere überhand nehmen, dürfen sich alle glücklich schätzen, die mit diesen starken Persönlichkeiten zusammenarbeiten durften.
Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum
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