Artikel

Monument und Meditationsraum
Neue Zürcher Zeitung

Die jüngst geweihte Kirche Santo Volto von Mario Botta in Turin

Kein anderer Baukünstler hat sich in den vergangenen Jahren so intensiv mit der Sakralarchitektur befasst wie Mario Botta. Sein Œuvre umfasst eine Kathedrale, eine Synagoge sowie mehrere Kapellen und Kirchen. Jetzt hat er in Turin sein dreizehntes Gotteshaus verwirklicht.

23. Dezember 2006 - Michael Marek
Es erstaunt immer wieder, dass selbst Mario Bottas grosse Bauten wie das Museum of Modern Art in San Francisco oder die Kathedrale von Evry bei Paris in ihrem Innern meditative Ruhe verströmen. «Das Bedürfnis nach Spiritualität ist nicht an religiöse Gefühle gebunden», sagt der 63- jährige Tessiner Architekt im Gespräch. «Wenn ich wählen könnte zwischen dem Bau eines Kaufhauses, eines Museums oder einer Kirche, so würde ich das Gotteshaus bevorzugen. Es hat sein eigenes Gedächtnis, seine eigene Tradition und ist nicht an den Konsum gebunden.» Das gilt auch für den mächtigen, expressiven Bau der Kirche Santo Volto im Nordwesten Turins. Der Kontrast zwischen dem roten Veroneser Stein des Sakralbaus und dem Betongrau der umliegenden Bürohäuser und Arbeitersiedlungen ist überwältigend. Aus einem sternförmigen Grundriss erheben sich sieben 35 Meter hohe Türme. «Ich bin von der Idee eines Zeltes ausgegangen, das an sieben Türmen festgemacht ist», erklärt Botta: «Sieben ist eine magische Zahl mit einem besonderen Gewicht in der Geschichte.»

Spiritueller Glanz

Dass es sich bei der Kirche Santo Volto um ein Gotteshaus handelt, erkennt der Besucher von aussen einzig am freistehenden Glockenturm - und an einer schmalen Linie an einer Aussenmauer. Diese mit Glas überzogene Vertikale führt Botta bis an den höchsten Punkt der Kirche und formt sie dort zu einem Kreuz. Im Innern besticht Santo Volto durch seine schlichte Gestalt. Die mit Holzpaneelen aus Ahorn verkleideten Wände und Decken verleihen dem Raum einen warmen, spirituellen Glanz. Licht fällt ausschliesslich von oben durch die Glasdächer der Aussentürme ein. Botta orientiert sich in der Lichtführung an seinem Lehrer Louis Kahn und dessen nie realisierter Hurva-Synagoge in Jerusalem.

In den religiösen Mittelpunkt von Santo Volto stellt Botta das Turiner Grabtuch, das in Form eines am Computer berechneten Pixelreliefs aus Marmor hinter dem Altar erscheint. Das «Heilige Antlitz», nach dem die Kirche benannt ist, beherrscht den kreisrunden Gebetsraum. «Wir leben in einer säkularisierten Gesellschaft, in welcher sich die spirituellen Bedürfnisse nicht mehr so stark bemerkbar machen. Wenn man aber einen Raum der Stille, der Meditation anbietet, dann kommen die Leute.» Mit seiner Ästhetik des Erhabenen will Botta in den Menschen wieder das Gefühl der Ehrfurcht wecken. Deshalb verzichtet er hier - wie bei allen seinen Gotteshäusern - auf augenfällige sakrale Erkennungsmerkmale oder frömmelnden Kitsch und arbeitet stattdessen mit Licht- und Schattenzonen. Der Rundbau erschwert zudem den Versuch, die fensterlose Kirche hierarchisch in Schiff und Chor einzuteilen: «Die Reaktion der einfachen Leute ist positiver als die der kirchlichen Würdenträger, in deren Kommissionen es manchmal ein vielsagendes Schweigen gab», resümiert Botta.

Vor der Kirche erinnerte ein Industriekamin an das Fiat-Werk, das hier einst stand. Botta hielt am knapp 60 Meter hohen Schornstein fest und liess ihn mit Beton ummanteln. An der Aussenseite wurden reflektierende Stahlkugeln gehängt, die spiralförmig wie auf einer Jakobsleiter nach oben gleiten. Nachts stellen sich durch die Beleuchtung wunderbare Lichteffekte ein. Botta will so zwischen Gotteshaus und industrieller Umgebung vermitteln. Santo Volto soll das Vorurteil widerlegen, Turin sei noch immer eine graue Autostadt. Denn dort, wo einst Fabrikschlote qualmten, gibt es heute Technologieparks, Museen und - mit Santo Volto - ein neues Wahrzeichen der piemontesischen Hauptstadt.

Botta träumt von der Wiederbelebung einer mittelalterlichen Tradition, als die Kirche noch in den städtischen Alltag eingebunden war. So soll Santo Volto zum Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens werden. Warum aber sollte in einer urbanen Landschaft des 21. Jahrhunderts ausgerechnet die Stadtmitte von einer Kirche besetzt werden? Und ist es nicht problematisch, ein religiöses Gebäude, das mehr einem gigantischen Tempel denn einer herkömmlichen Kirche ähnelt, für ein ehemaliges Industriegebiet zu entwerfen? «Nein», erwidert Botta vehement. Es gehe hier nämlich um die Frage, wie ehemalige industrielle Zentren heute genutzt werden: «Diese Stadtviertel brauchen eine neue Bedeutung, sie müssen zu neuem Leben finden. Die Ausstrahlung von Santo Volto wird dem Viertel neue Aufmerksamkeit bringen.»

Aber warum sollte man in einer Zeit, da beispielsweise in Deutschland, Grossbritannien oder den Niederlanden aus manchen Kirchen Restaurants und Orte der Event-Gesellschaft entstehen, überhaupt noch Sakralräume gestalten? Botta hält den Kirchenbau für keinen Anachronismus, schliesslich «baue ich ja keine Gotteshäuser aus eigenen Stücken, sondern weil ich beauftragt werde. Natürlich gibt es Fälle, in denen Kirchen leer bleiben und keine Besucher kommen. Aber das gilt auch für andere Gebäude, wenn sie ihre Funktion verloren haben.»

Wahrzeichen für Urbanität

Santo Volto ist Blickfang und Fremdkörper zugleich, ein Wahrzeichen für Urbanität und ein architektonisches Experiment. Damit ist diese Kirche genau das Gegenteil all jener gesichtslosen, multifunktionalen Seelsorgezentren, die für die siebziger Jahre kennzeichnend waren. Santo Volto besteht aber nicht nur aus einer Kirche. Hier findet man auch ein Kongresszentrum für 700 Personen, Büros der Kurie, Kardinalsgemächer und das Pastorat. Stolze 25 Millionen Euro soll der Kirchenkomplex gekostet haben. Das sei selbst innerhalb der katholischen Kirche nicht ohne Widerspruch geblieben, weiss Marco Bonatti, Chefredaktor des Kirchenblattes «La Voce del Popolo», zu berichten. In Turin habe es nach 1968 eine starke Tradition von Arbeiterpriestern gegeben. Diese hätten in der industriellen Produktion mitgearbeitet und auf der Seite der Gewerkschaften gestanden: «Diese Arbeiterpriester waren gegen den Bau einer imposanten Kirche, wie sie Santo Volto darstelle. Sie lehnten die Idee ab, an diesem Ort Arbeit und spirituelles Leben zusammenzuführen. Eine einfache Kirche, eine ‹Hütte›, hätte ihnen gereicht.» Ohne Architekturwettbewerb hatte der Turiner Kardinal Severino Poletto das Projekt durchgesetzt. Um sich und dem in Italien sehr populären Architekten ein Denkmal zu setzen, behaupten Kritiker. Zu einem Monument im besten Sinne des Wortes ist Santo Volto nun auch geworden.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: