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Das Ende des Canaletto-Blicks
Neue Zürcher Zeitung

Wien baut und erfindet sich neu

Als Wien vor einigen Jahren beschloss, die strengen Bauvorschriften zu lockern, konnte man noch nicht ahnen, welche Entwicklung diese neue Liberalität auslösen würde. Im Wildwuchs der Turmbauten ist herausragende Architektur nur vereinzelt zu finden, doch aus dem russgeschwärzten Wien wird endgültig eine moderne Stadt.

18. Juni 2007 - Paul Jandl
Die «Hamburg» liegt am Pier, über die Donau weht die leichte Brise eines Frühsommertags. Schiffe tuten auf ihrem Weg zum Schwarzen Meer, und was aus der Ferne des anderen Ufers herüberleuchtet, ist keine Luftspiegelung, sondern das neue Abbild Wiens. Bürohochhäuser ragen in den Himmel, «Donau City», kurz DC, wird der transdanubische Stadtteil genannt, in dem sich Glasfassade an Glasfassade reiht und wo die Rekorde fallen. Dominique Perrault hat den finalen Masterplan des insgesamt zwei Milliarden Euro teuren Areals erstellt, und der französische Architekt wird sich hier demnächst auch noch selbst verewigen: 220 Meter hoch wird der grössere seiner beiden Türme sein. Miteinander ergeben sie ein mächtiges Tor. Hinaus zur Welt, oder nach Wien hinein?

Wer zählt die Türme?

Wien baut, und das bedeutet in diesen Tagen Grosses. Wer so spät begonnen hat wie die Stadt an der Donau, der will keine Zeit verlieren. Lange genug hat der von Canaletto verewigte Blick auf Wien die Architektur in die Demutshaltung der Nostalgie gezwungen, doch seit man vor ein paar Jahren die Vorschriften in Sachen Bauhöhe liberalisiert hat, boomt der Markt mit der Architektur. Die Wiener freut's und die internationale Baukunst auch. Neben Dominique Perrault sind es Jean Nouvel, Zaha Hadid oder Massimiliano Fuksas, die hier in den letzten Jahren ihre Spuren hinterlassen haben. Lokalmatadoren wie Hans Hollein, Coop Himmelb(l)au oder Günther Domenig sind ohnehin da. Und fast alle wollen hoch hinaus. Langzeit-Solitäre waren das Herrengassenhochhaus aus den dreissiger Jahren und der 1955 eröffnete Ringturm. Bald wird man die Wiener Türme nicht mehr zählen können. Wenn erst der neue Zentralbahnhof fertig ist, sind es noch einmal um elf mehr. Die Stadt wächst über sich selbst hinaus.

In Wien, wo schon im ersten Bauboom der fünfziger Jahre alles nur moderat modern war, hat man sich vom imperialen architektonischen Erbe grosser Zeiten gerne einschüchtern lassen. Noch bis in die neunziger Jahre war die neue städtische Architektur eine Simulation des Vorhandenen. Man baute so, wie schon die Umgebung war. Was dabei herauskam, waren im besten Fall postmoderne Verrenkungen. Der Versuch, neben dem ortsüblichen Historismus nicht störend aufzufallen, ergab eine Art Historismus im Quadrat. «Wien», sagt der verdiente Architekturkritiker Friedrich Achleitner, «war nie ein Ort architektonischer Erfindungen. Es war eher ein Umschlagplatz von Ideen. Es ist ein Ort der Rezeption, der Adaption, der Kontemplation, der Koexistenz einander fremder oder ausschliessender Systeme. Die Stärke des Wieners liegt im Reagieren, Abwägen, Verbinden, im Relativieren absoluter oder sich so gebärdender Systeme. Dem Wiener ist nichts so verdächtig wie eine Sache, die sich selbst ernst nimmt.» Hans Holleins Haas-Haus am Wiener Stephansplatz wurde 1990 errichtet, und es war der einzige wirkliche Eingriff in innerstädtische Zonen während Jahrzehnten. Die spät-postmoderne Architektur des direkt gegenüber dem Dom gelegenen Hauses war bei der Fertigstellung ein Skandal. Sie zeigt heute nur noch, wie schnell der Anlass der Aufregungen verblassen kann.

Doppelkodierung

«Wer baut, hat recht», sagt einer, der es wissen muss, weil er in Wien lebt. Friedrich Achleitner hat es schon vor zwanzig Jahren auf eine prägnante Formel gebracht. Eine «Doppelkodierung aus Prinzip und Neigung» nennt Achleitner das traditionelle Selbstverständnis des Wiener Bauens. Und das heisst auch, dass die Neigung zum Prinzip werden kann. Wenn der Wiener Stadtplaner und Kritiker Reinhard Seiss kürzlich in einem elementaren Buch mit dem Titel «Wer baut Wien?» über die subtilen, aber wirkmächtigen Zusammenhänge zwischen Stadtpolitik, Investoren und Architekten aufgeklärt hat, dann sind die gegenwärtigen Wiener Verhältnisse bestens beschrieben. In Wien blüht das, was man nicht nur hier «Investorenstädtebau» nennt, ein Phänomen vorzugsweise ökonomischer Interessen, die sich über kommunale Bebauungspläne ebenso elegant hinwegsetzen, wie sie infrastrukturelle Fragen ausser acht lassen. Auf schlecht erschlossenen, bisher brachliegenden Grundstücken entstehen innerhalb kurzer Zeit neue städtische Zentren. Hochhausagglomerationen mit gemischter Nutzung schiessen aus dem knappen Boden. Um jeden Quadratmeter wird gerungen, bis sich die Baukörper gegenseitig im Weg stehen. Man holt international bekannte Architekten, sonnt sich im Licht der eigenen Bedeutung und wirft Schatten aufs Nebenhaus. Prominentes Beispiel für Entwicklungen dieser Art ist die sogenannte Wienerberg City, deren Büro- und Wohntürme den Reisenden, so er denn aus Süden kommt, schon von weitem begrüssen.

Wienerberg und andere Höhen

Der italienische Architekt Massimiliano Fuksas hat hier mit seinen gläsernen «Twin Towers» ein emblematisches Gebäude verwirklicht, dessen klassische Form von allerlei architektonischen Nebenakzenten begleitet wird. Coop Himmelb(l)au haben bunte, mit dekonstruktivistischer Zierrat verbundene Wohntürme auf den Wienerberg gestellt, und Albert Wimmer hat ein bemerkenswertes, mit grüner Keramik gekacheltes Gebäude in die Höhe gezogen, das nicht nur «Monte Verde» heisst, sondern auch ökologisch konzipiert ist. Von den oberen Stockwerken der Wienerberg City geht der Blick weit nach Süden. Oder ins Nebenhaus. Dicht an dicht stehen die Türme. Wer am Wienerberg Glück hat, der kann immerhin den Ausblick auf das begrünte Areal eines ehemaligen Ziegelwerks geniessen. Geradezu idyllisch kann die Welt hier anmuten, und manch einer nimmt gerne den Umstand in Kauf, dass es verkehrsmässig keinerlei Infrastruktur gibt.

Bei einem anderen Wiener Grossprojekt, dem «Monte Laa», ist die Lage umgekehrt. Eine der am stärksten befahrenen Stadtautobahnen Europas wird mit Büro- und Wohnhäusern überbaut. Eigentümer der nicht gerade vorteilhaft situierten Grundstücke ist eine grosse Baufirma. Und die will die Lage gleich doppelt versilbern. Schon stehen Teile des grossvolumigen Komplexes direkt über dem rollenden Verkehr. Aber das bisher Gebaute ist nichts gemessen an dem, was noch kommen soll. Ein von Hans Hollein entworfener neunzig Meter hoher Tower harrt noch der Verwirklichung. Der futuristisch anmutende Turm mit weit auskragenden Plateaus an der Spitze wirkt martialisch und erinnert entfernt an die Flaktürme, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mitten in der Stadt stehen. Dass es anders und weniger auftrumpfend auch geht, hat das Team Architektur Consult ZT mit Günther Domenig und Hermann Eisenköck in unmittelbarer Nähe des «Monte Laa» mit dem imposanten T-Center längst bewiesen. Österreichs grösstes Bürogebäude ist ein dunkler Koloss aus Stahl und Glas, der dennoch zu schweben scheint. Seine trotz der Grösse grazile Dynamik verdankt der sacht sich hebende und sich senkende Baukörper horizontalen Lamellen und seiner gestreckten Form.

Inmitten der immer häufiger gen Himmel weisenden neuen Wiener Architektur ist diese plastisch gewordene Gemächlichkeit eine wohltuende Beruhigung. Weithin ist dieses Meisterwerk in der Stadt zu sehen, und was seine Qualität betrifft, steht es allein auf weiter Flur. Denn besonderes Glück hat die Stadt mit architektonischen Grossprojekten in den letzten Jahren nicht gehabt. Wenn Immobilienentwickler ganze Viertel mit neuer Hochglanzarchitektur überziehen, dann verändert das zwar die vormals kleinteiligen städtischen Zonen, aber es macht Wien auch verwechselbar. Einzelne Impulse wie der Umbau der Simmeringer Backstein-Gasometer zu Wohnanlagen - durch Jean Nouvel, Coop Himmelb(l)au, Wilhelm Holzbauer und Manfred Wehdorn vor einigen Jahren - haben höheren Unterhaltungs- als Nutzwert.

Dass man in Wien Chancen auch gerne verpasst, zeigt sich an einem Projekt, mit dem schon vor über zehn Jahren begonnen wurde. 1993, zu einem Zeitpunkt, als die Architektin noch ein gutes Stück von ihrer heutigen Strahlkraft entfernt war, hat die Stadt Wien Zaha Hadid gebeten, für das wenig belebte Gebiet am zentral gelegenen Donaukanal ein Konzept zu erarbeiten. Als Draufgabe für Zaha Hadids Mühen hat man der Architektin angeboten, gleich auch selbst hier zu bauen.

Die Jahre vergingen, und der 2005 fertiggestellte Wohnbau Zaha Hadids ist, wie man nun deutlich sieht, auf die Grösse lokaler Möglichkeiten geschrumpft. Durch mehrfache Umplanung wurde aus einer ursprünglich spektakulären Skulptur ein halbherziger Kompromiss. Was dazu noch kommt: Zaha Hadids Werk liegt an einem wienerischen Unort. Gleich neben der von Friedensreich Hundertwasser behübschten Müllverbrennungsanlage Spittelau, zwischen einer Einfallstrasse und dem Donaukanal, muss sich Hadids aus mehreren Blöcken bestehender Bau nach der Decke strecken. Wie gross geplant und klein geschrumpft sehen die viergeschossigen Apartmenthäuser aus, und wohnen will nach anfänglichem Andrang auch niemand darin. Hadids Skulptur ist gegen jede Orthogonalität gebaut, sie kennt keine geraden Wände, und dieses künstlerische Plus ist bei 70 Quadratmeter grossen Wohneinheiten ein Minus in der Nutzung. Vielleicht hätte man Hadids hochfliegende Kreativität nicht ausgerechnet für ein Projekt des sozialen Wohnbaus nutzen sollen. Mit höchst konventionellem Material gebaut, stehen die Blöcke auf Stelzen über den backsteinernen Ausläufern von Otto Wagners Wiener Stadtbahn. Aus der Korrespondenz zwischen dem Alten und dem Neuen hat man sich Effekte versprochen, die aber durch das lokale Arrangement aus Platznot und Geldmangel gänzlich zunichte gemacht werden.

Wo der Mut zur Grösse fehlt, dort bleiben selbst die aufwendigsten Projekte im Ansatz stecken. Das Wiener Museumsquartier, das die neue Architektur verschämt und das Baudenkmal schonend hinter der Barockfassade der ehemaligen Hofstallungen verbirgt, ist ein Sündenfall der gleichen Art. Doch gleichzeitig lernt man dazu. Aus dem Weichbild der Stadt ragen immer mehr Orientierungspunkte des Neuen heraus. Die Schutzzone innere Stadt freilich bleibt mit gutem Grund tabu.

Neue urbane Zonen

Ein gutes Stück weiter, von Zaha Hadids Wohnbau den Donaukanal stromabwärts, entwickelt sich eine urbane Zone neuer Art. Im zweiten Bezirk, direkt gegenüber der City, stehen Häuserzeilen von unverblümter Wiener Nachkriegstristesse. Sie sind durchmischt mit Bürohäusern, die in den sechziger und siebziger Jahren schnell hochgezogen worden sind. Dass die Gegend nicht nur den besten Blick auf die Innenstadt bietet, sondern ihrerseits ein Panorama gewollter Architektur sein kann, hat man erst in den letzten Jahren bemerkt. Hans Hollein hat hier an prominenter Adresse einen «Media Tower» gebaut, Neumann & Partner haben gegenüber der jüngst behutsam renovierten und erweiterten Sternwarte Urania einen Büroturm hingestellt, und für Jean Nouvels «Uniqua»-Tower wird gerade die Baugrube ausgehoben. Alle drei Gebäude sind Eckpunkte im Häusergefüge, und alle drei wagen sie den Ausfallschritt gegen die gerade Linie.

Auf dickem Fuss steht der Glasturm von Neumann & Partner da. Seine Glasverkleidung spannt sich auf gebogenen Stahlträgern dem Boden entgegen. Hollein hat die beiden grösseren Baukörper seines «Media Tower» gegeneinander verdreht und noch ein schräges Türmchen davorgesetzt. Der gegenüberliegende Glasturm von Nouvel wird sich dem Werk Holleins entgegenneigen. Ob es mehr ist als ein Kippeffekt, muss sich erst zeigen.

Vielleicht sind es vor allem die auf den ersten Blick nicht ganz so spektakulären Entwürfe, die in Wien überzeugen. Das Bürohaus k47 von Henke und Schreieck, das sich am Wiener Kai an die Häuser einer grossbürgerlichen Jahrhundertwende so kompromisslos modern anpasst, dass gerade dieses Paradox seine sinnlichen Qualitäten hat, gehört dazu, Carl Pruschas edel rostendes «Bibel-Haus» hinter dem Wiener Museumsquartier oder die elegante Erweiterung der Wiener Stadthalle durch Dietrich & Untertrifaller.
Altes und Neues

Wien wird anders. In der Monarchie lag es im Zentrum der Welt und nach dem Zweiten Weltkrieg an dessen Ende. Beides, die k. u. k. Zeiten und die Ära des Eisernen Vorhangs, war mit Kopfbahnhöfen bestens zu bedienen. Doch jetzt wird neu geplant. «Bahnhof Wien Europa Mitte» sollte der neue zentrale Zugsknotenpunkt heissen. Vom selbstbewussten Namen ist man mittlerweile wieder abgekommen, das Projekt aber bleibt unverändert voluminös. Fast eine Milliarde Euro wird das neue Bahnhofsviertel kosten. Es ist so gross wie achtzig Fussballfelder und garantiert Wien den Anschluss an die Welt. Wo es bisher inferiore und nur wenig repräsentative Bahnhofsbauten gab, wird emsig neu gebaut und umgestaltet. Schon jetzt ist der Bahnhof Wien Nord im Bau, der Spatenstich für den Hauptbahnhof war letzte Woche, und der Wiener Westbahnhof, architektonisch noch der beste, wird ebenfalls bald in Angriff genommen.

Wien, das ist das Alte und das Neue. Dass man beides im gleichen Atemzug nennen kann, ist zumindest ein Fortschritt. Direkt neben dem T-Center in St. Marx ist jetzt ein Juwel historistischer Zweckarchitektur renoviert worden. Die Fensterscheiben der von zarten Eisensäulen getragenen ehemaligen Rinderhalle des Schlachthofs St. Marx spiegeln den imposanten Bürokomplex. Die Linien des einen gehen in die des anderen über. Und es ist kein Widerspruch, sondern Harmonie.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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