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Wirklichkeiten und Spiegelungen in realen und utopischen Filmstädten
Neue Zürcher Zeitung

Eine Untersuchung zu Film als urbanistischem Instrumentarium

21. Juni 2007 - Gabriela Burkhalter
Wenn in Jacques Tatis Film «Playtime» der Eiffelturm nur noch als Spiegelbild in den schwingenden Glastüren auftaucht, ist die Verwirrung perfekt: Was ist Wirklichkeit, was nur Abbild, was nur Spiegelung eines Abbilds? Wirklichkeiten, Abbilder und Spiegelungen in realen und utopischen Filmstädten sind das Forschungsfeld des in Berkeley dozierenden amerikanischen Urbanisten Nezar AlSayyad, der 20 zwischen 1927 und 1998 gedrehte Filme durchleuchtet hat, in denen die Stadt nicht nur Kulisse, sondern Protagonistin ist.
Nostalgische Projektionen

AlSayyad will den Film als urbanistisches Instrumentarium und Anschauungsmaterial nutzen. Sein Ansatz, ein bildhafter statt rein theoretischer Zugang zur Stadt, ist für die Film- wie die Stadtwissenschaft gewinnbringend. Er ordnet den Film einer Epoche zu, diskutiert das Verhältnis zwischen öffentlichem und privatem Raum und erläutert räumliche Aneignungsmuster der Filmprotagonisten. Solche Protagonisten sind z. B. der Vagabund (unfähig, die Realität zu verstehen oder sich in sie einzuklinken), der Flaneur (der gerne sieht und gesehen wird) oder der Voyeur (der beobachtet und sich selbst dem Blick entzieht).

AlSayyad untermauert so seine Hauptthese, dass sich Film und Stadtrealität gegenseitig inspirieren und dass sich der Film im postmodernen Zeitalter immer stärker von der Realität abkoppelt und seinen eigenen Referenzrahmen bildet. In Chaplins «Modern Times» (1936) wird der Vagabund als Inbegriff des Unproduktiven vom öffentlichen Raum ausgeschlossen, einen privaten Raum kann er sich jedoch nicht leisten. Der häusliche private Raum des Normalbürgers verlagert sich in die Suburbs, wogegen die Stadt unwirtlicher Ort der industriellen Produktion und des Konsums ist. Ähnliches zeigt Tatis «Mon oncle» (1958), der auf dem Gegensatz zwischen der romantisierten alten Stadt und der modernen Vorstadt aufbaut. «Playtime» (1967) zelebriert und ironisiert dann die absurde Ordnung und fanatische säuberliche Trennung der Lebensbereiche in der modernen Stadt: Der Verkehr dreht sich ordentlich im Karussell. Bereits kündigt sich hier die postmoderne Stadt als «managed playground» an, als moderierte Spielwiese und Vorform des amerikanischen Erlebnisparks.

Das rasante Städtewachstum, das die industrielle Moderne prägt, lässt insbesondere in den USA eine Nostalgie nach einer gemeinschaftlich funktionierenden Kleinstadt wach werden. In Bedford Falls in Capras «It's a Wonderful Life» (1946) setzt sich der Besitzer einer Bausparkasse in altruistischer Weise für seine Heimatstadt ein und erfüllt ärmeren Bürgern den Traum vom Eigenheim. In Giancaldo in Tornatores «Cinema Paradiso» (1989) sind die um den Platz gruppierten Institutionen wie Kino und Kirche anfänglich intakt, doch die emotionale und soziale Sprengkraft des Kinos verändert das Machtgefüge.

Die modernen Filmstädte sind für AlSayyad Resultat einer Versöhnung zwischen Realität und Fiktion. Hier orientiert sich die Filmstadt an der wirklichen Stadt. In der Postmoderne dagegen erkennt er ein Auseinanderdriften von Realität und filmischer Darstellung, aber auch eine gegenseitige Beeinflussung. Oftmals handelt es sich zudem um prophetische Filme, wie «Brazil» von Terry Gilliam (1985), der die Exzesse des Überwachungsstaats vorausnimmt. In «Sliver» von Phillip Noyce (1993) hat der voyeuristische Akt den realen zwischenmenschlichen Kontakt ersetzt, der Überwachungsapparat gibt Einzelnen ungeahnte Macht. Der zielgerichtete Blick des Voyeurs, erweitert durch Kameralinse und Bildschirm, ersetzt den wandernden Blick des Flaneurs.
Antiurbane Tendenzen

In «Pleasantville» von Garry Ross (1998) und Peter Weirs «The Truman Show» (1998) ist die totale Überwachung aufgrund eines paranoiden Sicherheitsbedürfnisses von den Bürgern selbst gewählt. Ihre Freiheiten müssen auf Kosten der Sicherheit beschnitten werden. AlSayyad sieht in diesen Filmen antiurbane Strömungen, analog der stadtplanerischen Stilrichtung des New Urbanism in den USA. Die Moderne und ihre optimistischen Verheissungen werden durch nostalgische Klischees ersetzt, die sich auf fatale Weise mit Hochsicherheitstechnologie verbinden: Leben wird inszeniert, um es besser zu kontrollieren.

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