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Strasse des Neuen Stils
Die Henry-van-de-Velde-Route in Thüringen und Sachsen
Der belgische Architekt Henry van de Velde starb vor fünfzig Jahren in Zürich. Die Blüte seines Schaffens hatte er in Weimar erlebt, wo er von 1902 bis 1917 lebte und viele wichtige Bauten entwarf.
26. Oktober 2007 - Ursula Seibold-Bultmann
«Hallo Claus, toll zu sehen, wie es bei Euch weitergeht. Waren die originalen Sockelleisten massiv, aus Bugholz geformt oder schichtverleimt auf Form?», fragte ein Van-de-Velde-Fan neulich auf der Website www.schlosslauterbach.com von Claus Lämmle, dem Besitzer eines bei Zwickau in Sachsen gelegenen Herrenhauses. Seit Lämmle vor zwei Jahren die Restaurierung des Neorenaissance-Gebäudes mit seiner ab 1907 ausgeführten und in erstaunlichem Umfang erhaltenen Innenausstattung von Henry van de Velde in Angriff nahm, kann man das Projekt im Internet virtuell bis ins Detail verfolgen.
Schleier des Vergessens
Warum ist es ausgerechnet in Sachsen und Thüringen so spannend, den Spuren des 1863 in Antwerpen geborenen und vor fünfzig Jahren, am 25. Oktober 1957, in Zürich gestorbenen van de Velde zu folgen – eines in Belgien, Paris, Berlin, den Niederlanden und der Schweiz tätigen Weltmannes, der zu den führenden Gestaltern des Jugendstils und zudem als Kunsttheoretiker zu den beredtesten Wegbereitern der Moderne gehörte? Weil er die Blüte seines Schaffens vor dem Ersten Weltkrieg in Weimar erlebte, wohin er 1902 als künstlerischer Berater des Grossherzogs Wilhelm Ernst zog. Von dieser Position aus sollte er die Produkte von Kunstgewerbe und Kleinindustrie im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach konkurrenzfähiger machen. Damit hatte er beachtlichen Erfolg; neben seinem Amt bei Hofe führte er aber auch noch ein Privatatelier, wo er zahlreiche öffentliche Bauten, Villen, Denkmäler und innenarchitektonische Arbeiten nicht nur für ferne Auftraggeber, sondern auch für Weimar, für Jena, Gera oder Chemnitz entwarf.
Ausser den zwischen 1904 und 1911 errichteten Weimarer Kunstschulbauten, die man ab 1919 als Heimstatt des Bauhauses und später als Architekturhochschule nutzte, wurden diese Objekte zu DDR-Zeiten überwiegend zweckentfremdet. So verschwand das feudale Palais Dürckheim in Weimar (1912/13) als Stasi-Quartier hinter hohen Mauern, das Haus Schulenburg in Gera (1913/14) beherbergte eine medizinische Fachschule, und die Villa Esche in Chemnitz (1902/03, erweitert 1911) wurde nacheinander durch die sowjetische Stadtkommandantur, die Stasi und die örtliche Handwerkskammer genutzt. Der Verlust von Originalsubstanz, bauliche Veränderungen und die Behinderung des kunstwissenschaftlichen Austausches zwischen Ost und West führten dazu, dass sich ein Schleier des Vergessens über van de Veldes thüringische und sächsische Bauten legte.
Lichtnahe Farben
Heute ist das anders. Im Jahr 2003 hob die Henry-van-de-Velde-Gesellschaft im westfälischen Hagen die «Europäische Van-de-Velde-Route» aus der Taufe, deren Kernstrecke von Brüssel über Löwen, Hagen und Weimar nach Chemnitz führt (www.van-de-velde-route.de). Bald danach stellten die Journalistin Gisela Bauer und die Architektin Astrid Bauer-Mecili aus Chemnitz bei einer Bereisung der Route fest, dass deren sächsisch-thüringischer Abschnitt die grösste Dichte öffentlich zugänglicher, neu restaurierter oder in Restaurierung befindlicher Bauten bietet. Und sie fanden, dieses Potenzial solle man nutzen: Mit Hilfe von Andrea Pötzsch, die in Chemnitz die renovierte Villa Esche als Van-de-Velde-Museum und Begegnungsort für Kultur und Wirtschaft managt, erstellten sie in Kontakt mit den Tourismusverbänden der betroffenen Städte, der Klassik-Stiftung Weimar und weiteren Akteuren einen separaten Flyer über die Van-de-Velde-Route in Sachsen und Thüringen – komplett mit Hotel- und Restaurantempfehlungen.
Federnde Linien neben geometrischen Ornamenten, weisse Schleiflackmöbel und schlichte Korbstühle, vom Neoimpressionismus abgeleitete Farbkonzepte, ein Konzertflügel mit heroisch ausladenden Beinen und ein rotblauer Windfang, in dem man sich fühlt wie in einem überdimensionalen japanischen Schmuckkästchen: Von Weimar bis Chemnitz erschliesst sich van de Veldes ästhetischer Einfallsreichtum auf ebenso abwechslungsreiche Weise wie sein scharfer Sinn für Material und Funktionalität. Im schiffsähnlichen Haus Hohe Pappeln, das er ab 1907 für sich selbst in Weimar baute, erlebt man seinen gestalterischen Eigenwillen sozusagen pur, während er anderswo reichen Bauherren entgegenkam oder die kulturelle Funktion eines Raumes durch betonte formale Disziplin veredelte. Über die helle, in Rotbuchenholz gehaltene Inneneinrichtung des Weimarer Nietzsche-Archivs (1903) schrieb der finnische Architekt Sigurd Frosterus, der kurz für van de Velde arbeitete, begeistert an seine Mutter: «Die Möbel sind mit einem Samt in mattem Rot bezogen, der an die Reflexe der untergehenden Sonne auf den Schneegipfeln der Alpen erinnert . . . Sie sind weder zu leicht noch zu schwer, weder elegant noch lässig . . . Mit einem Wort eine feierliche Einheit; nichts fällt aus dem Rahmen, nichts springt in die Augen, aber auch nichts dürfte weggelassen werden.»
Denkmalpflegerische Optionen
Die stets als Gesamtkunstwerk gedachten Raumschöpfungen van de Veldes lassen sich bei aller Sorgfalt heute nur annähernd wiedergewinnen. Dennoch, man kann dabei weit kommen: so wie der Arzt Volker Kielstein, der 1996 das Haus Schulenburg in seiner Heimatstadt Gera erwarb. Diese wuchtige Backsteinvilla, die van de Velde 1913 für den Textilfabrikanten Paul Schulenburg entwarf, ist heute als Baudenkmal von nationalem Rang aufgelistet. Kielstein und seine Frau haben ihr Ziel, den Originalzustand weitmöglichst wiederherzustellen, zu einem guten Stück schon erreicht – dank akribischen Recherchen, hartnäckiger Suche nach den richtigen Baumaterialien und grosszügiger Förderung aus Landes- und Bundesmitteln sowie durch die Deutsche Stiftung Denkmalschutz. Die Ausstattung der Beletage samt ergänzten Holzvertäfelungen, nachgewebten Wandbespannungen und Lampen-Repliken ist fast vollständig, und das Haus steht für Ausstellungen offen. Spätestens hier verstehen wir, welch grosse Rolle van de Velde beim Entwurf solcher Bauten den Bewegungsabläufen ihrer Nutzer zumass. Schreiten mehrere Personen auf der repräsentativen mehrläufigen Treppe zwischen der Eingangshalle und der Galerie im ersten Stock auf oder ab, entfaltet sich in drei Dimensionen ein lebendes Ornament.
In Chemnitz hat der Architekt Peter Apfel van de Veldes Villa Körner (1914), heute Sitz seines Büros, anders saniert (www.villa-koerner.com). Das im Krieg zerstörte Dachgeschoss stellte er nur im Äusseren wieder her, während er für das Innere eine neue räumliche und statische Lösung fand. Allein van de Veldes zentrale Diele mit umlaufender Galerie und blauem Oberlicht, von deren Ausstattung fast nichts erhalten war, hat er mit Hilfe fotogeometrischer Verfahren samt Möblierung rekonstruiert – eigentlich wider Willen, wie er sagt, aber mit spürbarer Resonanz in der Stadt. Andernorts hat die Denkmalpflege noch einiges zu tun: Van de Veldes Denkmal für den Unternehmer Ernst Abbe in Jena (1911) soll zwar demnächst restauriert werden; vernachlässigt und durch Hangschub und Pflanzenwuchs bedroht ist hingegen das schön gestaffelte Grabmal Koetschau (1909) auf dem Weimarer Hauptfriedhof.
Wie weiter?
Die Vielseitigkeit von van de Veldes Schaffen begünstigt das, was jede Kulturroute braucht, nämlich Belebung durch Veranstaltungen. In diesem Jahr gab und gibt es eine Reihe kleiner Ausstellungen; so zeigt die Bauhaus-Universität in Weimar unter dem Titel «Vernunftgemässe Schönheit» virtuelle Nachbauten nicht ausgeführter Entwürfe des Meisters (bis 16. November), und die Villa Esche in Chemnitz präsentiert «Henry van de Velde und seine Schüler» als Schöpfer angewandter Kunst (bis 11. November). Solche Projekte verlangen Kooperation. Viele der Akteure sind sich denn auch bewusst, dass kurzsichtige Konkurrenz dem überregionalen Erfolg der Van-de-Velde-Route nicht dient.
Schleier des Vergessens
Warum ist es ausgerechnet in Sachsen und Thüringen so spannend, den Spuren des 1863 in Antwerpen geborenen und vor fünfzig Jahren, am 25. Oktober 1957, in Zürich gestorbenen van de Velde zu folgen – eines in Belgien, Paris, Berlin, den Niederlanden und der Schweiz tätigen Weltmannes, der zu den führenden Gestaltern des Jugendstils und zudem als Kunsttheoretiker zu den beredtesten Wegbereitern der Moderne gehörte? Weil er die Blüte seines Schaffens vor dem Ersten Weltkrieg in Weimar erlebte, wohin er 1902 als künstlerischer Berater des Grossherzogs Wilhelm Ernst zog. Von dieser Position aus sollte er die Produkte von Kunstgewerbe und Kleinindustrie im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach konkurrenzfähiger machen. Damit hatte er beachtlichen Erfolg; neben seinem Amt bei Hofe führte er aber auch noch ein Privatatelier, wo er zahlreiche öffentliche Bauten, Villen, Denkmäler und innenarchitektonische Arbeiten nicht nur für ferne Auftraggeber, sondern auch für Weimar, für Jena, Gera oder Chemnitz entwarf.
Ausser den zwischen 1904 und 1911 errichteten Weimarer Kunstschulbauten, die man ab 1919 als Heimstatt des Bauhauses und später als Architekturhochschule nutzte, wurden diese Objekte zu DDR-Zeiten überwiegend zweckentfremdet. So verschwand das feudale Palais Dürckheim in Weimar (1912/13) als Stasi-Quartier hinter hohen Mauern, das Haus Schulenburg in Gera (1913/14) beherbergte eine medizinische Fachschule, und die Villa Esche in Chemnitz (1902/03, erweitert 1911) wurde nacheinander durch die sowjetische Stadtkommandantur, die Stasi und die örtliche Handwerkskammer genutzt. Der Verlust von Originalsubstanz, bauliche Veränderungen und die Behinderung des kunstwissenschaftlichen Austausches zwischen Ost und West führten dazu, dass sich ein Schleier des Vergessens über van de Veldes thüringische und sächsische Bauten legte.
Lichtnahe Farben
Heute ist das anders. Im Jahr 2003 hob die Henry-van-de-Velde-Gesellschaft im westfälischen Hagen die «Europäische Van-de-Velde-Route» aus der Taufe, deren Kernstrecke von Brüssel über Löwen, Hagen und Weimar nach Chemnitz führt (www.van-de-velde-route.de). Bald danach stellten die Journalistin Gisela Bauer und die Architektin Astrid Bauer-Mecili aus Chemnitz bei einer Bereisung der Route fest, dass deren sächsisch-thüringischer Abschnitt die grösste Dichte öffentlich zugänglicher, neu restaurierter oder in Restaurierung befindlicher Bauten bietet. Und sie fanden, dieses Potenzial solle man nutzen: Mit Hilfe von Andrea Pötzsch, die in Chemnitz die renovierte Villa Esche als Van-de-Velde-Museum und Begegnungsort für Kultur und Wirtschaft managt, erstellten sie in Kontakt mit den Tourismusverbänden der betroffenen Städte, der Klassik-Stiftung Weimar und weiteren Akteuren einen separaten Flyer über die Van-de-Velde-Route in Sachsen und Thüringen – komplett mit Hotel- und Restaurantempfehlungen.
Federnde Linien neben geometrischen Ornamenten, weisse Schleiflackmöbel und schlichte Korbstühle, vom Neoimpressionismus abgeleitete Farbkonzepte, ein Konzertflügel mit heroisch ausladenden Beinen und ein rotblauer Windfang, in dem man sich fühlt wie in einem überdimensionalen japanischen Schmuckkästchen: Von Weimar bis Chemnitz erschliesst sich van de Veldes ästhetischer Einfallsreichtum auf ebenso abwechslungsreiche Weise wie sein scharfer Sinn für Material und Funktionalität. Im schiffsähnlichen Haus Hohe Pappeln, das er ab 1907 für sich selbst in Weimar baute, erlebt man seinen gestalterischen Eigenwillen sozusagen pur, während er anderswo reichen Bauherren entgegenkam oder die kulturelle Funktion eines Raumes durch betonte formale Disziplin veredelte. Über die helle, in Rotbuchenholz gehaltene Inneneinrichtung des Weimarer Nietzsche-Archivs (1903) schrieb der finnische Architekt Sigurd Frosterus, der kurz für van de Velde arbeitete, begeistert an seine Mutter: «Die Möbel sind mit einem Samt in mattem Rot bezogen, der an die Reflexe der untergehenden Sonne auf den Schneegipfeln der Alpen erinnert . . . Sie sind weder zu leicht noch zu schwer, weder elegant noch lässig . . . Mit einem Wort eine feierliche Einheit; nichts fällt aus dem Rahmen, nichts springt in die Augen, aber auch nichts dürfte weggelassen werden.»
Denkmalpflegerische Optionen
Die stets als Gesamtkunstwerk gedachten Raumschöpfungen van de Veldes lassen sich bei aller Sorgfalt heute nur annähernd wiedergewinnen. Dennoch, man kann dabei weit kommen: so wie der Arzt Volker Kielstein, der 1996 das Haus Schulenburg in seiner Heimatstadt Gera erwarb. Diese wuchtige Backsteinvilla, die van de Velde 1913 für den Textilfabrikanten Paul Schulenburg entwarf, ist heute als Baudenkmal von nationalem Rang aufgelistet. Kielstein und seine Frau haben ihr Ziel, den Originalzustand weitmöglichst wiederherzustellen, zu einem guten Stück schon erreicht – dank akribischen Recherchen, hartnäckiger Suche nach den richtigen Baumaterialien und grosszügiger Förderung aus Landes- und Bundesmitteln sowie durch die Deutsche Stiftung Denkmalschutz. Die Ausstattung der Beletage samt ergänzten Holzvertäfelungen, nachgewebten Wandbespannungen und Lampen-Repliken ist fast vollständig, und das Haus steht für Ausstellungen offen. Spätestens hier verstehen wir, welch grosse Rolle van de Velde beim Entwurf solcher Bauten den Bewegungsabläufen ihrer Nutzer zumass. Schreiten mehrere Personen auf der repräsentativen mehrläufigen Treppe zwischen der Eingangshalle und der Galerie im ersten Stock auf oder ab, entfaltet sich in drei Dimensionen ein lebendes Ornament.
In Chemnitz hat der Architekt Peter Apfel van de Veldes Villa Körner (1914), heute Sitz seines Büros, anders saniert (www.villa-koerner.com). Das im Krieg zerstörte Dachgeschoss stellte er nur im Äusseren wieder her, während er für das Innere eine neue räumliche und statische Lösung fand. Allein van de Veldes zentrale Diele mit umlaufender Galerie und blauem Oberlicht, von deren Ausstattung fast nichts erhalten war, hat er mit Hilfe fotogeometrischer Verfahren samt Möblierung rekonstruiert – eigentlich wider Willen, wie er sagt, aber mit spürbarer Resonanz in der Stadt. Andernorts hat die Denkmalpflege noch einiges zu tun: Van de Veldes Denkmal für den Unternehmer Ernst Abbe in Jena (1911) soll zwar demnächst restauriert werden; vernachlässigt und durch Hangschub und Pflanzenwuchs bedroht ist hingegen das schön gestaffelte Grabmal Koetschau (1909) auf dem Weimarer Hauptfriedhof.
Wie weiter?
Die Vielseitigkeit von van de Veldes Schaffen begünstigt das, was jede Kulturroute braucht, nämlich Belebung durch Veranstaltungen. In diesem Jahr gab und gibt es eine Reihe kleiner Ausstellungen; so zeigt die Bauhaus-Universität in Weimar unter dem Titel «Vernunftgemässe Schönheit» virtuelle Nachbauten nicht ausgeführter Entwürfe des Meisters (bis 16. November), und die Villa Esche in Chemnitz präsentiert «Henry van de Velde und seine Schüler» als Schöpfer angewandter Kunst (bis 11. November). Solche Projekte verlangen Kooperation. Viele der Akteure sind sich denn auch bewusst, dass kurzsichtige Konkurrenz dem überregionalen Erfolg der Van-de-Velde-Route nicht dient.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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