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Das grosse Villensterben
Neue Zürcher Zeitung

Im Tessin verschwindet ein wichtiger Teil des architektonischen Erbes

Während die Tessiner mit der Sakralarchitektur einigermassen sorgfältig umgehen, haben sie nur ein geringes Bewusstsein für die Bedeutung profaner Gebäude. Namentlich beim Bautypus der Villa sind die Verluste erschreckend.

11. April 2008 - Bernhard Furrer
Das aufstrebende Bürgertum des 19. und frühen 20. Jahrhunderts manifestierte sich im Kanton Tessin baulich mit zahlreichen Villen grosszügigen Zuschnitts. Die meist einfachen, klar proportionierten zweigeschossigen Kuben unter Walm- oder Zeltdächern sind durch Terrassenvorbauten und Loggien sowie Treppenhausrisalite gegliedert und mit den Dekorationsmalereien verziert. Der Bautypus belegt eindrücklich den Aufschwung der Region, der nicht zuletzt von zurückkehrenden Auswanderern, die im Ausland zu Reichtum gelangt waren, vorangetrieben wurde. Im Innern häufig mit einem reichen Ausbau und eigentlichen Bildprogrammen ausgestattet, stehen diese Gebäude in der Regel in enger Beziehung zu einem Garten oder Park.

Ungebremste Abbruchwelle

Dieses bauliche Erbe, das weit über die Kantonsgrenzen hinaus von Bedeutung ist, geriet mit dem Bauboom, der den Kanton seit dem Zweiten Weltkrieg allmählich erfasste und der mit wechselnder Intensität bis heute anhält, unter Druck. Die Bodenspekulation und die Erwartung des raschen Geldes führten namentlich in städtischen Gebieten zu zahlreichen Abbrüchen von Bauten von hoher kulturhistorischer Bedeutung und – über Einzelbauten hinaus – zur Verstümmelung ganzer Wohnquartiere.

Dieser Prozess ist nicht zum Stillstand gekommen. Es ist festzustellen, dass im Gegensatz zur sakralen die profane Architektur im öffentlichen Bewusstsein und in den politischen Gremien des Tessins einen sehr geringen Stellenwert hat und dass die Sensibilisierung durch die Fachinstanzen ungenügend ist. Dadurch entstehen in den planerischen Konzepten wie in den Schutzbestrebungen bedeutende Lücken. Die Aufteilung der Kompetenzen zwischen dem Kanton und den Gemeinden führt nicht selten zu einem eigentlichen Schwarzpeterspiel, da diejenige öffentliche Körperschaft, die ein Gebäude unter Schutz stellt, auch für allfällige Forderungen der Eigentümerschaft geradezustehen hat. So fallen die Objekte mitunter zwischen Stuhl und Bank, stehen zum Abbruch frei.

Dies ist derzeit gleich bei zwei bedeutenden Bauten in Melide zu beobachten. Die Villa Soldini, auch «La Romantica» genannt, soll abgebrochen werden, um für ein Hotel oder Apartmenthaus der Luxusklasse Platz zu machen. Erbaut wurde sie im 18. Jahrhundert auf der in den Luganersee hinausreichenden Landzunge, von Stellung und Zuschnitt her ist sie vergleichbar mit der Villa Ciani in Lugano und der Favorita in Castagnola. Nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem eingeschossigen Vorbau zum mondänen Treffpunkt des Sottoceneri erweitert, wurde sie vom Kanton ohne ausreichende Archiv- und Bauuntersuchungen als wenig interessant eingestuft und nun von der Gemeinde trotz offenbar klarer Schutzklausel im Zonenplan zum Abbruch freigegeben. Die Haupttreppe ist bereits demoliert. Der Vorschlag zur Errichtung eines Hochhauses an dieser landschaftlich empfindlichen Stelle zeigt deutlich, wie die Massstabslosigkeit an den Ufern des Luganersees Schule zu machen scheint.

Auch die Villa Branca am Südrand des Ortskerns von Melide soll abgebrochen werden. Der 1912 fertiggestellte Hauptbau war gut zehn Jahre später vom Architekten Americo Marazzi gegen Osten erweitert worden. Heute prägen der markante Baukörper und die reich gegliederte Fassade noch die seeseitige Dorfansicht. Die imposanten Kellereiräume und die prachtvoll ausgestatteten und ausgemalten Wohnräume in den Obergeschossen, die trotz Leerstand der Villa seit 1981 auch heute noch gerettet werden könnten, werden einem Renditeobjekt geopfert – obwohl unlängst die Umnutzung des Gebäudes zum Weinbaumuseum vorgeschlagen wurde.

Noch grösser als in Melide ist der Druck in Lugano. Die einst von Villen geprägten Vorstädte des 19. Jahrhunderts sind bloss noch als Rudimente erkennbar. Das noch Erhaltene macht in seiner hohen Qualität schmerzlich erfahrbar, welche Verluste dieser Stadt in den letzten Jahrzehnten zugefügt worden sind, Verluste, die nur ganz selten mit guter neuer Architektur aufgewogen wurden. In anderen Regionen der Schweiz wäre beispielsweise ein Abbruch wie derjenige der Villa Ramona (Studer) in Castagnola, die der Architekt Bruno Tomamichel 1931 errichtet hatte, kaum möglich gewesen. Der Bau war eindrücklicher Beleg für die Könnerschaft des Architekten sowohl hinsichtlich der Eingliederung des grossen Bauvolumens in die Steilhanglage als auch bezüglich der innenräumlichen Disposition. Ein weiteres Beispiel unter vielen ist der Abbruch von gleich drei Villen unterhalb des Bahnhofs von Lugano Ende des letzten Jahres. Sie waren Bestandteil einer grösseren Baugruppe, die im «Inventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz» in der höchsten Kategorie eingestuft war – ein Nachbargebäude war kurz zuvor restauriert worden. Die Abbruchwelle betrifft indessen neben Lugano auch andere Städte.

Natürlich sind auch positive Beispiele zu vermelden. Sie sind in aller Regel nicht der Fürsorge der lokalen oder kantonalen Behörden, sondern vielmehr dem Bewusstsein und Engagement Privater zu verdanken. Als Beispiel im städtischen Bereich sei hier die Villa Staufer-Frizzi im Quartier Montarina von Lugano genannt, erbaut um 1910 vom bereits erwähnten Architekten Americo Marazzi. In diesem Quartier, das als Gartenstadt konzipiert und mit zweigeschossigen Villen überbaut worden war, ist die Errichtung von fünfgeschossigen Blöcken ermöglicht worden; die dadurch entstandenen Einbrüche sind brutal. Die Villa selbst wurde nach langer öffentlicher Auseinandersetzung und Vorliegen einer rechtsgültigen Abbruchbewilligung von einer Firma gekauft und bleibt erhalten. Allerdings offenbart die Art, wie der Bau nun durch den überhohen benachbarten Neubau bedrängt wird und wie mit der originalen Substanz im Innern umgesprungen worden ist, das Desinteresse der öffentlichen Hand an solchen Aktionen deutlich. Für den ländlichen Raum ist die Casa Lucomagno in Olivone als positives Beispiel zu nennen. Sie wurde von den Fratelli Bruni, erfolgreichen Auswanderern, als Sommerhaus erbaut und mit einer qualitätvollen Ausstattung versehen, die von späteren Eigentümern ergänzt und bereichert wurde. Vor kurzem von privater Seite sorgfältig restauriert, wird sie heute als kleines Hotel betrieben.

Neue Wege finden

Die Verluste der letzten Jahre und Jahrzehnte an Villen im Tessin – und darüber hinaus an Profanbauten ganz generell – sind erschreckend. Bauten von hoher architektonischer und geschichtlicher Qualität sind verloren gegangen; und auch das quantitative Ausmass der Zerstörung ist bedeutend. Da ist es erfreulich zu erfahren, dass beispielsweise Lugano unter der Führung von Stadträtin Giovanna Masoni ein kommunales Inventar der schützenswerten Bauten beschliessen will; nachdenklich stimmt allerdings, dass bloss etwa hundert Bauten erfasst werden sollen. Will der Kanton den Restbestand an bedeutenden Villen erhalten, muss er dringend neue Wege zu ihrem verlässlichen Schutz suchen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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