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Und weg ist das Dach
Das Oberammergauer Festspielhaus hat zusätzlich ein mobiles Dach bekommen. Was so leicht und elegant aussieht, ist ein Meisterstück der Ingenierbaukunst von Karlheinz Wagner.
16. August 2008 - Walter Zschokke
Zuvor noch ein Nachsatz zu meinem letzten Beitrag vom 21. Juni aus gegebenem Anlass: Derzeit schreiben und plappern alle die falsche Metapher vom „Vogelnest“ nach, wenn sie vom Olympia-Stadion in Peking berichten. Dabei erweist sich immer mehr, dass es aus der Ferne nicht wie ein bergendes Nest aussieht, sondern, wie jedes Kind bemerken würde, viel eher wie ein Käfig.
Doch wenden wir uns Naheliegenderem zu. Die Oberammergauer Passionsspiele finden seit 1634 statt, und zwar im Rhythmus von zehn Jahren. Etwa seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert steht mitten im Dorf ein 5000 Personen fassendes Festspielhaus mit Bogenträgern aus Stahlfachwerk in der Technologie damaliger Bahnhofshallen, verkleidet ursprünglich mit Holz. In jüngster Zeit erhielt das Gebäude eine äußere Schale aus Verputz, was ihm einen etwas monumentaleren Charakter verleiht.
Das Besondere an dem Haus ist, dass die Zuschauer im Trockenen sitzen, die Bühne mit Aufbauten jedoch unter freiem Himmel steht, damit der Blick aus dem Zuschauerraum einen markanten Berg erreicht, der zurSzenerie gehört. In den Jahren zwischen denPassionsspielen finden selbstverständlich ebenfalls Veranstaltungen unterschiedlichster Art statt, die jedoch weniger dem Wetterglück ausgesetzt sein sollten. Die Oberammergauer schrieben daher einen Wettbewerbunter Architekten und Bauingenieuren aus, um Entwürfe für ein mobiles Dach zu erhalten, das den Bühnenbereich über den Winterschützt, sowie gegen Regen, wenn dies bei Veranstaltungen erforderlich ist. Anlässlich der Passionsspiele jedoch muss das Dach so weit weggefahren werden können, dass es von keinem einzigen der 5000 Zuschauerplätze aus noch gesehen werden kann.
Der Wiener Bauingenieur Karlheinz Wagner, zusammen mit Architekt Christian Jabornegg von Jabornegg und Pálffy, gewann das anspruchsvolle Verfahren mit einem Dach, das entlang von zwei gekrümmten Trägern mit sich kreuzenden Erzeugenden eine hyperbolisch-paraboloide Form gewinnt. So ein Gebilde ist zwar als Idee schnell hingezeichnet, aber Konstruktion und Errichtung sind extrem anspruchsvoll. Und dann soll das Ganze noch auf sich hochkrümmenden Schienen in die eine Endposition gebracht oder wieder zurück in die hintere Endposition aus den Augen (der Zuschauer) verschwinden.
Die tragenden Schienen sind als gebogene Kastenträger ausgebildet, der Torsionssteifigkeit wegen. Das ließ sich nicht einfach so walzen, sondern musste zusammengeschweißt werden. Sie dienen als Widerlager der Dachkonstruktion, die immerhin 43 Meter Spannweite hat. In der oberen, auch für den Winter vorgesehenen Position kommen enorme Schneelasten dazu, die in speziellen Konstruktionen abgefangen werden, seitlich in den Bühnenaufbauten versteckt. Die Dachkonstruktion selbst wird in diesem Fall zusätzlich verspannt. Die Erzeugenden der Großform des Daches verlaufen als Stahlrohre kreuzweise diagonal von einem zum anderen Bogen, ein großmaschiges, gekrümmtes Netz bildend, das dem Dach seine Eleganz verleiht.
Die viereckigen Fächer zwischen den Rohren sind mit Stahlkabeln diagonal verspannt. Damit gewinnt die Konstruktion ihre Steifigkeit. Die Kräfte werden jeweils in einem komplexen Knoten konzentriert, den Karlheinz Wagner eigens entwickelt hat. Er ist so konstruiert, dass ein Knotentyp sämtliche geometrisch erforderlichen Lagen einnehmen kann und auch die Diagonalkabel entsprechend darin verankert sind und gespannt werden können. Wenn das Dach sich in der oberen Position befindet, schließt es mit einem pneumatischen Wulst dicht an das Gebäude an. Ist es in der unteren Position, bildet es ein ausladend schirmendes Vordach, das die Rückseite des Gebäudes stark aufwertet. In Oberammergau denkt man sogar daran, kleinere Veranstaltungen an der nun attraktiv gewordenen Rückseite abzuhalten.
Die Dachmembran besteht aus Bahnen eines feinen Edelstahlgewebes, die sich so weit verformen können, dass sie dem dreidimensionalen Flächenverlauf folgen können. Sie werden mit Stahlfedern in ihre Position gespannt. Im Winter müssen sie die Schneelast übernehmen können, und bei Regen dienen sie als Zerstäuber, damit die akustische Störung der Veranstaltungen minimiert wird. Das Wasser selbst wird von einer darunter gespannten Folie aufgefangen und zu den vier Fußpunkten geleitet und über Speier abgeführt.
Was auf den ersten Blick einfach aussieht, erweist sich bei näherer Betrachtung als extrem komplex und erforderte neben viel Nachdenken konkrete Versuche. Der Aufgabenbereich erfasste auch den des Maschinenbaus, nicht bloß der Tragwerksplanung und der Statik, etwas, wovon Architekten nur noch entfernt eine Ahnung haben.
Gewiss ist nicht jede Aufgabe für einen Bauingenieur derart komplex, aber dieses knapp 35 Tonnen schwere Dach gab zahlreiche Knacknüsse zu lösen, die auch einem sehr guten Bauingenieur des Nachts schlaflose Phasen bereiten können. Und am Ende schaut dann das Dach leicht und elegant aus, sodass man den geistigen Aufwand, der dahintersteckt, kaum mehr ahnt. Damit gelangen wir in den Spitzenbereich der Ingenieurbaukunst: Die Konstruktionen tragen und funktionieren mit einer Leichtigkeit, dass man die wirkenden Kräfte und schon gar die potenziell möglichen wie Wind und Schnee nicht einmal vermutet. So wird Ingenieurwerk und Ingenieurbaukunst zugleich zu Architektur. Dabei liegt die Ästhetik im Tragsystem, in den konstruktiven Details und in zahlreichen technischen Lösungen, die für das Gelingen erforderlich waren. Dank einem intensiven gestalterischen Perfektionsprozess ist aber das Bild, das sich dem Laien bietet, leicht, attraktiv und einprägsam. Gewiss ist nicht jeder Bauingenieur in diesen Dingen gleich begabt, doch der Einzelkämpfer Karlheinz Wagner offensichtlich schon.
An diesem Beispiel zeigt sich, wie spannend der Ingenieurberuf sein kann, wenn man sich die entsprechenden Herausforderungen sucht. Dass der Weg dorthin mit Mathematik dick gepflastert ist, sollte junge Menschen nicht abschrecken. Sie dient der Lösung von Problemen praktischer Natur, von denen die meisten heute nicht leiseste Ahnung mehr haben. Doch ohne die Ingenieure und ihre Leistungen wäre die Menschheit arm dran und vor allem ihre Zukunft in keinster Weise gesichert, da ein Großteil der anstehenden Probleme ohne technologische Weiterentwicklung nicht gelöst werden kann. Sparsamkeit hin oder her.
Doch wenden wir uns Naheliegenderem zu. Die Oberammergauer Passionsspiele finden seit 1634 statt, und zwar im Rhythmus von zehn Jahren. Etwa seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert steht mitten im Dorf ein 5000 Personen fassendes Festspielhaus mit Bogenträgern aus Stahlfachwerk in der Technologie damaliger Bahnhofshallen, verkleidet ursprünglich mit Holz. In jüngster Zeit erhielt das Gebäude eine äußere Schale aus Verputz, was ihm einen etwas monumentaleren Charakter verleiht.
Das Besondere an dem Haus ist, dass die Zuschauer im Trockenen sitzen, die Bühne mit Aufbauten jedoch unter freiem Himmel steht, damit der Blick aus dem Zuschauerraum einen markanten Berg erreicht, der zurSzenerie gehört. In den Jahren zwischen denPassionsspielen finden selbstverständlich ebenfalls Veranstaltungen unterschiedlichster Art statt, die jedoch weniger dem Wetterglück ausgesetzt sein sollten. Die Oberammergauer schrieben daher einen Wettbewerbunter Architekten und Bauingenieuren aus, um Entwürfe für ein mobiles Dach zu erhalten, das den Bühnenbereich über den Winterschützt, sowie gegen Regen, wenn dies bei Veranstaltungen erforderlich ist. Anlässlich der Passionsspiele jedoch muss das Dach so weit weggefahren werden können, dass es von keinem einzigen der 5000 Zuschauerplätze aus noch gesehen werden kann.
Der Wiener Bauingenieur Karlheinz Wagner, zusammen mit Architekt Christian Jabornegg von Jabornegg und Pálffy, gewann das anspruchsvolle Verfahren mit einem Dach, das entlang von zwei gekrümmten Trägern mit sich kreuzenden Erzeugenden eine hyperbolisch-paraboloide Form gewinnt. So ein Gebilde ist zwar als Idee schnell hingezeichnet, aber Konstruktion und Errichtung sind extrem anspruchsvoll. Und dann soll das Ganze noch auf sich hochkrümmenden Schienen in die eine Endposition gebracht oder wieder zurück in die hintere Endposition aus den Augen (der Zuschauer) verschwinden.
Die tragenden Schienen sind als gebogene Kastenträger ausgebildet, der Torsionssteifigkeit wegen. Das ließ sich nicht einfach so walzen, sondern musste zusammengeschweißt werden. Sie dienen als Widerlager der Dachkonstruktion, die immerhin 43 Meter Spannweite hat. In der oberen, auch für den Winter vorgesehenen Position kommen enorme Schneelasten dazu, die in speziellen Konstruktionen abgefangen werden, seitlich in den Bühnenaufbauten versteckt. Die Dachkonstruktion selbst wird in diesem Fall zusätzlich verspannt. Die Erzeugenden der Großform des Daches verlaufen als Stahlrohre kreuzweise diagonal von einem zum anderen Bogen, ein großmaschiges, gekrümmtes Netz bildend, das dem Dach seine Eleganz verleiht.
Die viereckigen Fächer zwischen den Rohren sind mit Stahlkabeln diagonal verspannt. Damit gewinnt die Konstruktion ihre Steifigkeit. Die Kräfte werden jeweils in einem komplexen Knoten konzentriert, den Karlheinz Wagner eigens entwickelt hat. Er ist so konstruiert, dass ein Knotentyp sämtliche geometrisch erforderlichen Lagen einnehmen kann und auch die Diagonalkabel entsprechend darin verankert sind und gespannt werden können. Wenn das Dach sich in der oberen Position befindet, schließt es mit einem pneumatischen Wulst dicht an das Gebäude an. Ist es in der unteren Position, bildet es ein ausladend schirmendes Vordach, das die Rückseite des Gebäudes stark aufwertet. In Oberammergau denkt man sogar daran, kleinere Veranstaltungen an der nun attraktiv gewordenen Rückseite abzuhalten.
Die Dachmembran besteht aus Bahnen eines feinen Edelstahlgewebes, die sich so weit verformen können, dass sie dem dreidimensionalen Flächenverlauf folgen können. Sie werden mit Stahlfedern in ihre Position gespannt. Im Winter müssen sie die Schneelast übernehmen können, und bei Regen dienen sie als Zerstäuber, damit die akustische Störung der Veranstaltungen minimiert wird. Das Wasser selbst wird von einer darunter gespannten Folie aufgefangen und zu den vier Fußpunkten geleitet und über Speier abgeführt.
Was auf den ersten Blick einfach aussieht, erweist sich bei näherer Betrachtung als extrem komplex und erforderte neben viel Nachdenken konkrete Versuche. Der Aufgabenbereich erfasste auch den des Maschinenbaus, nicht bloß der Tragwerksplanung und der Statik, etwas, wovon Architekten nur noch entfernt eine Ahnung haben.
Gewiss ist nicht jede Aufgabe für einen Bauingenieur derart komplex, aber dieses knapp 35 Tonnen schwere Dach gab zahlreiche Knacknüsse zu lösen, die auch einem sehr guten Bauingenieur des Nachts schlaflose Phasen bereiten können. Und am Ende schaut dann das Dach leicht und elegant aus, sodass man den geistigen Aufwand, der dahintersteckt, kaum mehr ahnt. Damit gelangen wir in den Spitzenbereich der Ingenieurbaukunst: Die Konstruktionen tragen und funktionieren mit einer Leichtigkeit, dass man die wirkenden Kräfte und schon gar die potenziell möglichen wie Wind und Schnee nicht einmal vermutet. So wird Ingenieurwerk und Ingenieurbaukunst zugleich zu Architektur. Dabei liegt die Ästhetik im Tragsystem, in den konstruktiven Details und in zahlreichen technischen Lösungen, die für das Gelingen erforderlich waren. Dank einem intensiven gestalterischen Perfektionsprozess ist aber das Bild, das sich dem Laien bietet, leicht, attraktiv und einprägsam. Gewiss ist nicht jeder Bauingenieur in diesen Dingen gleich begabt, doch der Einzelkämpfer Karlheinz Wagner offensichtlich schon.
An diesem Beispiel zeigt sich, wie spannend der Ingenieurberuf sein kann, wenn man sich die entsprechenden Herausforderungen sucht. Dass der Weg dorthin mit Mathematik dick gepflastert ist, sollte junge Menschen nicht abschrecken. Sie dient der Lösung von Problemen praktischer Natur, von denen die meisten heute nicht leiseste Ahnung mehr haben. Doch ohne die Ingenieure und ihre Leistungen wäre die Menschheit arm dran und vor allem ihre Zukunft in keinster Weise gesichert, da ein Großteil der anstehenden Probleme ohne technologische Weiterentwicklung nicht gelöst werden kann. Sparsamkeit hin oder her.
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