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Betontürme und Glasskulpturen
Die Ausstellung «Balkanology» im Schweizerischen Architekturmuseum Basel
Die bauliche Entwicklung der letzten sechzig Jahre im Gebiet zwischen Adria und Donau ist Thema einer schillernden Ausstellung im Schweizerischen Architekturmuseum Basel. Die informative Schau zeigt unbekannte Bauten der Nachkriegszeit und zeitgenössische Meisterwerke.
17. Oktober 2008 - Lutz Windhöfel
In spätantiker Zeit war die östliche Adriaküste ein Zentrum der Weltpolitik. Zu Beginn des 3. Jahrhunderts liess sich Kaiser Diokletian in Split einen riesigen Wehrpalast erbauen. Split ist heute nach der Hauptstadt Zagreb die zweitgrösste Stadt Kroatiens. Zusammen mit Slowenien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Mazedonien, Kosovo und Albanien ist Kroatien noch heute Teil eines alten Kulturraums, der an Italien und Österreich, an Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Griechenland grenzt. Die Zentren und Hauptstädte sind Ljubljana, Belgrad, Sarajevo, Podgorica, Skopje, Pristina, Tirana und Zagreb. Einen architektonischen Querschnitt durch diese Kulturlandschaft, die nach dem Zweiten Weltkrieg sozialistisch regiert wurde, vor 15 Jahren durch einen Bürgerkrieg die Welt in Atem hielt und heute dem rauen Wind der wirtschaftlichen Öffnung ausgesetzt ist, legt nun die von Gastkurator Kai Vöckler zusammengestellte Ausstellung «Balkanology» im Schweizerischen Architekturmuseum Basel.
Architektonischer Wandel
Das komplexe Thema ist in einen historischen und einen zeitgenössischen Ausstellungsteil gegliedert. Einerseits zeugen 21 grösstenteils realisierte Einzelprojekte und stadtplanerische Visionen von der avantgardistischen Architekturmoderne nach dem Zweiten Weltkrieg. Anderseits veranschaulichen zahlreiche seit 1991 entstandene Vorzeigebauten bausoziologische und bauökonomische Probleme, engagierte Initiativen sowie architektonische Hybridformen. Die Exponate werden auf hängenden, zu strukturierenden Raumeinheiten arrangierten Tisch- und Wandflächen präsentiert, die sich mitunter wie ein Fischmaul oder ein Blütenkelch öffnen.
Der retrospektive Blick setzt ein mit Jože Plečniks klassischer National- und Universitätsbibliothek in Ljubljana (1940). Nachhaltiger aber war der Einfluss von Le Corbusier, in dessen Pariser Atelier vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs zahlreiche Architekten des späteren Jugoslawien gearbeitet hatten und dessen Werk 1953 im Balkanstaat in einer repräsentativen Wanderausstellung gezeigt wurde. So spiegelt sich seine Unité d'Habitation in Marseille (1952) in Juraj Neidhardts Apartmenthaus in Sarajevo (1958). Man rezipierte auch die Baudoktrin der Congrès internationaux d'architecture moderne (CIAM), gemäss der die Trabantenstädte Neu-Belgrad (ab 1947) und Neu-Zagreb geplant und teilweise gebaut wurden. Mit Vjenceslav Richters jugoslawischem Pavillon auf der Weltausstellung in Brüssel (1958) zeigte sich die planwirtschaftliche Baukultur auf der Höhe der zeitgeistigen Nachkriegsmoderne. Neben solch respektablen Einzelwerken thematisiert «Balkanology» auch den Wiederaufbau des durch ein Erdbeben zerstörten Skopje nach Plänen von Kenzo Tange (1963).
Selbsthilfe
Für die postkommunistische Baukultur steht der beispielhafte Sitz der slowenischen Industrie- und Handelskammer in Ljubljana von Sadar & Vuga (1999) oder das Museum für zeitgenössische Kunst in Zagreb von Studio Za Arhitekturu und Igor Franić, das im kommenden Jahr eröffnet wird. Herausragend wirkt ein grosser, unkonventioneller Hausriegel der kroatischen Architekten Iva Letilović & Morana Vlahović in Krapinske Toplice (2003), der für einen vitalen sozialen Wohnungsbau steht. Dies sind die Hoffnungsträger künftiger Baukultur. Doch die Realität ist nüchterner; und die Ausstellung versteht sich als konstruktiver Kontrapunkt zum neoliberalen Architekturgeschehen, welches in einen gewaltigen Gestaltungs-Dilettantismus ausufert. An den Beispielen des neuen Kleinstaates Montenegro, der kosovarischen Hauptstadt Pristina (deren Einwohnerzahl sich mit 800 000 seit 1991 mehr als verdoppelte) oder der albanischen Hauptstadt Tirana wird der sogenannte Turbo-Urbanismus anhand von Grafiken, Fotos und Plänen erklärt und dokumentiert. Eine Baukultur ohne Regelwerk und die Abwesenheit einer staatlich-planenden Vernunft führen zu völliger Nichtbeachtung von sozial ausgewogener und ökonomisch notwendiger Infrastruktur. Bauherren, die mit profitversprechenden Billigbauten von der Wohnungsnot profitieren, und Investoren, die für schnelle Renditen bauliche Scheusslichkeiten erstellen, scheinen sich gegenseitig zu euphorisieren.
Doch nun greifen kritische Architekten und Planer zunehmend zur Selbsthilfe. Die Initiative «Archis Interventions» in Pristina sieht ihre Aufgabe in planerischen Handlungskonzepten an der Schnittstelle von Plan- und Marktwirtschaft. Hier stellt sich die Frage, ob diese Situation jener des 19. Jahrhunderts nicht ähnelt, als in der Zeit des Übergangs vom merkantil-monarchistischen zum industriell-republikanischen Europa die Städte explodierten und die soziale Frage einen Kernpunkt der entstehenden Disziplin des Städtebaus bildete. Nur ist dieses Kapitel der Urbanisierung wissenschaftlich kaum untersucht, da die Moderne in ihrem blinden Fortschrittsglauben alles immer nur für ein Problem der Zukunft hielt. In den städtebaulichen und architektonischen Krisengebieten des ehemaligen Jugoslawien wird nun aber die Gegenwart plötzlich mit der Vergangenheit konfrontiert. Da man sich dieser nie stellte, meint man noch immer alles neu erfinden zu müssen. Ein Beispiel dafür, dass die Fächer Architekturgeschichte und Urbanistik an europäischen Hochschulen in modernistischer Verblendung seit Jahrzehnten ihre Hausaufgaben ungenügend machen. Und für die städtebaulichen Probleme und architektonischen Kuriositäten kann man auf dem Balkan – anders als in Lagos, São Paulo oder Mexiko-Stadt – nicht den europäischen Kolonialismus und Imperialismus verantwortlich machen. Denn das Geschehen liegt nur einen Steinwurf von Venedig oder Graz entfernt vor unserer Haustüre.
[ Bis 28. Dezember. Katalogheft: Balkanology. Hrsg. Schweizerisches Architekturmuseum Basel und Kai Vöckler. Christian-Merian-Verlag, Basel 2008. 87 S., Fr. 19.–. ]
Architektonischer Wandel
Das komplexe Thema ist in einen historischen und einen zeitgenössischen Ausstellungsteil gegliedert. Einerseits zeugen 21 grösstenteils realisierte Einzelprojekte und stadtplanerische Visionen von der avantgardistischen Architekturmoderne nach dem Zweiten Weltkrieg. Anderseits veranschaulichen zahlreiche seit 1991 entstandene Vorzeigebauten bausoziologische und bauökonomische Probleme, engagierte Initiativen sowie architektonische Hybridformen. Die Exponate werden auf hängenden, zu strukturierenden Raumeinheiten arrangierten Tisch- und Wandflächen präsentiert, die sich mitunter wie ein Fischmaul oder ein Blütenkelch öffnen.
Der retrospektive Blick setzt ein mit Jože Plečniks klassischer National- und Universitätsbibliothek in Ljubljana (1940). Nachhaltiger aber war der Einfluss von Le Corbusier, in dessen Pariser Atelier vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs zahlreiche Architekten des späteren Jugoslawien gearbeitet hatten und dessen Werk 1953 im Balkanstaat in einer repräsentativen Wanderausstellung gezeigt wurde. So spiegelt sich seine Unité d'Habitation in Marseille (1952) in Juraj Neidhardts Apartmenthaus in Sarajevo (1958). Man rezipierte auch die Baudoktrin der Congrès internationaux d'architecture moderne (CIAM), gemäss der die Trabantenstädte Neu-Belgrad (ab 1947) und Neu-Zagreb geplant und teilweise gebaut wurden. Mit Vjenceslav Richters jugoslawischem Pavillon auf der Weltausstellung in Brüssel (1958) zeigte sich die planwirtschaftliche Baukultur auf der Höhe der zeitgeistigen Nachkriegsmoderne. Neben solch respektablen Einzelwerken thematisiert «Balkanology» auch den Wiederaufbau des durch ein Erdbeben zerstörten Skopje nach Plänen von Kenzo Tange (1963).
Selbsthilfe
Für die postkommunistische Baukultur steht der beispielhafte Sitz der slowenischen Industrie- und Handelskammer in Ljubljana von Sadar & Vuga (1999) oder das Museum für zeitgenössische Kunst in Zagreb von Studio Za Arhitekturu und Igor Franić, das im kommenden Jahr eröffnet wird. Herausragend wirkt ein grosser, unkonventioneller Hausriegel der kroatischen Architekten Iva Letilović & Morana Vlahović in Krapinske Toplice (2003), der für einen vitalen sozialen Wohnungsbau steht. Dies sind die Hoffnungsträger künftiger Baukultur. Doch die Realität ist nüchterner; und die Ausstellung versteht sich als konstruktiver Kontrapunkt zum neoliberalen Architekturgeschehen, welches in einen gewaltigen Gestaltungs-Dilettantismus ausufert. An den Beispielen des neuen Kleinstaates Montenegro, der kosovarischen Hauptstadt Pristina (deren Einwohnerzahl sich mit 800 000 seit 1991 mehr als verdoppelte) oder der albanischen Hauptstadt Tirana wird der sogenannte Turbo-Urbanismus anhand von Grafiken, Fotos und Plänen erklärt und dokumentiert. Eine Baukultur ohne Regelwerk und die Abwesenheit einer staatlich-planenden Vernunft führen zu völliger Nichtbeachtung von sozial ausgewogener und ökonomisch notwendiger Infrastruktur. Bauherren, die mit profitversprechenden Billigbauten von der Wohnungsnot profitieren, und Investoren, die für schnelle Renditen bauliche Scheusslichkeiten erstellen, scheinen sich gegenseitig zu euphorisieren.
Doch nun greifen kritische Architekten und Planer zunehmend zur Selbsthilfe. Die Initiative «Archis Interventions» in Pristina sieht ihre Aufgabe in planerischen Handlungskonzepten an der Schnittstelle von Plan- und Marktwirtschaft. Hier stellt sich die Frage, ob diese Situation jener des 19. Jahrhunderts nicht ähnelt, als in der Zeit des Übergangs vom merkantil-monarchistischen zum industriell-republikanischen Europa die Städte explodierten und die soziale Frage einen Kernpunkt der entstehenden Disziplin des Städtebaus bildete. Nur ist dieses Kapitel der Urbanisierung wissenschaftlich kaum untersucht, da die Moderne in ihrem blinden Fortschrittsglauben alles immer nur für ein Problem der Zukunft hielt. In den städtebaulichen und architektonischen Krisengebieten des ehemaligen Jugoslawien wird nun aber die Gegenwart plötzlich mit der Vergangenheit konfrontiert. Da man sich dieser nie stellte, meint man noch immer alles neu erfinden zu müssen. Ein Beispiel dafür, dass die Fächer Architekturgeschichte und Urbanistik an europäischen Hochschulen in modernistischer Verblendung seit Jahrzehnten ihre Hausaufgaben ungenügend machen. Und für die städtebaulichen Probleme und architektonischen Kuriositäten kann man auf dem Balkan – anders als in Lagos, São Paulo oder Mexiko-Stadt – nicht den europäischen Kolonialismus und Imperialismus verantwortlich machen. Denn das Geschehen liegt nur einen Steinwurf von Venedig oder Graz entfernt vor unserer Haustüre.
[ Bis 28. Dezember. Katalogheft: Balkanology. Hrsg. Schweizerisches Architekturmuseum Basel und Kai Vöckler. Christian-Merian-Verlag, Basel 2008. 87 S., Fr. 19.–. ]
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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