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«Wirkliche Grösse und Körperlichkeit»
Die Auswirkungen von Andrea Palladios Baukunst auf die Entwicklung der Architektur
Beim Tode Palladios war seine gebaute Architektur Stückwerk. Er hatte dies selbst erkannt und geschrieben, man werde gleichwohl auf das schliessen können, was es vollendet einmal sein würde. Damit hatte er auch vorweggenommen, dass man auf ihn in doppelter Weise, über seine Bauten und über sein Werk der «Quattro Libri», Bezug nehmen würde.
29. November 2008 - Werner Oechslin
Am 19. September 1786 traf Johann Wolfgang von Goethe in Vicenza ein und notierte: «Vor einigen Stunden bin ich hier angekommen und habe schon die Stadt durchlaufen, das Olympische Theater und die Gebäude des Palladio gesehen. Von der Bibliothek kannst du sie in Kupfer haben, also sag ich nichts, nenn ich nichts, als nur im allgemeinen. Wenn man diese Werke nicht gegenwärtig sieht, hat man doch keinen Begriff davon.» Goethe hat sich also die Bauten Palladios in einem ersten Gang durch die Stadt vorgenommen. Um nicht unnötig Zeit zu verlieren, verweist er für Einzelheiten und Beschreibung auf die Bücher. Stattdessen kommt er zur Sache, zu Palladio selbst, der sich ihm aus der körperlichen Wirklichkeit der Bauten erschliesst. Er sei «von innen heraus» ein grosser Mensch gewesen.
Goethe in Vicenza
Man möchte unterstellen, dass Goethe umgekehrt aus den Büchern lediglich jene Oberflächen, die gekonnten und zur harmonischen Perfektion geführten Fassadenkompositionen, zur Kenntnis genommen hat. Und nun hat ihn die Wirklichkeit übermannt und hinter den Bildern den Menschen Palladio erkennen lassen. Daraus, aus dieser konkreten Erfahrung, gewinnt Goethe einen «Begriff» von Palladios Architektur. Helmuth Plessners Ästhesiologie des Geistes vorgreifend, steht ihm hier die «Griffigkeit» des Sehens zu Diensten, lässt ihn Glieder und Formen der Architektur verstehen als «reine Erfassung der Dinglichkeit einer Inhaltsfülle». Wie sich das genau verhält, lässt Goethe aus der bereinigten Textfassung der «Italienischen Reise» erkennen: «Wenn man nun diese Werke gegenwärtig sieht, so erkennt man erst den grossen Wert derselben, denn sie sollen ja durch ihre wirkliche Grösse und Körperlichkeit das Auge füllen, und durch die schöne Harmonie ihrer Dimensionen nicht nur in abstrakten Aufrissen, sondern mit dem ganzen perspektivischen Vordringen und Zurückweichen den Geist befriedigen.»
Goethe hat hier sein ganzes architektonisches Wissen bemüht. Die Verbindung der Perspektive mit den Vor- und Rücksprüngen, den «abgestuften Reliefvorstellungen», wie es Peter Behrens später nennt, ist präzis Vitruv nachformuliert. Sein Wissen orientiert sich am Sehvorgang und beschreibt, was man «auf einen Blick» erfährt. «Tous ceux qui ont vû les bâtimens de Palladio, conviennent, qu'ils ravissent au premier coup d'œil.» So schreibt es schon C. E. Briseux 1752 in seinem «Traité du Beau Essentiel». Er bricht mit der akademischen Tradition, die alles und jedes ausschliesslich am einzelnen Glied und Mass erproben und gleich auch als Regel verstehen will. (Insofern war Vignola – bei François Blondel – das massgebliche Vorbild und – bei Le Corbusier – das zu überwindende Hindernis. Palladios Villa Rotonda dagegen führt Le Corbusier 1923 in seinem Aufsatz über «pérennité» vor, an dessen Ende er eine Architektur «au-delà du calcul» beschwört.) Das Bild- und Bücherwissen ist vornehmlich flach. «Wirkliche Grösse und Körperlichkeit» sind die wahren Kennzeichnungen des Gebauten. Palladio zum Anfassen!
Architektur und Gesellschaft
Palladio, über dessen Leben wir so wenig wissen und der von Anfang an – durch die Namensgebung – einer Idealisierung zugeführt wird, scheint sich gerade dagegen, gegen das Verschwinden seiner Architektur in einem diffusen Klassizismus, zu wehren. In Georg Andreas Böcklers erster deutscher Teilübersetzung (1698) überlagern sich die Vorstellungen einer «Pallas Architectonica» und eines «sinnreichen Palladius». Allein, Palladio, der «vortrefflich-Italiänische Baumeister», überstrahlt alles durch seine Person und seinen unangefochtenen Vorbildcharakter. Es geht eben stets darum, den richtigen «Begriff» seiner Architektur zu besitzen, und das ist mehr als ein Regelwerk.
Andrea Calmo, ein Zeitgenosse Palladios, beantwortet die Frage, was der Mensch von der Architektur erwartet: «un sguardo suave, un viso mansueto, e una vita perfetta». Die Architektur ist im Leben verwurzelt, und dort soll sie auch verankert bleiben. In Berlin wird Riedel d. Ä. 1796, als es wieder einmal um Situierung und um einen Neuanfang der Architektur ging, schreiben: «Das Bauen hat stets unmittelbar kultiviert.» Man ist sich dieser Bedeutung und der dazugehörigen Tat bewusst. Und deshalb soll man auch schreiben, um die eigene Einsicht und Erfahrung einer Entwicklung und einem Fortschritt zuzuführen. «Bisognerebbe che ogni eccellente maestro, scrivesse sempre della sua arte: accioche operando & scrivendo un'altro, la s'andassi sempre megliorando.» So führt es Antonfrancesco Doni 1551 in seiner «seconda libraria» aus.
Wer hätte sich mehr darum gekümmert als Palladio selbst, der zu Beginn des «Proemio ai Lettori» seiner vier Bücher ausführt, wie er auf der doppelten Grundlage der antiken römischen Architektur, der Autorität Vitruvs und der antiken Bauten selbst seine eigene Baukunst entwickelt. Palladio legt sein Vorgehen offen, was nun eben in der Abgleichung des theoretischen Wissens mit dem «archäologischen» Befund zugrunde gelegt ist und in der systematischen Abfolge von Aufmessen («misurare minutissimamente»), Verstehen («comprendere») und Aufzeichnen («& in disegno ridurlo») besteht. Aber dies ist nur Mittel zum Zweck. Palladios Botschaft ist keine grammatikalische, sosehr gerade er tief in die Strukturen von Bau und Gliedern und Form eindringt, so wie das der antike Grammatiker Priscian vorgibt, der in den Buchstaben («litera») das Zeichen («nota elementis») und sogar ein Bild («imago») erkennt. Natürlich setzt Palladio «Zeichen» – diesbezüglich der Vitruv-Interpretation Daniele Barbaros folgend, der vom «segno dell'artefice» spricht.
Aber Palladio geht weit darüber hinaus. Seine Botschaft ist eine umfassende, architektonisch-ethische in bester humanistischer Tradition. So wie schon Leonbattista Alberti festhielt, es sei nicht verhandelbar, dass die Bauwerke für die Menschen geschaffen seien, so formuliert Palladio, es erscheine ihm menschenwürdig («cosa degna di huomo»), nicht nur für sich selbst, sondern zum Nutzen auch der andern tätig zu sein. Daraus leitet er seine Aufgabe ab und definiert Zeilen später Architektur als «modo di fabricare con universale utilità». Architektur sei eine Bautätigkeit zum allgemeinen Nutzen. Architektur im Dienste der Gesellschaft.
Weil dies im Vordergrund steht, kommt Palladio auch schnell auf jene Menschen zu sprechen, die ihn in dieser Absicht bestärken und unterstützen, die «Gentiluomini», angefangen bei seinem ersten Mentor und Namensgeber Giangiorgio Trissino. Dem entspricht dann, dass Palladio noch in seinem Proemio betont, dass er von den Menschen und deren Behausungen ausgehen wolle, um erst dann zu den öffentlichen Bauten fortzuschreiten, so wie eben die Gesellschaft sich dem Einzelnen verdankt. Sie ist nicht einfach gottgegeben, sondern ein Resultat ökonomisch-kultureller Entscheidung. Das Glücksstreben ist das einsehbare, vernünftige Ziel der Menschen. In der Nikomachischen Ethik Aristoteles' wird das verhandelt. Und seit den Kommentatoren Leonardo Aretino und Jacques Lefèvre d'Estaples erscheint die Ökonomie der Politik gleichwertig an die Seite gesetzt, gerade weil sie sich beide auf die «civitas» in umfassendster Weise beziehen.
Bei Lefèvre d'Estaples ist die «civitas» in «domus, pagus, civitas» unterschieden im Sinne des Diktums Albertis, wonach das Haus und die Stadt im Grunde genommen ein und dasselbe sind. Die «Ökonomie» leitet Lefèvre d'Estaples vom Haushalt – «apo tou oikou kai nomou» – ab, weil sich hier exemplarisch herausstellt, was sich auch im grösseren Zusammenhang bewähren muss. Wer sich also dem Haus zuwendet, arbeitet an einem gesellschaftlichen Entwurf. Schon Aristoteles hatte festgestellt, dass eine solche, Ordnung setzende und entwickelnde menschliche Gesellschaft natürlich dem «Bienenstaat», der «bloss» gut organisiert ist, überlegen ist. Das ist es, was sich Palladio, von seinen Gentiluomini unterstützt, vorgenommen hat und was ihn dann zur Überzeugung kommen lässt, er habe una «usanza nuova» gefunden, ein «Neues» entwickelt.
Haus und Tempel
Der Architekt ist also gesellschaftsbildend. Palladio hat das längst verinnerlicht. Deshalb kann er umgekehrt davon ausgehen, dass wohl auch in der Antike zuerst Hausbauten erstellt wurden und die Tempel erst danach deren Formen übernommen hätten. Nach Massgabe dieser Geschichtskonstruktion nimmt Palladio die Tempelfront und setzt sie als Fassade vor seine Paläste und Villen und hat damit ein Kennzeichen seiner Architektur und einer gehobenen Zivilarchitektur etabliert, das «frontespicio nella facciata dinanti».
Folgt man dieser von Palladio selbst gelegten Spur, so begreift man, dass man ihm in keiner Weise gerecht werden kann, solange man seine Architektur auf ein Formenrepertoire zurückbuchstabiert. Es ist Voraussetzung und Pflicht und dient einem höheren Ziel. Gerade dies ist damals offensichtlich bemerkt worden. Pietro Leone Casella hat Palladio 1606 in seinen Epigrammata, die er den berühmten Künstlern widmet, unter dem Stichwort der «philosophia» abgehandelt, während er anderweitig die engeren Begriffe der Kunst, den «modulus» für Michelangelo und Raphael und die «inventio» für Giorgione und Leonardo, benützt. Im Epigramm selbst wird festgehalten, wie Palladio aus einem Antikenverständnis heraus eine neue Wirklichkeit sichtbar werden lässt: «Per antiquae Urbis monumenta nobilis ad aemulationem oculata provocat ingenia.» Doch Casella enthebt hier die «aemulatio», jenes berühmte Nacheifern, dem konkreten Vorgang künstlerischen Tuns und ordnet es der «Philosophie» zu. Palladio wird als Gegenbild jenes im engen Vergleich stehenden, «historistisch» nachahmenden Zugangs gedacht. Das ist ja auch der tiefere Grund, weshalb seine Architekturvorstellung viel später die Schwelle der Moderne mühelos überschritten hat und stets modern geblieben ist. Der klügste aller Kritiker Palladios, Quatremère de Quincy, verbindet die Formel «c'est du Palladio» eben auch damit, dass sie in seiner Zeit für gelungene architektonische Neuschöpfungen Anwendung fand.
Palladio hat uns aus den römischen Monumenten eine neue sichtbare Welt zur Nachahmung, genauer: zur Nacheiferung vorgegeben. Und der Akzent liegt auf der Neuartigkeit des Resultats, der «usanza nuova», wie es Palladio selbst kennzeichnet. Palladios Architektur lässt sich nicht auf eine Grammatik der antiken Architektur reduzieren. Es zählen weniger die antiken Monumente als das, was in deren Verständnis neu zur Erscheinung drängt. Legrand nennt Palladios Verhältnis zum antiken Vorbild «une application savante», um dann noch viel radikaler festzustellen, dass sich vor Palladio die Architekten ausschliesslich dem «Monument» zugewandt hätten und nun mit ihm eben der «Hausbau» zum grossen Thema geworden sei. Das belegte «um 1800» die besondere Aktualität Palladios.
Später gab es im Zeichen der Moderne Missverständnisse jeder Art bis hin zu «Fassaden-Spielerei» und «Säulenunfug». Aber auch die Reduktion auf Gesetzmässigkeit – an Jacob Burckhardt anschliessend – und der Versuch, die Villen auf ein «fundamental geometrical skeleton» zurückzuführen, beschreiben bei Rudolf Wittkower wie bei Colin Rowe einen Irrweg und werden Palladio nicht gerecht. (Die Smithson haben in den 1950er Jahren ihren neuerlichen Neo-Palladianismus schnell überwunden!) Architektur ist keine Logik, sondern Körpergestaltung. Man sollte sich bei Palladios wichtigstem Mentor, Daniele Barbaro, besser umsehen, der die Kunst der Architektur als Resultat einer fortgesetzten Erfahrung beschreibt und ihr deshalb vor allem die Aufgabe zuschreibt, Lösungen zu finden. Was Palladio mit seinem Hausbau in Palast und Villa in Vorschlag gebracht hat, verkörpert im Sinne Barbaros stets eine «regolata inventione», ein Resultat, das aus einem gesellschaftlich und ökonomisch zugrunde gelegten Ordnungssinn heraus die Wirklichkeit ergreift und sie fasst.
[ Prof. Dr. Werner Oechslin, Institut GTA, ETH Zürich. – Jüngste Publikation: Palladianismus. Andrea Palladio – Kontinuität von Werk und Wirkung. GTA-Verlag, Zürich 2008. 342 S., Fr. 160.–. ]
Goethe in Vicenza
Man möchte unterstellen, dass Goethe umgekehrt aus den Büchern lediglich jene Oberflächen, die gekonnten und zur harmonischen Perfektion geführten Fassadenkompositionen, zur Kenntnis genommen hat. Und nun hat ihn die Wirklichkeit übermannt und hinter den Bildern den Menschen Palladio erkennen lassen. Daraus, aus dieser konkreten Erfahrung, gewinnt Goethe einen «Begriff» von Palladios Architektur. Helmuth Plessners Ästhesiologie des Geistes vorgreifend, steht ihm hier die «Griffigkeit» des Sehens zu Diensten, lässt ihn Glieder und Formen der Architektur verstehen als «reine Erfassung der Dinglichkeit einer Inhaltsfülle». Wie sich das genau verhält, lässt Goethe aus der bereinigten Textfassung der «Italienischen Reise» erkennen: «Wenn man nun diese Werke gegenwärtig sieht, so erkennt man erst den grossen Wert derselben, denn sie sollen ja durch ihre wirkliche Grösse und Körperlichkeit das Auge füllen, und durch die schöne Harmonie ihrer Dimensionen nicht nur in abstrakten Aufrissen, sondern mit dem ganzen perspektivischen Vordringen und Zurückweichen den Geist befriedigen.»
Goethe hat hier sein ganzes architektonisches Wissen bemüht. Die Verbindung der Perspektive mit den Vor- und Rücksprüngen, den «abgestuften Reliefvorstellungen», wie es Peter Behrens später nennt, ist präzis Vitruv nachformuliert. Sein Wissen orientiert sich am Sehvorgang und beschreibt, was man «auf einen Blick» erfährt. «Tous ceux qui ont vû les bâtimens de Palladio, conviennent, qu'ils ravissent au premier coup d'œil.» So schreibt es schon C. E. Briseux 1752 in seinem «Traité du Beau Essentiel». Er bricht mit der akademischen Tradition, die alles und jedes ausschliesslich am einzelnen Glied und Mass erproben und gleich auch als Regel verstehen will. (Insofern war Vignola – bei François Blondel – das massgebliche Vorbild und – bei Le Corbusier – das zu überwindende Hindernis. Palladios Villa Rotonda dagegen führt Le Corbusier 1923 in seinem Aufsatz über «pérennité» vor, an dessen Ende er eine Architektur «au-delà du calcul» beschwört.) Das Bild- und Bücherwissen ist vornehmlich flach. «Wirkliche Grösse und Körperlichkeit» sind die wahren Kennzeichnungen des Gebauten. Palladio zum Anfassen!
Architektur und Gesellschaft
Palladio, über dessen Leben wir so wenig wissen und der von Anfang an – durch die Namensgebung – einer Idealisierung zugeführt wird, scheint sich gerade dagegen, gegen das Verschwinden seiner Architektur in einem diffusen Klassizismus, zu wehren. In Georg Andreas Böcklers erster deutscher Teilübersetzung (1698) überlagern sich die Vorstellungen einer «Pallas Architectonica» und eines «sinnreichen Palladius». Allein, Palladio, der «vortrefflich-Italiänische Baumeister», überstrahlt alles durch seine Person und seinen unangefochtenen Vorbildcharakter. Es geht eben stets darum, den richtigen «Begriff» seiner Architektur zu besitzen, und das ist mehr als ein Regelwerk.
Andrea Calmo, ein Zeitgenosse Palladios, beantwortet die Frage, was der Mensch von der Architektur erwartet: «un sguardo suave, un viso mansueto, e una vita perfetta». Die Architektur ist im Leben verwurzelt, und dort soll sie auch verankert bleiben. In Berlin wird Riedel d. Ä. 1796, als es wieder einmal um Situierung und um einen Neuanfang der Architektur ging, schreiben: «Das Bauen hat stets unmittelbar kultiviert.» Man ist sich dieser Bedeutung und der dazugehörigen Tat bewusst. Und deshalb soll man auch schreiben, um die eigene Einsicht und Erfahrung einer Entwicklung und einem Fortschritt zuzuführen. «Bisognerebbe che ogni eccellente maestro, scrivesse sempre della sua arte: accioche operando & scrivendo un'altro, la s'andassi sempre megliorando.» So führt es Antonfrancesco Doni 1551 in seiner «seconda libraria» aus.
Wer hätte sich mehr darum gekümmert als Palladio selbst, der zu Beginn des «Proemio ai Lettori» seiner vier Bücher ausführt, wie er auf der doppelten Grundlage der antiken römischen Architektur, der Autorität Vitruvs und der antiken Bauten selbst seine eigene Baukunst entwickelt. Palladio legt sein Vorgehen offen, was nun eben in der Abgleichung des theoretischen Wissens mit dem «archäologischen» Befund zugrunde gelegt ist und in der systematischen Abfolge von Aufmessen («misurare minutissimamente»), Verstehen («comprendere») und Aufzeichnen («& in disegno ridurlo») besteht. Aber dies ist nur Mittel zum Zweck. Palladios Botschaft ist keine grammatikalische, sosehr gerade er tief in die Strukturen von Bau und Gliedern und Form eindringt, so wie das der antike Grammatiker Priscian vorgibt, der in den Buchstaben («litera») das Zeichen («nota elementis») und sogar ein Bild («imago») erkennt. Natürlich setzt Palladio «Zeichen» – diesbezüglich der Vitruv-Interpretation Daniele Barbaros folgend, der vom «segno dell'artefice» spricht.
Aber Palladio geht weit darüber hinaus. Seine Botschaft ist eine umfassende, architektonisch-ethische in bester humanistischer Tradition. So wie schon Leonbattista Alberti festhielt, es sei nicht verhandelbar, dass die Bauwerke für die Menschen geschaffen seien, so formuliert Palladio, es erscheine ihm menschenwürdig («cosa degna di huomo»), nicht nur für sich selbst, sondern zum Nutzen auch der andern tätig zu sein. Daraus leitet er seine Aufgabe ab und definiert Zeilen später Architektur als «modo di fabricare con universale utilità». Architektur sei eine Bautätigkeit zum allgemeinen Nutzen. Architektur im Dienste der Gesellschaft.
Weil dies im Vordergrund steht, kommt Palladio auch schnell auf jene Menschen zu sprechen, die ihn in dieser Absicht bestärken und unterstützen, die «Gentiluomini», angefangen bei seinem ersten Mentor und Namensgeber Giangiorgio Trissino. Dem entspricht dann, dass Palladio noch in seinem Proemio betont, dass er von den Menschen und deren Behausungen ausgehen wolle, um erst dann zu den öffentlichen Bauten fortzuschreiten, so wie eben die Gesellschaft sich dem Einzelnen verdankt. Sie ist nicht einfach gottgegeben, sondern ein Resultat ökonomisch-kultureller Entscheidung. Das Glücksstreben ist das einsehbare, vernünftige Ziel der Menschen. In der Nikomachischen Ethik Aristoteles' wird das verhandelt. Und seit den Kommentatoren Leonardo Aretino und Jacques Lefèvre d'Estaples erscheint die Ökonomie der Politik gleichwertig an die Seite gesetzt, gerade weil sie sich beide auf die «civitas» in umfassendster Weise beziehen.
Bei Lefèvre d'Estaples ist die «civitas» in «domus, pagus, civitas» unterschieden im Sinne des Diktums Albertis, wonach das Haus und die Stadt im Grunde genommen ein und dasselbe sind. Die «Ökonomie» leitet Lefèvre d'Estaples vom Haushalt – «apo tou oikou kai nomou» – ab, weil sich hier exemplarisch herausstellt, was sich auch im grösseren Zusammenhang bewähren muss. Wer sich also dem Haus zuwendet, arbeitet an einem gesellschaftlichen Entwurf. Schon Aristoteles hatte festgestellt, dass eine solche, Ordnung setzende und entwickelnde menschliche Gesellschaft natürlich dem «Bienenstaat», der «bloss» gut organisiert ist, überlegen ist. Das ist es, was sich Palladio, von seinen Gentiluomini unterstützt, vorgenommen hat und was ihn dann zur Überzeugung kommen lässt, er habe una «usanza nuova» gefunden, ein «Neues» entwickelt.
Haus und Tempel
Der Architekt ist also gesellschaftsbildend. Palladio hat das längst verinnerlicht. Deshalb kann er umgekehrt davon ausgehen, dass wohl auch in der Antike zuerst Hausbauten erstellt wurden und die Tempel erst danach deren Formen übernommen hätten. Nach Massgabe dieser Geschichtskonstruktion nimmt Palladio die Tempelfront und setzt sie als Fassade vor seine Paläste und Villen und hat damit ein Kennzeichen seiner Architektur und einer gehobenen Zivilarchitektur etabliert, das «frontespicio nella facciata dinanti».
Folgt man dieser von Palladio selbst gelegten Spur, so begreift man, dass man ihm in keiner Weise gerecht werden kann, solange man seine Architektur auf ein Formenrepertoire zurückbuchstabiert. Es ist Voraussetzung und Pflicht und dient einem höheren Ziel. Gerade dies ist damals offensichtlich bemerkt worden. Pietro Leone Casella hat Palladio 1606 in seinen Epigrammata, die er den berühmten Künstlern widmet, unter dem Stichwort der «philosophia» abgehandelt, während er anderweitig die engeren Begriffe der Kunst, den «modulus» für Michelangelo und Raphael und die «inventio» für Giorgione und Leonardo, benützt. Im Epigramm selbst wird festgehalten, wie Palladio aus einem Antikenverständnis heraus eine neue Wirklichkeit sichtbar werden lässt: «Per antiquae Urbis monumenta nobilis ad aemulationem oculata provocat ingenia.» Doch Casella enthebt hier die «aemulatio», jenes berühmte Nacheifern, dem konkreten Vorgang künstlerischen Tuns und ordnet es der «Philosophie» zu. Palladio wird als Gegenbild jenes im engen Vergleich stehenden, «historistisch» nachahmenden Zugangs gedacht. Das ist ja auch der tiefere Grund, weshalb seine Architekturvorstellung viel später die Schwelle der Moderne mühelos überschritten hat und stets modern geblieben ist. Der klügste aller Kritiker Palladios, Quatremère de Quincy, verbindet die Formel «c'est du Palladio» eben auch damit, dass sie in seiner Zeit für gelungene architektonische Neuschöpfungen Anwendung fand.
Palladio hat uns aus den römischen Monumenten eine neue sichtbare Welt zur Nachahmung, genauer: zur Nacheiferung vorgegeben. Und der Akzent liegt auf der Neuartigkeit des Resultats, der «usanza nuova», wie es Palladio selbst kennzeichnet. Palladios Architektur lässt sich nicht auf eine Grammatik der antiken Architektur reduzieren. Es zählen weniger die antiken Monumente als das, was in deren Verständnis neu zur Erscheinung drängt. Legrand nennt Palladios Verhältnis zum antiken Vorbild «une application savante», um dann noch viel radikaler festzustellen, dass sich vor Palladio die Architekten ausschliesslich dem «Monument» zugewandt hätten und nun mit ihm eben der «Hausbau» zum grossen Thema geworden sei. Das belegte «um 1800» die besondere Aktualität Palladios.
Später gab es im Zeichen der Moderne Missverständnisse jeder Art bis hin zu «Fassaden-Spielerei» und «Säulenunfug». Aber auch die Reduktion auf Gesetzmässigkeit – an Jacob Burckhardt anschliessend – und der Versuch, die Villen auf ein «fundamental geometrical skeleton» zurückzuführen, beschreiben bei Rudolf Wittkower wie bei Colin Rowe einen Irrweg und werden Palladio nicht gerecht. (Die Smithson haben in den 1950er Jahren ihren neuerlichen Neo-Palladianismus schnell überwunden!) Architektur ist keine Logik, sondern Körpergestaltung. Man sollte sich bei Palladios wichtigstem Mentor, Daniele Barbaro, besser umsehen, der die Kunst der Architektur als Resultat einer fortgesetzten Erfahrung beschreibt und ihr deshalb vor allem die Aufgabe zuschreibt, Lösungen zu finden. Was Palladio mit seinem Hausbau in Palast und Villa in Vorschlag gebracht hat, verkörpert im Sinne Barbaros stets eine «regolata inventione», ein Resultat, das aus einem gesellschaftlich und ökonomisch zugrunde gelegten Ordnungssinn heraus die Wirklichkeit ergreift und sie fasst.
[ Prof. Dr. Werner Oechslin, Institut GTA, ETH Zürich. – Jüngste Publikation: Palladianismus. Andrea Palladio – Kontinuität von Werk und Wirkung. GTA-Verlag, Zürich 2008. 342 S., Fr. 160.–. ]
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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