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Anreger und Provokateur
Neue Zürcher Zeitung

Le Corbusier ist ein Klassiker der Moderne und dennoch erfrischend aktuell.

8. Januar 2008 - Gerhard Mack
Auf einer frühen Filmaufnahme erklärt der Architekt seine Vision von Paris. Ein Teil des rechten Seine-Ufers ist abgerissen. Da, wo der Bauch der Hauptstadt, das Gewirr der Gassen und Geschäfte, Menschen einsaugte, liegt eine Abfolge von Plätzen, aus denen Hochhaustürme in den Himmel ragen. Das Chaos des städtischen Lebens ist ausradiert, der Fluss des Alltags ausgetrocknet, der Verkehr teilweise in den Untergrund verbannt. Lediglich einige Monumente wie der Eiffelturm oder der Louvre können in der Umgebung bestehen. Die Kamera schaut auf das Modell hinab, der Architekt ist der General, der seine Bauten wie Truppen und Geschütze auf dem Schlachtfeld positioniert. Le Corbusier hat mit dem «Plan Voisin», den er 1925 mit seinem Vetter Pierre Jeanneret entwarf, die urbanistische Diskussion der Moderne endgültig mit dem Label des Kahlschlags und der Verachtung der Tradition versehen.

Diese Haltung ist bestens dazu geeignet, den Jahrhundertarchitekten, der 1887 als Charles Edouard Jeanneret in La Chaux-de-Fonds geboren wurde, in Paris sich den Namen Le Corbusier zulegte und 1965 beim Baden im Mittelmeer starb, auf seinem Thron in den Hallen der Architekturgeschichte verstauben zu lassen. Gleichwohl hat Le Corbusiers Stadtvision vor der heutigen Diskussion eine verblüffende Aktualität. Die architektonische Moderne verstand sich als demokratische Bewegung, die grosse Dimension, das Monument, war ihr fremd. Heute wird es von Herzog & de Meuron, Rem Koolhaas und anderen Stars der Branche wiederentdeckt als ein Element, das in der Baumasse der Riesenstädte Orientierung schafft.

Die Stadt als Körper

Nicht dass irgendjemand heute noch das Zentrum von Paris planieren wollte! Le Corbusier verwies in seinen urbanistischen Modellen jedoch auf diese Dynamik unterschiedlicher Dimensionen, durch die eine Stadt Atem gewinnt. Seine Hochhäuser für Paris, der Wolkenkratzer aus drei Flügeln, den er 1938 für Algier entwarf, sind wie antike oder absolutistische Monumente von der städtischen Umgebung freigestellt.

Der Architekt fragt aber auch, wie mit den riesigen Volumen umzugehen sei. Der Turm von Algier scheint auf seinen Pfosten zu schweben, die Schwere erhält etwas Leichtes als Widerpart. Und sie enthalten Vorschläge, wie die Grosskörper zu organisieren seien. Die vielgeschmähten «Unités d'Habitation», mit denen Le Corbusier nach dem Zweiten Weltkrieg zum Wiederaufbau beitrug, vereinigen - ungeachtet aller sozialen Problematik - neben flexiblen Wohnungen eine Fülle von Funktionen bis hin zu Kindergarten, Labyrinth, Turnhalle und Freilichtbühne auf dem Dach. Das Wohnhaus ist als vertikale Stadt organisiert.

In Le Corbusiers Grossbauten artikuliert sich ein heute sehr zeitgemässes bildhaftes Verständnis von der Stadt. Architektur will, anders als das später zum nackten Funktionalismus reduzierte Diktum Louis Sullivans «Form follows function» es scheinbar nahelegt, Stadt gestalten, ihr einen Körper und ein Gesicht geben. Die Freizeitanlage mit einem Stadion für hunderttausend Zuschauer, die Le Corbusier 1936 am Rand von Paris entwirft, wirkt mit ihrer grossen Halbschale und dem schmalen Sprungturm ihr gegenüber wie eine Satellitenschüssel und entwickelt eine erzählerische Qualität, wie man sie eher vom Brasilianer Oscar Niemeyer erwarten würde. Corbusiers Bild des Schiffs, das mit seinen Relings durch die Fluten der Stadt unterwegs ist, findet sich heute in neuen Bauten von der Ostschweiz bis in die USA. Für die Regierungsgebäude im indischen Chandigarh, der neuen Hauptstadt des Punjab, sieht der Modernist auf dem Areal des Kapitols symbolische Monumente vor wie Märtyrer-Denkmal, Turm der Schatten und Pyramide. Die Kapelle Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp erweitert die Sprache des rechten Winkels um biomorphe Formen, die beispielsweise an Muscheln erinnern, lange bevor Computer eine Blob-Architektur ermöglichen. Die «Archi-Skulptur» der letzten zehn Jahre kann hier direkt anknüpfen und sehen, wie gezielt sich damit Dialoge mit der Landschaft inszenieren lassen.

Multitasking

Ein Gebäude ist eine Landschaft, die Landschaft liefert Modelle für die Gestaltung der Stadt, die private Villa kann mehrere Funktionen nebeneinander übernehmen. Das Haus für den befreundeten Bankier Raoul La Roche, den der Architekt bei seinen Kunstankäufen teilweise beriet und dem das Kunstmuseum Basel viele seiner Kubisten verdankt, ist Wohnhaus und Museum zugleich. Le Corbusier wählte die Farbtönung der Wände und die Placierung der Werke wie ein Kurator, dem sich der Sammler fügt. Die Villa Savoye in Poissy, die zu den Inkunabeln der «weissen Moderne» zählt, ist mit ihren Stützen im Erdgeschoss ein Modell für eine schwebende, das Gewicht auflösende Architektur, und sie deutet mit Einfahrt und Rampe eine Verschmelzung von Haus und Auto, von Ruhe und Beschleunigung an. Und der späte von Heidi Weber in Auftrag gegebene Ausstellungspavillon am Zürcher Seeufer löst das Dach in einer analytischen Geste als eigenes Volumen vom Hauskörper ab, ohne je etwas von dekonstruktiven Überlegungen gehört zu haben.

Diese Mischung von Funktionen und das fliessend wechselnde Selbstverständnis sind heute Architekten vielleicht am leichtesten zugänglich. Le Corbusier verfasste Dutzende von Schriften, gab Zeitschriften heraus, schuf ein malerisches und bildhauerisches Werk, entwarf als Designer ebenso die Möbelklassiker aus Stahlrohr wie Tapeten und entwickelte neue Präsentationssysteme für die Ausstellung von Architektur. Er liess sich von der Antike ebenso anregen wie von den neuesten Möglichkeiten des Stahlbetons. Sein Werk ist historisch, es hat die Vatermorde und die Verwässerungen der Moderne überlebt und erweist sich heute als erfrischend aktuell.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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