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Stadt ohne Seele
Der Standard

Das Erdbeben in Sizilien vor 41 Jahren: Bis heute haben sich im Städtchen Gibellina die Wunden nicht geschlossen. Sie werden das auch nie tun.

11. April 2009 - Ute Woltron
Am Abend des 14. Januar 1968 begann im Westen Siziliens die Erde zu beben. Erst ganz leicht. Ein paar schwache Erdstöße. Die meisten Leute, durchwegs Ziegenbauern und Weinbauern, verließen dennoch ihre Häuser in den jahrhundertealten Städtchen aus Stein und verbrachten die Nacht sicherheitshalber im Freien. Denn 60 Jahre zuvor hatte es drüben im Osten, auf der anderen Seite Siziliens, ein Erdbeben gegeben, das sich mit 75.000 Toten in der kollektiven Erinnerung eingegraben hatte.

Die Menschen saßen auf den Hügeln rund um ihre Städte in den Weinbergen und auf den Feldern und warteten. Eine kalte Nacht. Um drei Uhr morgens wussten sie, dass das erste Beben nur ein Vorbeben gewesen war. Innerhalb von 30 Sekunden zerbröselten vor ihren Augen Städte wie Salaparuta, Montevago, Salemi und Gibellina zu Sand und Geröll.

Diese Siedlungen waren bis zu 900 Jahre alt gewesen. Von Menschen gemachte, mit Menschen gewachsene Geschichte. Als sie zerbarsten, zersprangen nicht nur die Häuser, es zersprangen auch Gemeinschaften - und nichts sollte je wieder so sein, wie es einmal gewesen war.

Joerg Burger zeichnet in seinem Film Gibellina - Il terremoto in zeitversetzten Momentaufnahmen die Geschichte einer dieser kleinen Städte und deren Menschen nach. Denn in Gibellina sollte nach der Katastrophe etwas Besonderes entstehen, dort sollte die Kunst die Leute mit ihrem Schicksal versöhnen, sollte sie mit der zeitgenössischen Reißbrettarchitektur anfreunden, die ihre neue Heimat hätte werden sollen. Doch dieses Experiment, angetrieben von einem charismatischen Bürgermeister, der das Gute wollte, jedoch eine andere, schleichende Katastrophe damit provozierte, ist heute, vier Jahrzehnte nachdem die Erde gebebt hat, missglückt.

Das alte Gibellina - das war ein prachtvolles Bergdorf gewesen, mit mittelalterlich schmalen, gewundenen Gassen, mit einer Kirche, wie man sie sich würdiger und prunkvoller nicht vorstellen kann, mit Häusern, die dicht an dicht aneinandergebaut die Steinmauern miteinander teilten.

In Gibellina stand nach der Nacht des 15. Januar 1968 kein einziges Haus mehr. Burger führt uns mit Archivaufnahmen zurück in die Tage nach der Katastrophe. Schutthalden. Nur ein paar wackelige Mauerreste stehen noch. An manchen hängen noch gerahmte Fotografien von ganz alten Leuten unter dem jetzt freien Himmel. Die Lebenden stehen dazwischen, haben leere Gesichter, sogar die Kinder können nichts tun als starren.

Knapp 40 Jahre später sitzen alte Männer auf weißen Plastiksesseln im neuen Gibellina auf der Straße und erzählen von dieser Nacht und von den Jahren, die darauf folgten. Sie tragen dunkle Anzüge und dezent gemusterte Krawatten, schauen jetzt so aus wie die Ahnen auf den Fotos, damals an den geborstenen Wänden. Das neue Gibellina ist glatt und modern, es wurde 14 Kilometer vom alten Ort entfernt errichtet. Doch bis die Menschen in ihre neuen Wohnungen ziehen konnten, sollten 14 Jahre vergehen.

Zuerst verbrachten sie ein halbes Jahr in Zelten, dann übersiedelten sie in ein Barackenlager aus Blechhütten. Mit dem Bau der neuen Stadt ließen sich die dort in Rom mächtig Zeit. Die meisten Hilfsgüter erreichten diejenigen, für die sie bestimmt waren, nie. Die für den Neubau von Häusern bereitgestellten Gelder versickerten im Land der Mafia und der Geschäftemacher in dubiosen Kanälen.

Doch weil Gibellinas Bürgermeister Ludovico Corrao mit allen Wassern gewaschen und ausnehmend lästig war, entstand das neue Gibellina schließlich doch. Von römischen Architekten und Stadtplanern auf dem Reißbrett entworfen, eine Stadt aus der Retorte wie seinerzeit Brasilia, nur natürlich viel kleiner und nicht in Form eines Flugzeugs angelegt, sondern in Form eines Schmetterlings.

Wer noch nicht - nach Turin, Mailand, Amerika oder Australien - weggegangen oder ausgewandert war, siedelte dort ein. Das waren damals Anfang der 80er-Jahre rund 8000 Menschen. Nur 4500 von ihnen sind bis heute geblieben. Die Jungen, die sind alle weg. Die großzügigen Piazze und Straßenzüge sind leer. Die Häuser und Gassen sind vergammelt, aus allen Ritzen wuchert das Unkraut. Das synthetische Gibellina wurde nie zu einer neuen Heimat, zu fremd sind die gebauten Strukturen, zu kalt, zu unmenschlich. Die 14 Jahre im engen, primitiven Barackenlager, sagt ein Gemüsehändler, seien tatsächlich viel glücklichere gewesen, man könne das glauben oder nicht. Man habe aufeinander Rücksicht genommen, habe eine Gemeinschaft gehabt. Doch hier würde jeder in seinen vier Wänden verschimmeln, sich einbunkern, die Kommunikation der Menschen untereinander sei in dieser Architektur einfach verlorengegangen. „Diese Stadt“, sagt ein anderer ihrer Bewohner, „ist eine Fremde in ihrem eigenen Umfeld. Eine Stadt, wo es enorm viel Platz - und enorme Trostlosigkeit gibt.“

Das war manchen von Anfang an klar gewesen, wie zum Beispiel dem Bürgermeister Corrao, der die Stadt von 1969 bis 1994 regierte. Mit Kunstwerken aller Art wollte er das neue, moderne Gibellina zum einen lebenswert, zum anderen zu einer touristischen Attraktion machen und damit nicht zuletzt eine Einnahmequelle im Armenhaus Italiens erschließen.

Tatsächlich stehen allerorten die Produkte teils durchaus namhafter Künstler herum. Sie morschen vor sich hin wie die Häuser und Gehsteige. Gewaltige Metallgebilde, die verrosten, seltsame brunnenartige Konstruktionen, riesenhafte Sterne, die sich über die Einfahrtstraße spannen, Inschriften, kühle Platzgestaltungen. Doch alles ist menschenleer und tot. Eine Geisterstadt, gespickt mit den Kunstprodukten von Menschen, die keine Ahnung von Ziegen und Weinreben haben, und die möglichst schnell wieder abgehauen sind von hier.

Eine alte, wackelige Filmaufnahme, schon in Farbe gedreht, zeigt einen Hochzeitszug in der alten Stadt, als die noch stand. Der Himmel ist so blitzblau und blankgeputzt wie Braut und Bräutigam darunter. Die Stadt wirkt wie ein Organismus, in dem die Häuser und die Menschen und deren Aktivitäten einander ergänzen und bedingen. Ein Organismus, der sich über Generationen zurechtgeschliffen und immer wieder erneuert hat, kann durch keine neue Struktur ersetzt werden. Das ist, als ob man ein neues Herz einpflanze, das aber immer wieder abgestoßen werde, weil es eben nicht das eigene, echte sei, sagt der Pfarrer der neuen Gemeinde. „Wir haben eine Stadt ohne Seele geschaffen“, sagt der amtierende Bürgermeister Vito Bonanno.

Die Kirche war das erste gewesen, was man sich nach dem Beben sehnlich gewünscht, auf deren Errichtung man ungeduldig gewartet habe. Doch ein paar Wochen vor ihrer Eröffnung stürzte das Dach ein. Das war 1972. Seither steht die Baustelle. „Ich sage es glasklar, dass ich in dieser Kirche niemals eine Messe lesen werde“, konstatiert der Pfarrer heute, er liest die Messe in der Schule und im Gemeindezentrum. Wie früher sitzen Frauen und Männer getrennt.

Doch - Frauen? Welche Rolle spielen die eigentlich? Wir begegnen in diesem Film so gut wie ausschließlich Männern. Männer haben diese Stadt gemacht. Männer haben die Kunstwerke gemacht. Männer haben die Politik gemacht. Männer haben die Plätze auf den Straßen in den weißen Plastiksesseln zu ihren Plätzen gemacht. Die Männer reden, während die Frauen irgendwo sind, jedenfalls verschwunden, hinter dem Herd wahrscheinlich.

Die einzige Frau in diesem Film ist die Pensionistin Antonia Civella, die im verwilderten „Botanischen Garten“ gerade einen großen Korb Maulbeeren pflückt. Damit die Familie etwas zu essen habe. Von den 200 Euro Pension, die ihr Mann bekomme, könnte man gerade die Zigaretten bezahlen. Der Baum, der gibt jedenfalls mehr her als alle Kunstwerke, die hier in der Gegend herumstehen. Was die produzieren, ist Rost, und den kann man nicht essen. Unter manchen von ihnen können wenigstens Ziegen grasen.

Einer der Künstler ist zurückgekommen, um sein zerfallenes Werk wieder zusammenschrauben zu lassen. Was es darstellt, ist nicht klar. Es sieht aus wie ein Hybrid aus dem Wrack eines bruchgelandeten Flugzeugs und dem Kadaver eines gestrandeten Wals.

Wenn die Arbeiter den Presslufthammer anwerfen, hält sich der Künstler die Ohren zu, singt dabei für sich ein Lied. Und er macht die Augen zu.

Das Experiment Gibellina ist gescheitert. Auch noch so viele autistische Kunstwerke haben die Seele dieser Stadt nicht einzufangen vermocht. Doch die Kunst für dieses Scheitern verantwortlich zu machen, wäre allzu billig. Ihr kann man nicht aufbürden, was die Architektur, der misslungene Städtebau den Menschen versagt.

Die Leute hier, sagt ein Mann im Laufe des Filmes, die seien eben noch nicht so weit gewesen, für die Kunst und die Häuser. Gut möglich, dass vielmehr die Architekten und Städtebauer noch nicht so weit waren, als sie für Wein- und Ziegenbauern Klein-Brasilia auf das Papier warfen.

Das wahrscheinlich einzige „funktionierende“ Kunstwerk befindet sich übrigens dort, wo früher die alte Stadt stand. Der Italiener Alberto Burri errichtete ab 1981 über den Ruinen ein gewaltiges Monument aus Beton. Eine großartige Arbeit. Die Häuserblöcke wurden zu etwa hüfthohen Monolithen ausgegossen, dazwischen entstanden die ehemaligen Gassen.

Durch die gehen mitunter die Alten. Dort, sagen sie, ist die Stelle, an der mein Haus gestanden ist. Dort haben wir gewohnt. Dort waren wir zu Hause.

[ „Gibellina - Il Terremoto“, ab 17. April im Filmhaus Kino, Spittelberggasse 3, 1070 Wien, www.stadtkinowien.at; www.sixpackfilm.com ]

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