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Gib mir die Kugel
Der französische Architekt Antti Lovag hat in den 1970er-Jahren Kugelhäuser gebaut, die das Wohnen von morgen revolutionieren sollten. Andrea Eschbach hat den in Vergessenheit geratenen Visionär in Südfrankreich besucht
24. Januar 2012 - Andrea Eschbach
Auf einer Betonkugel liegt ein Teppich aus Moos, Metallstrukturen geben Efeu Halt. Still ist es in diesem ganz speziellen Märchenwald hoch über Tourettes-sur-Loup in den französischen Alpes-Maritimes. In den bewaldeten Hängen dämmern Modelle und Prototypen, Gelungenes und Verworfenes des hierzulande wenig bekannten Baumeisters Antti Lovag vor sich hin.
Vier Jahrzehnte ist her, dass auf diesem versteckten Grundstück in Roureou eine Utopie Gestalt annahm. Wie eine gestrandete Ufo-Flotte liegt hier ein gigantisches Anwesen aus Wohnkugeln, erdacht als Domizil für den Pariser Börsenmakler Antoine Gaudet. Lovag ist ein Mann, um den sich bis zum heutigen Tag zahlreiche Legenden ranken. Geboren als Antal Koski 1920 in Ungarn, wuchs er in der Türkei, Ungarn und Skandinavien auf und studierte in Stockholm zunächst Schiffsbau. Sein Biograf und Archivar Pierre Roche gibt an, Lovag habe im Krieg auf Seiten der Finnen, dann der Russen gekämpft, sei bei der Flugstaffel Fallschirmspringer gewesen, kurz vor Kriegsende mit einem Jagdflieger nach Schweden geflohen. 1945 nahm er eine neue Identität als Antal Lovag an, sein Geburtsjahr datierte er kurzerhand vor auf 1925. Ein Jahr später segelte er von Stockholm nach Frankreich, wo er in Paris die École des Beaux-Arts besuchte und gelegentlich im Atelier von Jean Prouvé mitarbeitete. Dort lernt er, dass man, „um ein Material beherrschen zu können, es zunächst einmal verstehen muss“.
Kampf dem rechten Winkel
1963 zog es Lovag an die Côte d'Azur. Gemeinsam mit Architekten wie Pascal Häusermann experimentierte er mit Formen, die von der Natur inspiriert waren. Bald nannte sich Lovag konsequent Habitologe. Was dies genau heißt, darüber lässt sich der Non-Konformist nur sehr vage aus. So entspreche die von ihm entwickelte Art des Bauens den Bedürfnissen des Menschen. Er entwerfe „Habitats“, Wohnräume, für den Menschen. Nichts weniger als das Modell für das Wohnen von morgen hat Lovag dabei im Sinn. Für ihn bedeutet dies in erster Linie eine Rebellion gegen die gerade Linie und den rechten Winkel: „Der rechte Winkel ist ein Angriff gegen die Natur“, befindet Lovag im Gespräch. Eine Begegnung mit dem Industriellen Pierre Bernard aus Lyon wurde zu einem Wendepunkt in Lovags Karriere. In Port-La-Galère entstand zwischen 1971 und 1980 das „Maison Bernard“: 26 Wohnkugeln wuchsen wie Pilze aus dem Boden. Der Mäzen finanzierte daraufhin dem bewunderten Freund ein weiteres Kugelhaus in Théoule-sur-Mer.
Die Bauarbeiten begannen 1979, 14 Jahre später erst ist die ondulierende Wohnlandschaft fertiggestellt. Eine Herausforderung nicht nur für Lovag, sondern auch für den Bauherrn. „Ich habe keine Kunden“, sagt der Querkopf, „sondern Komplizen. Denn ich habe zwei Bedingungen: Ich mache weder einen Kostenvoranschlag noch einen Plan.“ Auf 1200 Quadratmetern und vier Ebenen verteilt gruppieren sich 25 Kugeln. Das Gebäude ist ein Labyrinth, endlose Gänge mäandern durch Salons, Suiten, Büroräume, Bibliothek, Konferenzsaal und Kino, im Garten glitzern zwei Swimmingpools. Weiträumige Hallen wechseln sich mit grottenhaften Räumen ab, helle Farben kontrastieren mit dunklen. Bullaugen, Kuppeln und ellipsenförmige Fenster aus Plexiglas zaubern Lichtspiele im Innern. Alles ist rund oder geschwungen. Lovag zeigt sich als virtuoser Spieler: So finden sich auf dem Grund des Swimmingpools drei Fenster, die die darunter liegenden Zimmer in eine Unterwasserwelt verwandeln. Und die Küche lässt sich über Schienen komplett auf die Terrasse drehen.
Für den französischen Bildhauer César waren Lovags Bauten „riesige bewohnbare Skulpturen“. Ihrer Faszination konnte sich auch Pierre Cardin nicht entziehen. Der französische Modemacher erwarb 1989 das avantgardistische Haus für 50 Millionen Francs. Im Palais Bulle fühle er sich wie im Weltraum, gab Cardin einmal zu Protokoll. David Bowies Weltraum-Song „Space Oddity“ passt perfekt zu einem anderen Bau Lovags: Wie bei einer Mondlandung liegt das Interferometer-Laboratorium in der kargen Landschaft der Hochebene von Calern. Das 1979 entstandene Sphärenhaus, Teil der Sternwarte der Côte d'Azur, scheint aus einer fremden Welt zu stammen. Ein Raumschiff der Forschung.
Alles in Bewegung
Lovags Meisterwerk ist jedoch das Domizil für Antoine Gaudet. Zahllose gigantische Seifenblasen bieten 1600 Quadratmeter Wohnfläche, verteilt über das terrassierte Waldgelände. Im Laufe der sich hinziehenden Bauarbeiten verlor Gaudet jedoch das Interesse. Der Bau, halb Vision, halb Ruine, verfiel. Lovag, der seit 1970 gleich daneben in einer kleinen grünen Wohnkugel wohnt, musste zusehen, wie sein Lebenswerk immer mehr verkam.
2006 jedoch verliebte sich ein Millionär, der namentlich nicht genannt werden will, in die ewige Baustelle. Der neue Investor schoss eine zweistellige Millionensumme in die Fertigstellung seines „Traumhauses“ ein. Vier Jahre später war die Utopie Wirklichkeit geworden. Im Zentrum des wohl schlüssigsten Werk Lovags steht eine große Halle, die Innen und Außen wirkungsvoll verschränkt. Ein kleiner Bach fließt durch den Bau, Palmen und Kakteen gedeihen in diesem Patio, riesige Felsen säumen den Pfad. An die zentrale Halle schmiegen sich Kugelräume. Ein lichtdurchflutetes Raumensemble, in dem alles den Lovag'schen Gesetzen gehorcht: Keine Türen, außer der Haustür und WC-Tür. Das Mobiliar ist beweglich, Wandschränke lassen sich verschieben, das runde Bett dreht sich um die eigene Achse. Die Natur ist allgegenwärtig. Sogar vorgefundene Kalkfelsen werden integriert.
Lovag, dieser „Prophet des Runden“, wie er einmal genannt wurde, lebt heute vereinsamt. Den Funken, den er mit seinen Wohnutopien entzündet hat, hat er jedoch weitergegeben. Wer nach seinen Gesetzen bauen wollte, den nahm der Exzentriker in Workshops auf. Lovag blickt immer noch nach vorn: „Die Vergangenheit interessiert mich nicht.“ Er ist längst wieder auf der Suche nach einem Abenteurer, einem Komplizen im Geiste.
Buchtipp: Pierre Roche: „Antti Lovag. Habitologue“, France Europe Editions, Nizza 2010
Vier Jahrzehnte ist her, dass auf diesem versteckten Grundstück in Roureou eine Utopie Gestalt annahm. Wie eine gestrandete Ufo-Flotte liegt hier ein gigantisches Anwesen aus Wohnkugeln, erdacht als Domizil für den Pariser Börsenmakler Antoine Gaudet. Lovag ist ein Mann, um den sich bis zum heutigen Tag zahlreiche Legenden ranken. Geboren als Antal Koski 1920 in Ungarn, wuchs er in der Türkei, Ungarn und Skandinavien auf und studierte in Stockholm zunächst Schiffsbau. Sein Biograf und Archivar Pierre Roche gibt an, Lovag habe im Krieg auf Seiten der Finnen, dann der Russen gekämpft, sei bei der Flugstaffel Fallschirmspringer gewesen, kurz vor Kriegsende mit einem Jagdflieger nach Schweden geflohen. 1945 nahm er eine neue Identität als Antal Lovag an, sein Geburtsjahr datierte er kurzerhand vor auf 1925. Ein Jahr später segelte er von Stockholm nach Frankreich, wo er in Paris die École des Beaux-Arts besuchte und gelegentlich im Atelier von Jean Prouvé mitarbeitete. Dort lernt er, dass man, „um ein Material beherrschen zu können, es zunächst einmal verstehen muss“.
Kampf dem rechten Winkel
1963 zog es Lovag an die Côte d'Azur. Gemeinsam mit Architekten wie Pascal Häusermann experimentierte er mit Formen, die von der Natur inspiriert waren. Bald nannte sich Lovag konsequent Habitologe. Was dies genau heißt, darüber lässt sich der Non-Konformist nur sehr vage aus. So entspreche die von ihm entwickelte Art des Bauens den Bedürfnissen des Menschen. Er entwerfe „Habitats“, Wohnräume, für den Menschen. Nichts weniger als das Modell für das Wohnen von morgen hat Lovag dabei im Sinn. Für ihn bedeutet dies in erster Linie eine Rebellion gegen die gerade Linie und den rechten Winkel: „Der rechte Winkel ist ein Angriff gegen die Natur“, befindet Lovag im Gespräch. Eine Begegnung mit dem Industriellen Pierre Bernard aus Lyon wurde zu einem Wendepunkt in Lovags Karriere. In Port-La-Galère entstand zwischen 1971 und 1980 das „Maison Bernard“: 26 Wohnkugeln wuchsen wie Pilze aus dem Boden. Der Mäzen finanzierte daraufhin dem bewunderten Freund ein weiteres Kugelhaus in Théoule-sur-Mer.
Die Bauarbeiten begannen 1979, 14 Jahre später erst ist die ondulierende Wohnlandschaft fertiggestellt. Eine Herausforderung nicht nur für Lovag, sondern auch für den Bauherrn. „Ich habe keine Kunden“, sagt der Querkopf, „sondern Komplizen. Denn ich habe zwei Bedingungen: Ich mache weder einen Kostenvoranschlag noch einen Plan.“ Auf 1200 Quadratmetern und vier Ebenen verteilt gruppieren sich 25 Kugeln. Das Gebäude ist ein Labyrinth, endlose Gänge mäandern durch Salons, Suiten, Büroräume, Bibliothek, Konferenzsaal und Kino, im Garten glitzern zwei Swimmingpools. Weiträumige Hallen wechseln sich mit grottenhaften Räumen ab, helle Farben kontrastieren mit dunklen. Bullaugen, Kuppeln und ellipsenförmige Fenster aus Plexiglas zaubern Lichtspiele im Innern. Alles ist rund oder geschwungen. Lovag zeigt sich als virtuoser Spieler: So finden sich auf dem Grund des Swimmingpools drei Fenster, die die darunter liegenden Zimmer in eine Unterwasserwelt verwandeln. Und die Küche lässt sich über Schienen komplett auf die Terrasse drehen.
Für den französischen Bildhauer César waren Lovags Bauten „riesige bewohnbare Skulpturen“. Ihrer Faszination konnte sich auch Pierre Cardin nicht entziehen. Der französische Modemacher erwarb 1989 das avantgardistische Haus für 50 Millionen Francs. Im Palais Bulle fühle er sich wie im Weltraum, gab Cardin einmal zu Protokoll. David Bowies Weltraum-Song „Space Oddity“ passt perfekt zu einem anderen Bau Lovags: Wie bei einer Mondlandung liegt das Interferometer-Laboratorium in der kargen Landschaft der Hochebene von Calern. Das 1979 entstandene Sphärenhaus, Teil der Sternwarte der Côte d'Azur, scheint aus einer fremden Welt zu stammen. Ein Raumschiff der Forschung.
Alles in Bewegung
Lovags Meisterwerk ist jedoch das Domizil für Antoine Gaudet. Zahllose gigantische Seifenblasen bieten 1600 Quadratmeter Wohnfläche, verteilt über das terrassierte Waldgelände. Im Laufe der sich hinziehenden Bauarbeiten verlor Gaudet jedoch das Interesse. Der Bau, halb Vision, halb Ruine, verfiel. Lovag, der seit 1970 gleich daneben in einer kleinen grünen Wohnkugel wohnt, musste zusehen, wie sein Lebenswerk immer mehr verkam.
2006 jedoch verliebte sich ein Millionär, der namentlich nicht genannt werden will, in die ewige Baustelle. Der neue Investor schoss eine zweistellige Millionensumme in die Fertigstellung seines „Traumhauses“ ein. Vier Jahre später war die Utopie Wirklichkeit geworden. Im Zentrum des wohl schlüssigsten Werk Lovags steht eine große Halle, die Innen und Außen wirkungsvoll verschränkt. Ein kleiner Bach fließt durch den Bau, Palmen und Kakteen gedeihen in diesem Patio, riesige Felsen säumen den Pfad. An die zentrale Halle schmiegen sich Kugelräume. Ein lichtdurchflutetes Raumensemble, in dem alles den Lovag'schen Gesetzen gehorcht: Keine Türen, außer der Haustür und WC-Tür. Das Mobiliar ist beweglich, Wandschränke lassen sich verschieben, das runde Bett dreht sich um die eigene Achse. Die Natur ist allgegenwärtig. Sogar vorgefundene Kalkfelsen werden integriert.
Lovag, dieser „Prophet des Runden“, wie er einmal genannt wurde, lebt heute vereinsamt. Den Funken, den er mit seinen Wohnutopien entzündet hat, hat er jedoch weitergegeben. Wer nach seinen Gesetzen bauen wollte, den nahm der Exzentriker in Workshops auf. Lovag blickt immer noch nach vorn: „Die Vergangenheit interessiert mich nicht.“ Er ist längst wieder auf der Suche nach einem Abenteurer, einem Komplizen im Geiste.
Buchtipp: Pierre Roche: „Antti Lovag. Habitologue“, France Europe Editions, Nizza 2010
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