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Wohnen im neuen Stil
Henry van de Velde in Weimar und Chemnitz
1902 wurde der belgische Architekt Henry van de Velde zum künstlerischen Berater für Industrie und Kunsthandwerk im Grossherzogtum Weimar ernannt. Zugleich erhielt er seinen ersten Bauauftrag in Deutschland: Für den Textilfabrikanten Herbert Esche entwarf er eine Villa in Chemnitz. Diese sowie van de Veldes eigenes Wohnhaus in Weimar sind jüngst restauriert worden und nun öffentlich zugänglich.
8. August 2003 - Ursula Seibold-Bultmann
Dass der Schriftsteller Max von Münchhausen das Mobiliar für seine Weimarer Wohnung 1903 bei dem gefeierten Jugendstilgestalter Henry van de Velde bestellte, hatte nicht nur künstlerische Gründe. Mittels des Auftrags versuchte er offenbar auch Friedrich Nietzsches Schwester Elisabeth günstig zu stimmen - wollte er sie doch dazu bringen, ihm die Herausgabe einer Schriftenreihe des Nietzsche-Archivs zu erlauben, das sie in der Goethestadt angesiedelt hatte. Trotz oder wegen Elisabeths Nähe zu van de Velde, der nicht zuletzt dank ihrer Vermittlung nach Weimar gekommen war und gleich darauf das Nietzsche-Archiv innenarchitektonisch gestaltet hatte, brachte der Schachzug Münchhausen nichts ausser einer schönen Ausstattung für sieben Zimmer. Fast komplett erhalten, konnte sie seit 1999 durch die Stiftung Weimarer Klassik angekauft werden. Knapp die Hälfte der Stücke sind seit Anfang Juni dieses Jahres in der Repräsentationsetage des Hauses Hohe Pappeln zu sehen, das van de Velde 1907/08 für sich selber in Weimar baute und dessen ursprüngliche Möblierung verschollen ist - bis auf das Speisezimmer-Ensemble, das sich heute im Museum Bellerive in Zürich befindet.
Die etwas schwerfällige äussere Gestalt des Hauses, die an ein umgedrehtes Schiff erinnert, lässt sich am besten mit Blick auf die funktionale Aufteilung des Innern verstehen. Ein japonisierend gestalteter Windfang und ein dunkel gehaltenes Vestibül geben im Parterre den Auftakt zu einer vielgestaltigen Raumfolge aus Wohndiele mit elegantem weissem Treppenhaus, Salon, Speise- und Arbeitszimmer. Seit Anfang der neunziger Jahre wurde der Bau, der damals der Evangelischen Landeskirche von Thüringen gehörte und nach einem Besitzerwechsel nun durch die Stiftung Weimarer Klassik angemietet ist, vollständig renoviert - nach Farbbefunden, aber teilweise im Widerspruch zu historischen Fotografien und den Raumbeschreibungen in van de Veldes Memoiren. Den Münchhausen'schen Möbeln sieht man an, dass sie für eine andere Umgebung entworfen waren; doch in Ermangelung der Gemälde von Signac, Seurat, van Gogh und Renoir, die einst im Hause Hohe Pappeln hingen, lässt sich dessen frühere Ausstrahlung heute ohnehin nur andeuten.
Reist man von Weimar aus auf der «Europäischen Van-de-Velde-Route» nach Osten - die Website www.van-de-velde-route.de weist den Weg -, so wird man zunächst in Jena das Ernst- Abbe-Denkmal (1909-11) betrachten und dann in Gera einen Blick auf das Haus Schulenburg (1913-14) werfen. Hauptziel aber wird die prächtige Villa Esche in Chemnitz sein, die 1998-2001 von einem Tochterunternehmen der Stadt mit grösstem wissenschaftlichem und finanziellem Einsatz renoviert wurde. Heute dient das ab 1902 entstandene Gesamtkunstwerk, für das van de Velde ausser der architektonischen Hülle auch die vollständige Ausstattung schuf, als Museum sowie als Tagungs- und Veranstaltungszentrum. Das museale Konzept setzt dabei komplementäre Akzente: Musiksalon und Speisezimmer im Erdgeschoss wurden mit den überwiegend erhaltenen Originalmöbeln sowie mittels nachgewebter Stoffe, Lampenkopien und rekonstruierter Stuckaturen so weit wie möglich dem Urzustand angenähert, während in drei Räumen der ersten Etage die wichtigsten Werke van de Veldes aus dem Bestand der Kunstsammlungen Chemnitz als Einzelstücke präsentiert werden.
Ein ausgezeichnetes, unlängst im Birkhäuser- Verlag erschienenes Buch gibt genaue Auskunft über die Restaurierung und heutige Ausstattung sowie über die bewegte Geschichte der Villa Esche. Nach 1945 Sitz der sowjetischen Militärkommandantur und später zeitweise vom DDR- Ministerium für Staatssicherheit genutzt, hatte der Bau starke Schäden erlitten, die durch mehrjährigen Leerstand nach 1989 noch verschlimmert wurden. Die inzwischen erfolgte weitgehende Neuanfertigung der wandfesten Ausstattung und der Textilien findet ihre Rechtfertigung nicht nur in den umfassenden historischen Fotodokumentationen des Baus und der guten Befundungssituation, sondern auch darin, dass so zumindest ansatzweise das belebende Zusammenwirken von Räumen, Volumina, Farben und fein geschwungenen Linien begreifbar wird, um das es dem Architekten stets ging.
Neue Bewegung ist inzwischen auch in die Van-de-Velde-Grundlagenforschung gekommen. Seit 2001 entsteht unter dem Dach der Stiftung Weimarer Klassik ein vollständiges Werkverzeichnis seiner innenarchitektonischen und kunstgewerblichen Arbeiten. Probleme bereiten - wie bei der Erstellung von jedem Œuvrekatalog - Dokumente und Objekte, die den Forschern noch nicht bekannt sind. Im Fall von van de Velde handelt es sich vor allem um Möbel, Textilien, Tapeten, Keramik- und Metallarbeiten, Lampen, Schmuck sowie Werbegrafik, die in nächster Zeit, so hofft man, ans Tageslicht kommen werden.
[Das Haus Hohe Pappeln in Weimar ist dienstags bis sonntags (13-18 Uhr) geöffnet, die Villa Esche in Chemnitz jeweils am Mittwoch sowie von Freitag bis Sonntag (10-18 Uhr). - Kontaktperson betreffend das Werkverzeichnis van de Velde: Brigitte Reuter, Tel. 0049 3643 545 954. - Publikation zur Villa Esche: Henry van de Veldes Villa Esche in Chemnitz. Hrsg. Katharina Metz, Tilo Richter und Priska Schmückle von Minckwitz. Birkhäuser-Verlag, Basel 2003. 152 S., Fr. 51.-.]
Die etwas schwerfällige äussere Gestalt des Hauses, die an ein umgedrehtes Schiff erinnert, lässt sich am besten mit Blick auf die funktionale Aufteilung des Innern verstehen. Ein japonisierend gestalteter Windfang und ein dunkel gehaltenes Vestibül geben im Parterre den Auftakt zu einer vielgestaltigen Raumfolge aus Wohndiele mit elegantem weissem Treppenhaus, Salon, Speise- und Arbeitszimmer. Seit Anfang der neunziger Jahre wurde der Bau, der damals der Evangelischen Landeskirche von Thüringen gehörte und nach einem Besitzerwechsel nun durch die Stiftung Weimarer Klassik angemietet ist, vollständig renoviert - nach Farbbefunden, aber teilweise im Widerspruch zu historischen Fotografien und den Raumbeschreibungen in van de Veldes Memoiren. Den Münchhausen'schen Möbeln sieht man an, dass sie für eine andere Umgebung entworfen waren; doch in Ermangelung der Gemälde von Signac, Seurat, van Gogh und Renoir, die einst im Hause Hohe Pappeln hingen, lässt sich dessen frühere Ausstrahlung heute ohnehin nur andeuten.
Reist man von Weimar aus auf der «Europäischen Van-de-Velde-Route» nach Osten - die Website www.van-de-velde-route.de weist den Weg -, so wird man zunächst in Jena das Ernst- Abbe-Denkmal (1909-11) betrachten und dann in Gera einen Blick auf das Haus Schulenburg (1913-14) werfen. Hauptziel aber wird die prächtige Villa Esche in Chemnitz sein, die 1998-2001 von einem Tochterunternehmen der Stadt mit grösstem wissenschaftlichem und finanziellem Einsatz renoviert wurde. Heute dient das ab 1902 entstandene Gesamtkunstwerk, für das van de Velde ausser der architektonischen Hülle auch die vollständige Ausstattung schuf, als Museum sowie als Tagungs- und Veranstaltungszentrum. Das museale Konzept setzt dabei komplementäre Akzente: Musiksalon und Speisezimmer im Erdgeschoss wurden mit den überwiegend erhaltenen Originalmöbeln sowie mittels nachgewebter Stoffe, Lampenkopien und rekonstruierter Stuckaturen so weit wie möglich dem Urzustand angenähert, während in drei Räumen der ersten Etage die wichtigsten Werke van de Veldes aus dem Bestand der Kunstsammlungen Chemnitz als Einzelstücke präsentiert werden.
Ein ausgezeichnetes, unlängst im Birkhäuser- Verlag erschienenes Buch gibt genaue Auskunft über die Restaurierung und heutige Ausstattung sowie über die bewegte Geschichte der Villa Esche. Nach 1945 Sitz der sowjetischen Militärkommandantur und später zeitweise vom DDR- Ministerium für Staatssicherheit genutzt, hatte der Bau starke Schäden erlitten, die durch mehrjährigen Leerstand nach 1989 noch verschlimmert wurden. Die inzwischen erfolgte weitgehende Neuanfertigung der wandfesten Ausstattung und der Textilien findet ihre Rechtfertigung nicht nur in den umfassenden historischen Fotodokumentationen des Baus und der guten Befundungssituation, sondern auch darin, dass so zumindest ansatzweise das belebende Zusammenwirken von Räumen, Volumina, Farben und fein geschwungenen Linien begreifbar wird, um das es dem Architekten stets ging.
Neue Bewegung ist inzwischen auch in die Van-de-Velde-Grundlagenforschung gekommen. Seit 2001 entsteht unter dem Dach der Stiftung Weimarer Klassik ein vollständiges Werkverzeichnis seiner innenarchitektonischen und kunstgewerblichen Arbeiten. Probleme bereiten - wie bei der Erstellung von jedem Œuvrekatalog - Dokumente und Objekte, die den Forschern noch nicht bekannt sind. Im Fall von van de Velde handelt es sich vor allem um Möbel, Textilien, Tapeten, Keramik- und Metallarbeiten, Lampen, Schmuck sowie Werbegrafik, die in nächster Zeit, so hofft man, ans Tageslicht kommen werden.
[Das Haus Hohe Pappeln in Weimar ist dienstags bis sonntags (13-18 Uhr) geöffnet, die Villa Esche in Chemnitz jeweils am Mittwoch sowie von Freitag bis Sonntag (10-18 Uhr). - Kontaktperson betreffend das Werkverzeichnis van de Velde: Brigitte Reuter, Tel. 0049 3643 545 954. - Publikation zur Villa Esche: Henry van de Veldes Villa Esche in Chemnitz. Hrsg. Katharina Metz, Tilo Richter und Priska Schmückle von Minckwitz. Birkhäuser-Verlag, Basel 2003. 152 S., Fr. 51.-.]
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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