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Text und Haus
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Eine Kathedrale, die wichtiger ist als das Zentrum von Paris, eine Bibliothek, die dem weit aufgerissenen Maul eines Monsters ähnelt: Derlei Assoziationen entstammen der interdisziplinären Beziehung namens „Literarchitektur“. Über Erzählungen und Gebäude.

1. September 2012 - Myrta Köhler
Das Buch wird das Gebäude töten.“ In seinem Roman „Notre-Dame von Paris“ (1831) argumentiert Victor Hugo, dass die Erfindung des Buchdrucks das Schicksal der Baukunst besiegelte. Liest man das Werk als Plädoyer für den Erhalt gotischer Architektur, überrascht es nicht, dass nur wenig später eine regelrechte Restaurierungsbewegung einsetzte – ihr wichtigster Vertreter, Eugène Viollet-le-Duc, übernahm unter anderem die Arbeiten an der Notre-Dame von Paris. Der gleichnamige Roman ist nur ein Beispiel für die fruchtbare Wechselbeziehung zwischen Literatur und Architektur.

In Hugos Text ist die Kathedrale weit mehr als das Zentrum von Paris: Sie bildet den Dreh- und Angelpunkt der gesamten Erzählung. Das Schicksal der Protagonisten ist untrennbar mit dem Gebäude verknüpft – allen voran das des Quasimodo, der als Kind in der Kirche ausgesetzt wird und hier unter der Obhut des Erzdechanten aufwächst.

In der englischsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts finden sich ebenfalls zahlreiche detaillierte Schilderungen der Beziehung zwischen Gebäuden und ihren Bewohnern. Das gilt besonders für Werke der damals populären Schauerliteratur wie Edgar Allan Poes „The Fall of the House of Usher“ oder Nathaniel Hawthornes „The House of the Seven Gables“ (das „Gothic revival“ hatte eine entsprechende Literatur hervorgebracht), aber auch für Erzählungen von Charles Dickens oder den Roman „Portrait of a Lady“ (1881) von Henry James. Die Leser erleben das Gebäude „in- und auswendig“: Sei es unheimlich, gemütlich, oder einschüchternd – es besteht immer eine persönliche Beziehung.

Dieses persönliche Attribut spricht James den Wolkenkratzern ab, die um die Jahrhundertwende die amerikanischen Metropolen erobern. Im Jahr 1904, nach 20-jährigem Europa-Aufenthalt nach New York zurückgekehrt, muss er den Schock der Vertikalität erst verdauen. Sein Geburtshaus am Washington Square ist einem Wolkenkratzer gewichen, der neugotische Turm von Trinity Church verschwindet zwischen weit höheren Türmen – in seinem Essay „The American Scene“ bezeichnet er sie als „monsters of the mere market“. Wolkenkratzer sind die neuen Kathedralen, und die neue Religion ist die des Geldes. Die Gebäude sind unnahbar, dem Schriftsteller bleibt nur übrig, sie von außen zu bestaunen.

Autoren wie John Dos Passos, selbst ausgebildeter und, nach eigenen Aussagen, „frustrierter“ Architekt, fanden eine neue Sprache für die Abbildung dieser veränderten Stadt: „Manhattan Transfer“ (1925) und die „U.S.A. Trilogy“ schildern Manhattan alsCollage aus flüchtigen Eindrücken. Charaktere tauchen auf und verschwinden, wie Passanten – eine durchgehende Handlung oder Protagonisten im herkömmlichen Sinne gibt es nicht. Die bruchstückhafte Erzählweise erinnert an expressionistische Bilder jener Zeit: Zeitungsausschnitte wechseln mit kurzen Szenen und Werbetexten, Headlines und Reklametafeln strukturieren die Stadt, Manhattan zerfällt in eine „city of scrambled alphabets“.

James beschrieb Trinity Church als den tragischen Fall einer modernen Welt, in der die kapitalistische Zerstörung über alle Aspekte sozialen Lebens hinauswächst. Im Bestreben, die soziale Komponente in seine Bauten zu integrieren, orientierte sich der finnische Architekt Alvar Aalto (1898–1976) an Europa. Inspiration fand er bei seinen großen Vorbildern, den Schriftstellern August Strindberg und Anatole France: Dessen Schilderung der europäischen Stadt diente Aalto als Modell für erfolgreiches gemeinschaftliches Zusammenleben. Zahlreiche kulturelle Gebäude wie die Finlandia-Halle in Helsinki oder das Opernhaus in Essen gehen auf seine Entwürfe zurück.

Auch der amerikanische Architekt Louis I. Kahn (1901–1974) hatte ein Faible für Erzählungen. Seine Bibliothek umfasst neben den Werken Dickens zahlreiche Märchenbände: Nach eigenen Aussagen hatte er immer den Wunsch gehabt, Märchen zu illustrieren, und Architektur schien ihm das geeignete Mittel, die Welt zu verzaubern. Laut Darren R. Deane (Manchester School of Architecture) zitieren Kahns Gebäude das Formenrepertoire verwunschener Orte, die er besucht hatte: So assoziiert er die kreisförmigen Strukturen der Exeter Bibliothek (1967–1972) mit dem aufgerissenen Mund des Monsters im Park der Ungeheuer bei Bomarzo in Italien. Posthum entsteht derzeitnach Kahns Entwürfen auf Roosevelt Island (New York) der Four Freedoms Park – er soll im heurigen Herbst eröffnet werden.

Sowohl Gebäude als auch Geschichten können uns verzaubern: Beide bieten Raum, sich darin zu bewegen, sich darin zu verlieren. Die Beziehung zwischen dem Phänomen Raum und der menschlichen Fantasie macht Gaston Bachelard zum Thema seiner Poetik des Raumes (1957), und der amerikanische Architekt John Hejduk (1929–2000) erwähnt verschiedentlich die zweifache Bedeutung des Begriffes „fabricate“, der die Fertigung von Bauteilen ebenso bezeichnet wie das Fabulieren.

Diese Doppelbedeutung diente als Grundlage für ein unlängst realisiertes Projekt im Story Museum in Oxford (Großbritannien). Das Museum, das sich der Vermittlung von Wissen mithilfe von Geschichten widmet, lud anlässlich der Renovierung des Gebäudes eine Gruppe von Architekturstudenten ein, die Räumlichkeiten neu zu interpretieren. Die Mitwirkenden verfassten zunächst eine Serie von Kurzgeschichten, die sie anschließend in Objekte wie Einrichtungsgegenstände und andere Objekte „übersetzten“. Im Rahmen eines zweiten Projektes entstanden Modelle für einen „Storytelling Tower“ als Beispiele für erzählten Raum.

Ein anderes Museum vollendet in größerem Maßstab die Transformation von der literarischen Vorlage in die Realität: In seinem Roman „Museum der Unschuld“ aus dem Jahr 2008 erzählt Orhan Pamuk die Geschichte einer tragischen Liebe, die damit endet, dass der Protagonist Kemal seiner verstorbenen Geliebten Füsun ein Museum errichtet. Pamuk, „der auf der Suche nach der melancholischen Seele seiner Heimatstadt neue Sinnbilder für Streit und Verflechtung der Kulturen gefunden hat“ (Schwedische Akademie), hatte im Jahr 2006 den Nobelpreis für Literatur erhalten. Auch die Geschichte von Kemal und Füsun spielt in Istanbul; die labyrinthischen Sätze und die architektonische Struktur des Textes verweisen auf Pamuks eigene Biografie: Seine Ausbildung zum Architekten hatte er abgebrochen, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Beide Interessen verschmelzen, aus Fiktion wird Wirklichkeit: Unlängst eröffnete Pamuk sein „Museum der Unschuld“ in Istanbul. Es ist weltweit das erste Museum, das einen Roman visualisiert.

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