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Wohnen auf Rädern
Der Standard

Die laufende Architekturbiennale in Rotterdam greift ein umstrittenes Thema auf: wie man die Mobilität ins 21. Jahrhundert rettet. Die Städte sollen noch autogerechter werden. Die Aussteller setzen auf eine Symbiose zwischen Architektur und Autobahn. Kann das funktionieren? Die neue Generation der Planer glaubt: ja.

7. Juni 2003 - Jan Tabor
Rotterdam hat seit 1995 ein neues Wahrzeichen: die Erasmusbrug. Die von Ben van Berkel in verfeinerter Calatrava-Manier entworfene Brücke hängt wie ein riesiges Zupfinstrument über den Nieuwe Maas und verbindet das Stadtzentrum mit Kop van Zuid, dem neuen Viertel für die aufstrebenden Menschen des 21. Jahrhunderts. Die Erasmusbrücke kann als eine Apotheose des Autoverkehrs gedeutet werden: eine Gesellschaft, die sich derart edel aussehende Verkehrsbauwerke errichten lässt, mag das Auto sehr.

Unweit der Erasmusbrücke, zwischen uwei neuen Türmen von Renzo Piano und von Norman Foster befindet sich Las Palmas, ein altes Hafenlagerhaus, das zum Ausstellungszentrum für die Avantgarde umgewidmet wurde. Dort steht ein Motorad BMW F650 GS. Es ist eines der Exponate der Architekturbiennale „Mobility. A room with a view“.

Autofahren macht Spaß. Wer immobil wird im Automobil, der befindet sich im Stau. Der Stau ist ein Zustand, ist Spaß in statu nascendi. In der Spaßgesellschaft ist Langeweile eine Notlage. Wo Not bedrückt, dort rücken Helfer vor. In den lang andauernden Staus, die sich alltäglich in und um Rotterdam herum bilden und manchmal bis nach Amsterdam reichen, waren im Frühjahr 2003 vier Männer auf zwei BMW F650 GS flott unterwegs. In ihren weißen Overalls sahen sie wie Engel aus. Sie tauchten auf, halfen und verschwanden wieder. An die genervten, apathisch oder aggressiv gewordenen Autofahrer verteilten sie kleine Notstandspakete mit der Aufschrift FILEkit©. File ist das holländische Wort für Stau. Je nach dem Typus des Im-Auto-Gestauten enthielten die weißen Kunststoffsäckchen verschiedene nützliche Gegenstände wie Kunststoffblume, Kondom, Markierungsstift, Esperanto-Luftballons, Aspirin, Wörterbuch, Kompass, Wasserpistole (für die Aggressiven), Kommunikations- oder Aktionsparfum und, für die meditativen Typen je nach der Religion, Bibel, Koran oder Zen. Die eigentliche inhaltliche Zusammenstellung einer der drei Varianten des FILEkits hing vom Zweck der Fahrt und der psychischen beziehungsweise charakterlichen Verfassung der angestauten Autofahrer ab.

Der Stau sei ein Sozialraum, und das Wesen des Sozialen sei Kommunikation. Das ist die konzeptuelle Basis für die Aktion "FILEkit©", zu der sich drei Gruppen - „Artgineerung“ aus Holland, „D+NL“ aus Deutschland und „feld72“ aus Österreich - zusammengefunden haben, um einen von rund 130 Projektbeiträgen für die 1. Architekturbiennale in Rotterdam zu realisieren. In Las Palmas, einem der beiden Ausstellungsorte, zeigen sie in Form eines Informationsstandes die Produkte ihrer Anstrengung, den Stauraum zum Kommunikationsraum zu machen. Das Projekt ist für die Denkrichtung der Biennale charakteristisch, wie diese wiederum für die Spaßgesellschaft symptomatisch ist.

Wann immer Städte in Not geraten, rücken rasch Retter aus. Architekten, Landschaftsplaner, Künstler, Ingenieure, Stadt- und Freizeitdesigner, Kulturtheoretiker etc. Was die klassischen Verkehrsplaner längst aufgegeben haben, nämlich die Bemühungen, Städte autogerecht gleichsam hoch zu frisieren, versuchen nun Architekten und andere, die man unter dem Attribut „jung und aufstrebend“ zusammenfassen könnte, noch einmal. Ihr Festival heißt „International Achitecture Biennale Rotterdam 2003“ und findet zum ersten Mal statt.

Die Autogerechtigkeit ist das Motto und das Ziel, jetzt wird sie allerdings Mobility genannt. Der Untertitel „A room with a view“ - eine Paraphrase des berühmten Zitates „Automobiles are like part-time dwellings on wheels“ von Richard Buckminster Fuller - ist die normative Metapher fürs Auto, für das neue Verständnis des Autos. Normativ in dem Sinn, dass damit der unbegrenzte Raum über Autobahnen und Autobahnkreuzungen angesprochen wird, der neuerdings in den politischen Stadtvorstellungen als Bauland für attraktive Stadterweiterungen mit Wohnbau für die neue mobile Mittelschicht populär geworden ist. Was mit den Bahnhöfen längst passiert, soll auf die Autobahnen übertragen werden. Den künftigen Nutzern der Autobahnüberbauungen wird mit dem Untertitel jene Wohnqualität versprochen, die sich alle wünschen: Zimmer mit Ausblick. Ins Grüne. Ruhig und sonnig.

Was heißt überbaut? Verflochten! Den Biennale-MacherInnen (auf dem Gruppenfoto des Biennaleteams sind 20 Frauen und ein Mann abgebildet) unter der Leitung von Francine Houben, Gründerin der erfolgreichen Gruppe Mecanoo Architects und Architekturdozentin an der TU Delft, geht es keineswegs um Darstellung oder gar weitere Propagierung der in den Niederlanden aufgrund des Baulandmangels ohnehin bereits intensiv praktizierten Überbauung von Autobahnen.

Ihnen geht es um viel mehr als um das, was im legendären, 1959 erschienen Buch des einstigen NS-Planers Hans Bernhard Reichow „Die autogerechte Stadt - ein Weg aus dem Verkehrs-Chaos“ derart suggestiv empfohlen wurde, dass es zu der städtebaulichen Doktrin für den Wiederaufbau der deutschen Städte wurde und mehr Einfluss auf die Stadtgestaltung hatte als alle Le Corbusiers, Mies van der Rohes oder Walter Gropiuse zusammen.

Die Ideologie der autogerechten Stadt basierte auf der Trennung von Autofahrenden und nicht Autofahrenden mit Vorrang für die in den Wagen. Was die künftige Autotauglichkeit der Städte betrifft, sind die Apologeten der New Mobility radikaler und realistischer zugleich: Sie streben eine vollkommene Synthese der Stadt mit dem Verkehr an, die an der ohnehin längst offensichtlich phylogenetisch fixierten Symbiose von Mensch und seinem liebsten Vehikel, dem Auto, anknüpft. Denn so, wie die beiden Hauptausstellung geplant beziehungsweise geworden sind, wird unter „Mobility“ ausschließlich der Autoverkehr und die mit ihm zusammenhängenden technischen und - vor allem - mentalen Strukturen verstanden.

Dabei konzentriert man sich hauptsächlich auf die kommenden Städte und Stadterweiterungen, der Altbestand wird ideenmäßig gleichsam umgefahren. Die Biennale ist zum Forum für jene Fantasien geworden, in denen es um die Vereinigung des klassischen Autofahrens und Autobesitzens mit dem gegenwärtig-zukünftigen Lifestyle zu einer Megapolis des Megaspaßes geht. Auffallend an fast allen Beiträgen, selbst den fantastischsten, ist, dass mit einer konservativen Konstante gearbeitet wird: Was das Auto betrifft, bleibt alles fix wie ein Dogma: Motor, Form, Straßen, Geschwindigkeit, Lärm, Abgase und der Stau.

Diese beinahe andächtige Fixierung fällt in der zweiten Hauptausstellung im NAI, dem 1993 von J. Coenen im postmodernen Collagestil errichteten Nederlands Architectuurinstituut, auf. Außen und innen wird das Gebäude von etwa zwei Dutzend Autos so voll gestopft, dass man den Eindruck bekommt, die ganze Mobility-Biennale sei ausschließlich vom Verband der Niederländischen Gebrauchswagenhändler gesponsert worden. In einer Prater-artigen Schau werden Oldtimer auf sich drehende Scheiben gesetzt. Der Besucher kann sich hinein setzen und auf einer Projektionswand aus der Fahrerperspektive eine der Hauptrouten in einer der Metropolen wie Mexico City, Beirut, Budapest oder Peking nachfahren und sich dabei die Länder üblichen Autofahrer-unterwegs-Radiosendungen anhören.

In einem anderen Saal kann man sich historische Aufnahmen mit Aussagen zum Autoverkehr - zum Beispiel Adolf Hitler, den Förderer des Massenprodukts VW - anschauen. Als Projektionsflächen dienen in auf der Luft hängende vordere Autofensterscheiben. Wo Auto vorkommt, ist es mit dem Kitsch wie mit dem Lärm: unvermeidlich.

Aber Achtung! Ganz oben ist ein wenig Ausstellungsplatz übrig geblieben. Wenige Wochen vor der Eröffnung gingen noch Einladungen an elf Universitätsinstitute in verschiedenen Ländern, darunter das Studio Zaha Hadid von der Angewandten in Wien, mit Studentenprojekten zum Thema „Holland Avenue“ aufzuwarten. Es galt, ein 15 Kilometer langes Autobahnstück zwischen Rotterdam und Delft zu einer Stadt der Zukunft zu verwandeln. Die Zeit aber war knapp, das Budget fast null und die zur Verfügung gestellten Kojen minimal. Die Resultate der studentischen Anstrengungen sehen entsprechend aus: viel Computerarbeitsaufwand und wenig Ideen- und Darstellungsklarheit.

Im NAI wird vor allem Wert auf Spaß gelegt, in Las Palmas hingegen auf Informationen. Hier werden zahlreiche bereits vorhandene und zum Teil auch bereits verwirklichte Projekte aus namhaften Büros vorgestellt. Da oder dort Stars oder Studenten: Im Bewusstsein der Planer und Architekten hat sich offenbar die Ansicht von Buckminster Fuller (er ist der Architekt, der New York mit einer riesigen geodätischen Sphäre überdecken wollte) vollkommen durchgesetzt: Automobil ist ein Lebensraum, ist ein Teil der Lebensqualität.

Die letzte Architektur-Biennale „Next“ in Venedig war star-lastig, gesetzt und steril. Sie glich einer riesigen Mode-Boutique. Die Biennale in Rotterdam gleicht einem riesigen Workshop für Jungarchitekten, die Autos überaus mögen, aber noch immer Rad fahren (müssen), obwohl sie es sehr eilig haben.

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