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Arme Architektur
Neue Zürcher Zeitung

Das «Rural Studio» in einer Wiener Ausstellung

17. Mai 2003 - Paul Jandl
Tief in Alabama sind Gesinnung und Ästhetik noch kein Gegensatz. Seit Anfang der neunziger Jahre baut das Rural Studio in den ärmsten Regionen des Bundesstaates Häuser für Bedürftige. Aus Recyclingmaterial entsteht die Architektur einer ökologischen Avantgarde, die jetzt in einer Ausstellung des Wiener Architekturzentrums zu sehen ist. Hale County in Alabama gehört zu den amerikanischen Landstrichen fortschreitender Verarmung. Geistersiedlungen aus Wellblech und Wohnwagen sind vom einstigen Wohlstand der Baumwollplantagen geblieben, die Arbeitslosenrate ist hoch, und das Durchschnittseinkommen liegt bei 13 000 Dollar im Jahr. Der vor zwei Jahren verstorbene Architekt Samuel Mockbee hat hier vor zehn Jahren in Zusammenarbeit mit einer lokalen Wohlfahrtsbehörde ein Modell entwickelt, das die Studenten der Auburn University in die architektonische Praxis einführt und einen explizit sozialen Auftrag erfüllt. Ausgewählten Familien oder Gemeinden kommt die Arbeit von Rural Studio zugute. Die Kosten werden niedrig gehalten, Sponsoren stellen Material zur Verfügung, zur Planung gehören auch intensive Befragungen der künftigen Nutzer. Über zwei Dutzend Projekte hat Rural Studio in den letzten Jahren in Hale County verwirklicht.

Das erste Projekt von Rural Studio war das 1993 gebaute Bryant House. Schwere Heuballen wurden in Plasticplanen gewickelt, übereinander gestapelt und mit Drähten gesichert. Bei den Bauten von Rural Studio bleibt die Improvisation stets sichtbar. Und so fügen sich die Häuser, die meist mit kühnen Dachkonstruktionen in der Landschaft stehen, wieder in ihr Umfeld aus Agrikultur und Abgeschiedenheit. Breite Veranden und einfache Grundstrukturen, die den siloartigen Gebäuden der Gegend nachempfunden sind, prägen eine Architektur aus Low Tech und hoch entwickeltem sozialem Gewissen. Das 2001 entstandene Shiles House verdankt seine innere Form ausgegossenen Autoreifen. Als Stelzen verwendete ausrangierte Telefonmasten und die mit Schindeln verkleideten Wände bilden das äussere Erscheinungsbild des Shiles House. Die Bauten von Rural Studio kommen nicht aus einem computerisierten Büro, sondern entstehen vor Ort und nach Massgabe der Möglichkeiten des Materials. Und so mutet die Arbeit auf anspruchsvolle Art eigenwillig und autark an.

Am avanciertesten in dieser Hinsicht ist Lucy's House (2002), bei dem die Wände aus gestapelten Teppichfliesen bestehen. Das flache, bungalowartige Gebäude wird durch einen vielfach gedrehten Turm gekrönt. Die Low-Tech-Forschung von Rural Studio, in der Recyclingmaterial auf seine Tauglichkeit als Baustoff geprüft wird, geht weiter. In der Wiener Ausstellung, welche die Arbeit der amerikanischen Architekten erstmals in grösserem Rahmen in Europa präsentiert, ist auch sie zu sehen. Das Architekturzentrum Wien dokumentiert die Projekte von Rural Studio in einer schmucklosen Ausstellung, die das Handwerkliche dieser Arbeit deutlich macht. Wo sich Architektur sonst im Hochglanz ästhetischer Überzeugungen präsentiert, ist die Ethik des Rural Studio noch in ihrem unprätentiös-skizzenhaften Auftritt spürbar. «Just build it!» lautete Mockbees Wahlspruch.


[ Bis 2. Juni. Zur Ausstellung ist eine Nummer der Zeitschrift «Hintergrund» erschienen (Euro 4.40). ]

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