Artikel

Das Kleine bleibt klein nicht.
Spectrum

Die Krise ist keine akute, sie ist eine permanente – warum das Verhältnis von Politik, Macht und Architektur in Österreich besonders viel Zündstoff enthält.

11. November 1995 - Otto Kapfinger
Nicht nur die Avantgardisten beschwören das „Ende der Architektur“. In Zeiten kultureller Desillusionierung gehen jetzt sowohl die großen Bauherren als auch die politischen Entscheidungsträger auf Nummer Sicher: Spektakuläre Projekte werden nur mehr einer Handvoll bekannter Star-Entwerfer anvertraut, deren Image bereits rundum abgesichert erscheint, die also einen probaten Markennamen garantieren. Um alles übrige herrscht – so die Kassandrarufe bei einschlägigen Symposien in Frankfurt, Berlin, London oder Graz – ein immer härter werdender Konkurrenzkampf, der nur die großen Architekturbüros begünstigt; junge Architekten hätten immer weniger Chancen, zumal auch das in den achtziger Jahren sehr offene Wettbewerbswesen zuletzt restriktiver gehandhabt wurde. Architektur – über die noch nie soviel im akademischen Kreis wie in der breiten Öffentlichkeit diskutiert wurde wie heute – also wieder einmal unters Joch wirtschaftlicher, politischer Macht gezwungen? Dazu im folgenden einige Szenen, die solche Befunde bestätigen, aber auch eindeutig in Frage stellen.

Erste Szene. Man erinnere sich an den Wiener Hofburgbrand vor drei Jahren. Dieses Ereignis wurde in den Medien maßlos aufgebauscht – ein Stück österreichischer Identität sei da verlorengegangen, so einige Meldungen, ein Juwel österreichischer Baukunst sei zerstört. In Wahrheit war wohl ein barocker Dachstuhl abgebrannt, darunter aber eine bau- und kulturgeschichtlich unbedeutende Innendekoration des späten 19. Jahrhunderts vernichtet worden. Im Rahmen einer derart emotionalisierten Berichterstattung wurde damals auf höchster politischer Ebene über Nacht und aus dem Stand eine Entscheidung präjudiziert: „Die Hofburg wird wieder aufgebaut, wie sie war.“

Viele profilierte Architekten, aber auch Persönlichkeiten aus anderen Kultursparten haben diese Entscheidung kritisiert. Nach einer gewissen Verzögerung entstand eine zweite mediale Welle, eine sehr lebhafte, über die Printmedien geführte Debatte über Sinn oder Unsinn einer „legitimen Rekonstruktion“ respektive einer „kulissenhaften Geschichtsfälschung“. Das Ganze geschah vor dem Hintergrund der Frage: ob die politischen Entscheidungsträger unserer Republik – wenn es schon um die Identität geht – imstande wären, ein selbstbewußtes Zeichen zeitgenössischer Identität zu setzen, oder ob sich hier das latent Fiktionale unseres landläufigen österreichischen Geschichtsverständnisses auch in einer höchstrangigen baulichen Fiktion – der Rekonstruktion der Redoutensäle – fortsetzen würde.

Robert Menasses Essay „Land ohne Eigenschaften“ war kurz zuvor erschienen. Und vielen von uns ging damals einer der Sätze daraus nicht mehr aus dem Sinn: „Wir haben gesehen, daß das österreichische Prinzip der Realfiktionen alles in diesem Staat affiziert – das Reale wird unwirklich und das Unwirkliche real . . . Österreich hat sich von seiner Geschichte abgeschottet und versucht dennoch, von seiner Musealität zu leben.“

Ich hatte damals – im Frühjahr 1993 – die Gelegenheit, eine von der Österreichischen Gesellschaft für Architektur veranstaltete Podiumsdiskussion zu diesem Thema zu leiten. Neben den Spitzenbeamten des Denkmalamtes, der Landeskonservatorin für Wien und dem Landeskonservator für Niederösterreich, haben an dieser Diskussion einige profilierte Architekten teilgenommen – Hans Hollein, Volker Giencke, Jiri Vendl –, zwei Hochschulprofessoren für Kunstgeschichte – Peter Haiko, Karin Wilhelm – sowie der mit der Rekonstruktion beauftragte Architekt und Denkmalpflege-Professor Manfred Wehdorn.

Rund 600 Interessierte haben die lebhafte, mehrstündige Debatte im damals gerade eröffneten Architektur-Zentrum Wien verfolgt und mitgestaltet. Das Resümee war eigentlich überraschend: Die Denkmalpfleger wie auch die Kunsthistoriker distanzierten sich vom Prinzip der Rekonstruktion, und sogar der damit dezidiert Beauftragte räumte ein, „daß es durchaus zum Einbetten der verbliebenen Substanz in ein neues Konzept kommen könnte“. Von der Euphorie dieser Veranstaltung beflügelt, beschloß ein Teil der Podiumsdiskutanten, das Thema auf höchster politischer Ebene in einem persönlichen Gespräch vorzubringen. Der damalige Vizekanzler und Wissenschaftsminister Erhard Busek – als solcher auch der dem Denkmalamt übergeordnete Politiker – hat einen Termin zugesagt. Und Hollein, Giencke, Haiko, Chramosta und ich sind dort erschienen, mit dem Konzept in der Tasche für die zeitgenössische Neugestaltung der Redoutensäle über ein Gutachterverfahren beziehungsweise einen Architektenwettbewerb.

Busek hat uns an seinem Arbeitstisch empfangen, das Gespräch hatte gerade erst begonnen, da unterbrach der Vizekanzler mit den Worten: „Meine Herren, ich stimme in der Sache inhaltlich völlig mit Ihnen überein. Aber ich eröffne mir keine zweite Front.“ Womit gemeint war, daß er neben dem heftig umstrittenen Projekt Museumsquartier – ebenfalls primär seine Ressorts betreffend – nun den politischen, medialen und per-
sönlichen Gegnern, der „Kronen-Zeitung“ und ihrem Herausgeber et cetera, nicht ein weiteres Kritikfeld eröffnen könne.

Das Gespräch ging dann noch zehn bis 15 Minuten weiter – der Minister dabei ständig Akten durchblätternd und signierend –, über die Frage etwa, ob die Wiener Landeskonservatorin in der Diskussion eine konträre Haltung zu dem geäußert habe, was sie sozusagen dienstlich, offiziell und schriftlich als Stellungnahme dem Minister gegenüber feststellte. Aber nach diesem entwaffnenden, überraschend offenen Bekenntnis des Ministers – Sie haben völlig recht, aber ich muß konträr dazu handeln –, nach diesem Satz war gleichsam die Luft draußen, und selbst so wortgewaltige Personen wie Giencke oder Hollein konnten keinen Ansatz finden, dieses Gespräch wieder aktiv zu machen. Der Faden war gerissen, bevor er sich noch hatte entwickeln können.

Nach kaum 20 Minuten waren wir wieder draußen vor der Tür. Wir gingen die mit rotem Teppich belegten Gänge und Stiegen hinunter auf den kalten, zugigen Minoritenplatz hinaus, blieben aber – wie unter Schock – direkt vor der Toreinfahrt des Ministeriums stehen und haben dort versucht, in einer 45minütigen Gehsteigdebatte wieder Fassung zu gewinnen und die uns eben widerfahrene Paradoxie sozusagen gesprächstherapeutisch aufzuarbeiten. Ein mehrfacher Staatspreisträger für Architektur und Mitglied des Kunstsenats, eine internationale Koryphäe, ein Hochschulprofessor und landesweit anerkannter Architekt der jüngeren Generation, ein international renommierter Kunsthistoriker, mit dem Votum einer großen öffentlichen Fachdiskussion legitimiert – sie waren mit einem dialektischen, realpolitischen Standpunkt ebenso lakonisch wie elegant abserviert worden. Was wir da hautnah erlebt hatten, war die Schizophrenie, die Verstrickung von Macht und Ohnmacht nicht nur eines politischen Subjektes, sondern einer kulturpolitischen Situation in unserem Land schlechthin. Die Politik hatte die Macht, in dem spezifischen Fall eine Vorgangsweise zu diktieren. Sie zeigte zugleich die Ohnmacht, eine objektivierbare persönliche Überzeugung durchzusetzen gegenüber dem Über-Ich der medialen Macht beziehungsweise gegenüber dem Kalkül des realpolitischen Selbsterhaltungstriebes.

Szene zwei. Beim Thema Politik-Macht-Architektur entsteht vielleicht der Eindruck, in der Gegenwart seien die Verhältnisse besonders schlimm: Früher hätte es wenigstens noch Mächtige mit Baugesinnung gegeben – und so weiter. Ich denke, solche nostalgischen Verweise auf die Geschichte sind unzutreffend. Die gloriose Geschichte der Baukunst ist voll von „Vergewaltigungen“ der Architektur durch die Ansprüche potenter Auftraggeber und von Machtkämpfen rivalisierender Baukünstler um die Gunst der Potentaten, sie birgt ein riesiges Schattenarsenal nichtgebauter, aus realpolitischem Kalkül nichtgebauter Architekturen. Die Geschichte bietet in dieser Hinsicht keine heile Welt, sie bietet höchstens Trost gerade darin, daß trotz der Kontinuität unzähliger ähnlicher Bau-Leidensgeschichten immer wieder Baukunst entstanden ist.

Eine solche Kontinuität einer Bau-Leidensgeschichte habe ich vor zwei, drei Jahren am Beispiel eines Wiener Bauplatzes recherchiert. Es ist dies die Projekt- und Baugeschichte der früheren Kunstgewerbeschule, der jetzigen Hochschule für angewandte Kunst in Wien.

Die k.k. Kunstgewerbeschule, eine Gründung des Kulturliberalismus der Ringstraßenära, war von Beginn an zu klein gebaut, um ihrem Auftrag und Anspruch gerecht werden zu können. Heinrich von Ferstel – immerhin ein veritabler Baulöwe seiner Zeit – hat 20 Prozent des geplanten Bauvolumens einsparen müssen. Die vielen Versuche, diesem „Erbübel“ abzuhelfen, sind über all die Jahre hinweg bis zur unmittelbaren Gegenwart in ihrem Schicksal fast austauschbar. Es gab von 1899 bis 1991 mehr als 30 verschiedene bauliche Erweiterungsprojekte zum Teil hervorragender Qualität. Wir haben fünf unbekannte Entwürfe von Josef Hoffmann entdeckt, darunter einen ganz frühen und wirklich revolutionären von 1901, ferner gibt es auch ein Projekt von Heinrich Tessenow – bis herauf zu den Vorschlägen von Hans Hollein und Wilhelm Holzbauer. Das Resümee: Ob es die Probleme des zeitgenössischen Bauens in historischer Umgebung sind, ob es die Zensur der beamteten Architekten über ihre freischaffenden Kollegen betrifft, ob es um die Entscheidungsschwäche der Politik gegenüber Investitionen in die kulturelle Zukunft geht oder um die Unbeirrbarkeit der Bürokratie, deren Mühlen hier vielleicht noch langsamer mahlen als anderswo – diese kleine Jahrhundertgeschichte der Kunstgewerbeschule legt den allgemeinen Schluß nahe, daß wir hier jedenfalls an der Geschichte nichts zu lernen haben, es sei denn, daß sie sich eben irgendwie in spiralförmigen Kreisläufen bewegt – nach dem Schema der Geschichte vom Hasen und vom Igel.

Da gab es etwa den Vorfall, daß ein zweiter Entwurf von Josef Hoffmann – wäre er gebaut worden, sicher heute als „Juwel österreichischer Baukultur“ unter Denkmalschutz –, daß also ein durchgearbeiteter Hoffmann-Entwurf vom Hochbaudepartement des Innenministeriums vernichtend kritisiert und zurückgewiesen wird.

Und dasselbe Hochbaudepartement übernimmt dann diese Hoffmann-Pläne in Grundriß und Schnitt, ersetzt die moderne Architektursprache Hoffmanns jedoch durch eine neue Fassade: Dem Hoffmannschen Baukörper wird eine stilistische Haut verpaßt, die bis ins Detail eine Kopie und Fortsetzung der historistischen Architektur des Altbaus von Ferstel darstellt. Dies wird dann als eigener „Beamtenentwurf“ mit ausführlichem Kostenvoranschlag ans Finanzministerium weitergeleitet . . . Auch der sehr schlichte und ökonomische Tessenow-Entwurf wird im Hochbaudepartement umgezeichnet, in eine klassizistische Inszenierung eingekleidet, und so geht das immer weiter . . .

Die an der Kunstgewerbeschule lehrenden Architekten und die jeweiligen Rektoren formulieren Plan um Plan, Eingabe um Eingabe; nach mehr als 60 Jahren wird dann unter unglaublichen Krämpfen und Kompromissen das gebaut, was jetzt als „Neubau“ dort an der Wienfluß-Promenade steht.

Wenn man sich diese Geschichte im Detail anschaut, die in einer Phase tragisch kulminierte, die heute als eine Blütezeit der Erneuerung der Baukunst in Wien gilt – 1900 bis 1912 –, muten uns die rezenten Beispiele von Schul- und Hochschulbauten in den Bundesländern und in Wien ja fast wie die Rückkehr in ein verlorenes Paradies an.

Szene drei. Ich behaupte, daß wichtige Aspekte der österreichischen Gegenwartsarchitektur entscheidend mitbegründet sind durch eine glückhafte Verbindung des Engagements ganz weniger Personen in entsprechend abgesicherten politischen Machtverhältnissen. Beispiel Steiermark – und das Faible des als Landesfürst agierenden Josef Krainer für modernes Bauen.

Unter Krainers Initiative wurden die ersten strukturverändernden Impulse ab 1975 eingeleitet. Dort konnten beispielsweise die Richtlinien für den Wohnungsbau so revidiert werden, daß die Förderung aus öffentlichen Mitteln ab einer Projektgröße von 50 Wohneinheiten an die Durchführung eines baukünstlerischen Wettbewerbes gebunden ist. Parallel dazu wurden ab 1978 von der steirischen Landesbaudirektion keine „Amtsplanungen“ im Hochbau mehr durchgeführt. Statt dessen entschied man sich, die Palette der öffentlichen Bauaufgaben – vom Krankenhaus- und Hochschulbau bis zu kleinsten Umbauten in bestehenden Amtsräumen – über sorgfältig ausgeschriebene Wettbewerbe oder über Direktaufträge an ausgewählte Architekten abzuwickeln.

Das phänomenale Aufblühen der „Grazer Schule“ weit über den üblichen Sektor privater Auftraggeber und sporadisch an Baukunst interessierter Wirtschaftsbosse hinaus wäre ohne diese in Österreich einmaligen Strukturbedingungen, ohne die kulturpolitische Stützung „von oben“ nicht möglich gewesen. Das Pendel schwingt jetzt allerdings zurück: Seit politische Mehrheiten knapper wurden, seit einzelne Bauexperimente schieflaufen und in den Landgemeinden sich – auch populistisch geschürter – Unmut über die Architektur-Beglückung äußert, geht die hohe Politik auf Distanz, wird das Bauklima frostiger.

Beispiel Salzburg. War der Impuls in der Steiermark als „Reform von oben“ aus dem Zentrum der politischen Macht abgesichert, so entstand das womöglich noch radikalere „Salzburg-Projekt“ als überraschender Coup einer Protestbewegung. Mit dem Wahlerfolg der „Bürgerliste“ übernahm dort 1982 Johannes Voggenhuber das Amt des Planungsstadtrates. Dank der in seiner Funktion vereinigten Kompetenzen der Baubehörde, der Architekturbegutachtung und der Raumordnung konnte er eine tiefgreifende Architekturreform starten. Die politischen Gegner hatten diese Kompetenzbündelung dem Newcomer sichtlich als Stolperstein, als Danaergeschenk zugedacht. Voggenhuber verstand es aber, dies in ein Trojanisches Pferd umzuwandeln. Mit Hilfe des 1983 gegründeten „Gestaltungsbeirates“ konnte Voggenhuber eine Reihe von beachtlichen Projekten durchziehen und etliche bekannte in- und ausländische Architekten in diese Vorhaben einbeziehen – eine Situation, die hier ein völliges Novum darstellte.

Architektur und Urbanistik wurden in Salzburg über Nacht zum Gegenstand intensivster, zum Teil sehr hart und populistisch, zum Teil hochqualifiziert geführter öffentlicher Auseinandersetzungen. Das Prinzip des „Gestaltungsbeirates“ wurde in der Folge von einigen anderen Landesstädten modifiziert übernommen oder aktualisiert, unter anderem in Wien, Bregenz, Linz und Krems. Voggenhubers tief in wirtschaftliche, politische und kulturelle Mißstände eindringendes Engagement wurde bei den nächsten Wahlen nicht honoriert. Doch sein Impuls hat am Ort die bis heute wirkende Wiederbelebung der Architekturdiskussion bewirkt, hat einige wichtige realisierte Bauten hinterlassen und überregional spürbare Anregungen ausgelöst.

Letzte Szene, allgemeine Szene. Ich formuliere eine Hypothese – zur Diskussion –, warum das generalisierte Verhältnis Politik-Macht-Architektur in Österreich eine spezifische Brisanz besitzt: Wenn die Architekten im Namen der Baukunst hier vorwiegend die kulturelle Verpflichtung der sogenannten öffentlichen Hand einmahnen, so wenden sie sich an einen von Natur aus unzuverlässigen, strukturell überforderten Bündnispartner. In einer zunehmend von Images und Moden geprägten Politik zählt das in der breiten Öffentlichkeit wirksame, schnelle Resultat mehr als die langsam entwickelte Strukturreform und Aufbauarbeit. Architektur ist kein schnelles Medium, sie braucht Zeit und langen Atem. Deshalb der jetzt so aktuelle Trend zur reinen Ankündigungspolitik, wo das Engagement eines Berufsstandes dazu mißbraucht wird, medial wirksame, doch wenig durchdachte Prestige-Wettbewerbe abzuhalten, die in schleichenden Hinhalte-Prozessen versanden. Beispiel Museumsquartier, Beispiel Trigon-Museum Graz, Beispiel Expo Wien.

Dem könnte man entgegenhalten, daß ja in Wien jahrzehntelang eine ungefährdete politische Mehrheit gegeben war und daß dennoch nur sehr zögerlich auf Reformvorschläge in kommunalen Bausektoren reagiert wurde. Die Ignoranz der politischen Ebene paarte sich da sichtlich mit der Beharrungs- und Verselbständigungskraft einer historisch gewachsenen, offenbar allmächtigen Bürokratie.

Von außen gesehen relativiert sich freilich wieder solche Kritik – und die Wiener Wohnbauleistungen und Infrastrukturbauten stehen international, trotz aller Mängel, doch außerordentlich gut da.

Im Vergleich zu Paris, London oder Barcelona ist für Wien – und darauf will ich hinaus – die Tatsache spezifisch, daß hier eine viel kleinere Schicht liberaler Großbürger, ein viel kleinerer, verschwindender Sektor freien unternehmerischen Kapitals nur eine sehr kurze historische Phase zur Verfügung hatte, um der Moderne Raum geben zu können. In Wien gab es weder vor noch gar nach der Zäsur des Ersten Weltkrieges eine relevante Zahl von Industriellen, freien Mäzenen und Wirtschaftstreibenden, die sich in avancierten Großbauten hätten manifestieren können. Diese Strukturschwäche – die fehlende Mitte zwischen dem großen, staatlich-politisierten Bauwillen und dem kleinen, privaten Bauengagement – gilt hier bis in die jüngere Gegenwart. Und, grob gesagt, für das ganze Land.

Die Kehrseite dieser Verhältnisse: Wenn die Architektenschaft im Sinne ihrer Entfaltung nicht erst seit gestern die staatliche Deregulierung fordert, den Abbau behördlicher Bevormundung – so kommt der mangelnde Erfolg nicht zuletzt aus einer quasi immanenten Qualität des Genres. Architekten sind Individualisten, sind primär auf die Verwirklichung ihrer Kreativität hin orientiert. Wenn sie ihrem künstlerischen Anspruch und Auftrag entsprechen wollen, müssen sie Individualisten sein, und die vielen Versuche zu kurzen, solidarischen Anläufen dieser Individualität gegen die Strukturen der Baugesetze, Normen, Förderungsrichtlinien, Vergabemodalitäten zerschellen in ihrer Kurzatmigkeit an der Trägheit, an der organisatorischen Komplexität und Beharrungskraft von bürokratischen, institutionellen, wirtschaftlichen Verhältnissen.

Architektur – die Magd der Macht? Die Frage ist so aktuell wie historisch. Die Krise ist keine besonders akute, sie ist eine absolut permanente. Kein Grund zur Panik, kein Grund zur Euphorie. Die Geschichte lehrt nur eines: Baukunst entsteht trotzdem. Baukultur kann nicht verordnet werden, sie muß in Vielfalt wachsen können dürfen.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: