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Sprung über den Fluss
Internationale Bauausstellung (IBA) in Hamburg
Der Hafen hatte für Hamburg bis vor wenigen Jahren Priorität. Jede Stadtentwicklung hatte sich dem unterzuordnen. Mit der neuen «Waterfront» der Hafencity hat ein Umdenken begonnen, mit der Internationalen Bauausstellung (IBA) auf der gegenüberliegenden Elbinsel erfährt es eine kritische Fortsetzung.
26. April 2013 - Paul Andreas
Seit über einem Jahrhundert steht der rote Backsteinbau des Wilhelmsburger Rathauses so einsam wie ein Leuchtturm mitten auf der Elbinsel. Das von Norder- und Süderelbe umspülte, 50 Quadratkilometer grosse Eiland vor den Toren Hamburgs hat sein städtisches Zentrum nie wirklich gefunden: Heterogen versprengt liegen alte Dorfkerne neben monotonen Betonschlafstädten, denkmalgeschützte Arbeitersiedlungen der 1930er Jahre unweit von gestapelten Containerlagern und Industrieanlagen – das alles grossmassstäblich zerschnitten durch drei grosse Verkehrsarterien, die der Hansestadt den Auto- und Bahnverkehr von Süden zuführen. Die damit einhergehenden Fragmentierungen haben dazu geführt, dass die Elbinsel lange nicht als ein attraktiver Wohnstandort wahrgenommen wurde. Und doch sind es 50 000 Menschen, die hier nur acht Zugminuten vom Hamburger Hauptbahnhof weg leben – viele von ihnen stehen am unteren Ende der Sozialpyramide, sind überdurchschnittlich jung, haben Migrationshintergrund und eher düstere Bildungschancen.
Schulen und Musterhäuser
In diesen Vorhof der Stadt, den Investoren bisher eher mieden, hat sich die Internationale Bauausstellung (IBA) Hamburg seit 2006 kontinuierlich hinein begeben und eine Laborsituation mit offenem Ausgang initiiert. Für IBA-Geschäftsführer Uli Hellweg lautet das Ziel, «den Schatz, den die Insel birgt, mit vereinten Kräften heben». Will heissen: den Beweis antreten, dass Bewohner wie Zuzügler – Hamburg wächst überdurchschnittlich! – eine gemeinsame urbane Zukunft auf der Elbinsel haben; und mehr noch: demonstrieren, wie dieses neu zusammenwachsende Stadtviertel zu einem Energiereservoir für die ganze Hansestadt werden kann. Eine ökologisch und sozial nachhaltige Stadtentwicklung sowie architektonische Lösungen, die sich jenseits gängiger Standards bewegen, waren dazu gefragt – übrigens auch bei der zeitgleich stattfindenden Internationalen Gartenschau (IGS), die ab Mai zugänglich sein wird und eine fragmentierte Naturbrache der Elbinsel um 80 Weltgärten zu einer zeitgenössischen Parklandschaft erweitert.
Etwa drei Viertel der insgesamt 63 IBA-Projekte, die in einem Pocket-Katalog und im neuen, bei Dom Publishers erschienenen «Architekturführer Hamburg» vorgestellt werden, sind bis zur Eröffnung fertiggestellt worden – angesichts der kurzen Vorbereitungs- und Realisierungszeit von sieben statt der sonst üblichen zehn Jahre eine durchaus respektable Bilanz. Die Injektionen der IBA – Gesamtinvestitionen von einer Milliarde Euro! – verteilen sich über die gesamte Elbinsel. Einen grossen Masterplan gibt es nicht – einige kleinere, die die Exzellenzkriterien der IBA berücksichtigen, schon. Zentraler Anlaufpunkt ist die vom Maastrichter Architekten Jo Coenen zusammen mit dem Karlsruher Landschaftsarchitekturbüro «agence ter» gestaltete «Neue Mitte Wilhelmsburg» unweit des S-Bahn-Bahnhofs Wilhelmsburg. Die gleichnamige Trabantenstadt auf der Ostseite des Bahntrassees wurde durch das neue integrative Schulzentrum «Tor zur Welt» mit neuen Bildungsmöglichkeiten ausgestattet. Gleichzeitig hat sie endlich ein Stadtteil-Pendant auf der anderen Seite der Bahn bekommen, verbunden mit einer zickzackförmigen Fussgängerbrücke.
Ein erstes optimistisches Zeichen für die Ankommenden setzt der neue Hauptsitz der Hamburger Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt. Dessen ondulierte Volumen wurden von den renommierten Berliner Architekten Sauerbruch Hutton in einen horizontalen Schwarm bunter Fassadenlamellen aufgelöst. Vis-à-vis markieren Bolles + Wilson aus Münster eine breite Esplanade mit dem Ärztehaus und seinem Anhängsel, der «Insel-Akademie», einem betreuten Wohn- und Weiterbildungshort für Jugendliche. Als gebautes Symbol forstwirtschaftlicher Nachhaltigkeit schliessen sich das Waldausstellungszentrum und das Hotel «Wälderhaus» des Hamburgers Andreas Heller an, die wegen lokaler Brandschutzbestimmungen nur von aussen als ressourcenbewusster Holzbau realisiert werden konnten. Dahinter erstreckt sich massig die noch unfertige «Insel-Halle» der Münchner Architekten Almand Sattler. Halb Schwimm-, halb Blumenausstellungshalle, kann das Gebäude nach der Ausstellung in eine Dreisporthalle umgewandelt werden. Funktionale Verwandlungen und Aneignungen sind auf dieser IBA ein wichtiges Thema. Denn kein Gebäude, keine Freifläche soll am Ende der Ausstellung ohne einen Mehrnutzen für die Bevölkerung sein.
Zwischen der Esplanade und der von den IBA-Planern am liebsten schon heute, wohl aber erst 2017 in das Bahntrassee verbannten, dicht befahrenen Wilhelmsburger Reichs(hoch)strasse liegt eine der vielen sogenannten «Metrozonen», Stadtränder innerhalb der Stadt. Hier darf sich die «Bauausstellung in der Bauausstellung» zeigen – eine experimentelle Musterhausschau, die prototypisch Lösungen für das Wohnen der Zukunft vorschlägt. Mehrgeschossige Stadthaus-Solitäre führen in Musterwohnungen die Vorzüge innovativer Bauweisen und -technologien, flexibler Grundrisstypologien und alternativer Energieproduktion vor. Etwa der «Woodcube» des Büros Architekturagentur aus Stuttgart: Dank einer zu 100 Prozent aus unbehandelten Vollholzschichten konstruierten Fassade kann er hohe energetische und raumklimatische Vorzüge aufweisen und – wider Erwarten – einen ausgezeichneten Brandschutz.
Integrieren statt verdrängen
Das «Case Study #1» der Hamburger Fusi & Ammann Architekten verbindet ein loftartiges 45-Quadratmeter-Fertigteil-Modul aus Beton mit einem Innenschacht für Installationen zu einem intelligenten Baukastensystem, das grösstmögliche geschossübergreifende Kombinations- und Ausbauoptionen eröffnet – verhältnismässig preiswert zu haben auch für innerstädtische Baulücken. Das Showcase einer neuen Energieerzeugung ist das «BIQ» – ein aufwendiger, von einem Team um die Grazer Splitterwerk Architekten entwickelter Prototyp. An der Südfassade wurde dem Stadthaus eine zweite Fassadenhaut aus dünnen, wasserdurchströmten Glashohlelementen vorgesetzt. Algen werden darin gezüchtet. Die Fotosyntheseprozesse erzeugen Wärme, verbrennbare Biomasse und erwirken zudem eine prozessuale Veränderung der Farbgebung an der Fassade – Klimaschutz kann Fassaden auch im Positiven verändern!
Mehr als nur Leistungsschau, zeichnet sich die Hamburger IBA dadurch aus, auch über den Bestand grundlegend nachgedacht zu haben: Qualitätsverbesserung ohne Verdrängung war die Devise; ein sprunghaftes Ansteigen der Mieten sollte vermieden werden – auch wenn die Gegner der Gentrifizierung, die ihre Proteste vom Hamburger Gängeviertel aufs IBA-Gelände ausgedehnt haben, das naturgemäss anders sehen (und die IBA-Eröffnungsfeier wegen einer Kundgebung zu einer «Polizeischau» mutieren liessen). Als ein Vorzeigebeispiel der Bestandessicherung gilt das einige Busminuten von der S-Bahn-Station entfernte «Weltquartier». Dessen kommunal gehaltene Zeilenbauten sind im Dialog mit den Bewohnern durch eine Backsteinhaut, Balkonanbauten, aber auch durch eine behutsame öffentliche Platzgestaltung deutlich aufgewertet worden. Eine Gewerbebrache wurde zudem vom Hamburger Büro Dalpiaz + Gianetti in einen «Welt-Gewerbehof» verwandelt. Die am Entwurf beteiligten, überwiegend migrantischen Klein- und Kleinstbetriebe finden unter einer weitgespannten, transparenten Dachstruktur einen flexibel erweiterbaren Platzraum für wenig Miete. Mit Wärme und Strom versorgt wird das Weltviertel durch den «Energiebunker». Der freistehende Hochbunker aus dem Zweiten Weltkrieg wurde nach Entwürfen von Hegger Hegger Schleiff aus Kassel so entkernt und ertüchtigt, dass er einen gigantischen, von alternativen Wärmeenergien gespeisten Pufferspeicher über acht Etagen aufnimmt plus eine futuristisch über dem Dach schwebende Photovoltaikanlage. Ein öffentliches Café und Ausstellungsstationen holen den über 60 Jahre ungenutzten, lange einsturzgefährdeten Trutzbau in das stadtgesellschaftliche Bewusstsein zurück. Aus einsamem Brachland wird ein neues, ausstrahlendes Kraftzentrum – das bis heute bezugslos in der «Metrozone» ausharrende Wilhelmsburger Rathaus wird es ihm einmal danken.
Schulen und Musterhäuser
In diesen Vorhof der Stadt, den Investoren bisher eher mieden, hat sich die Internationale Bauausstellung (IBA) Hamburg seit 2006 kontinuierlich hinein begeben und eine Laborsituation mit offenem Ausgang initiiert. Für IBA-Geschäftsführer Uli Hellweg lautet das Ziel, «den Schatz, den die Insel birgt, mit vereinten Kräften heben». Will heissen: den Beweis antreten, dass Bewohner wie Zuzügler – Hamburg wächst überdurchschnittlich! – eine gemeinsame urbane Zukunft auf der Elbinsel haben; und mehr noch: demonstrieren, wie dieses neu zusammenwachsende Stadtviertel zu einem Energiereservoir für die ganze Hansestadt werden kann. Eine ökologisch und sozial nachhaltige Stadtentwicklung sowie architektonische Lösungen, die sich jenseits gängiger Standards bewegen, waren dazu gefragt – übrigens auch bei der zeitgleich stattfindenden Internationalen Gartenschau (IGS), die ab Mai zugänglich sein wird und eine fragmentierte Naturbrache der Elbinsel um 80 Weltgärten zu einer zeitgenössischen Parklandschaft erweitert.
Etwa drei Viertel der insgesamt 63 IBA-Projekte, die in einem Pocket-Katalog und im neuen, bei Dom Publishers erschienenen «Architekturführer Hamburg» vorgestellt werden, sind bis zur Eröffnung fertiggestellt worden – angesichts der kurzen Vorbereitungs- und Realisierungszeit von sieben statt der sonst üblichen zehn Jahre eine durchaus respektable Bilanz. Die Injektionen der IBA – Gesamtinvestitionen von einer Milliarde Euro! – verteilen sich über die gesamte Elbinsel. Einen grossen Masterplan gibt es nicht – einige kleinere, die die Exzellenzkriterien der IBA berücksichtigen, schon. Zentraler Anlaufpunkt ist die vom Maastrichter Architekten Jo Coenen zusammen mit dem Karlsruher Landschaftsarchitekturbüro «agence ter» gestaltete «Neue Mitte Wilhelmsburg» unweit des S-Bahn-Bahnhofs Wilhelmsburg. Die gleichnamige Trabantenstadt auf der Ostseite des Bahntrassees wurde durch das neue integrative Schulzentrum «Tor zur Welt» mit neuen Bildungsmöglichkeiten ausgestattet. Gleichzeitig hat sie endlich ein Stadtteil-Pendant auf der anderen Seite der Bahn bekommen, verbunden mit einer zickzackförmigen Fussgängerbrücke.
Ein erstes optimistisches Zeichen für die Ankommenden setzt der neue Hauptsitz der Hamburger Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt. Dessen ondulierte Volumen wurden von den renommierten Berliner Architekten Sauerbruch Hutton in einen horizontalen Schwarm bunter Fassadenlamellen aufgelöst. Vis-à-vis markieren Bolles + Wilson aus Münster eine breite Esplanade mit dem Ärztehaus und seinem Anhängsel, der «Insel-Akademie», einem betreuten Wohn- und Weiterbildungshort für Jugendliche. Als gebautes Symbol forstwirtschaftlicher Nachhaltigkeit schliessen sich das Waldausstellungszentrum und das Hotel «Wälderhaus» des Hamburgers Andreas Heller an, die wegen lokaler Brandschutzbestimmungen nur von aussen als ressourcenbewusster Holzbau realisiert werden konnten. Dahinter erstreckt sich massig die noch unfertige «Insel-Halle» der Münchner Architekten Almand Sattler. Halb Schwimm-, halb Blumenausstellungshalle, kann das Gebäude nach der Ausstellung in eine Dreisporthalle umgewandelt werden. Funktionale Verwandlungen und Aneignungen sind auf dieser IBA ein wichtiges Thema. Denn kein Gebäude, keine Freifläche soll am Ende der Ausstellung ohne einen Mehrnutzen für die Bevölkerung sein.
Zwischen der Esplanade und der von den IBA-Planern am liebsten schon heute, wohl aber erst 2017 in das Bahntrassee verbannten, dicht befahrenen Wilhelmsburger Reichs(hoch)strasse liegt eine der vielen sogenannten «Metrozonen», Stadtränder innerhalb der Stadt. Hier darf sich die «Bauausstellung in der Bauausstellung» zeigen – eine experimentelle Musterhausschau, die prototypisch Lösungen für das Wohnen der Zukunft vorschlägt. Mehrgeschossige Stadthaus-Solitäre führen in Musterwohnungen die Vorzüge innovativer Bauweisen und -technologien, flexibler Grundrisstypologien und alternativer Energieproduktion vor. Etwa der «Woodcube» des Büros Architekturagentur aus Stuttgart: Dank einer zu 100 Prozent aus unbehandelten Vollholzschichten konstruierten Fassade kann er hohe energetische und raumklimatische Vorzüge aufweisen und – wider Erwarten – einen ausgezeichneten Brandschutz.
Integrieren statt verdrängen
Das «Case Study #1» der Hamburger Fusi & Ammann Architekten verbindet ein loftartiges 45-Quadratmeter-Fertigteil-Modul aus Beton mit einem Innenschacht für Installationen zu einem intelligenten Baukastensystem, das grösstmögliche geschossübergreifende Kombinations- und Ausbauoptionen eröffnet – verhältnismässig preiswert zu haben auch für innerstädtische Baulücken. Das Showcase einer neuen Energieerzeugung ist das «BIQ» – ein aufwendiger, von einem Team um die Grazer Splitterwerk Architekten entwickelter Prototyp. An der Südfassade wurde dem Stadthaus eine zweite Fassadenhaut aus dünnen, wasserdurchströmten Glashohlelementen vorgesetzt. Algen werden darin gezüchtet. Die Fotosyntheseprozesse erzeugen Wärme, verbrennbare Biomasse und erwirken zudem eine prozessuale Veränderung der Farbgebung an der Fassade – Klimaschutz kann Fassaden auch im Positiven verändern!
Mehr als nur Leistungsschau, zeichnet sich die Hamburger IBA dadurch aus, auch über den Bestand grundlegend nachgedacht zu haben: Qualitätsverbesserung ohne Verdrängung war die Devise; ein sprunghaftes Ansteigen der Mieten sollte vermieden werden – auch wenn die Gegner der Gentrifizierung, die ihre Proteste vom Hamburger Gängeviertel aufs IBA-Gelände ausgedehnt haben, das naturgemäss anders sehen (und die IBA-Eröffnungsfeier wegen einer Kundgebung zu einer «Polizeischau» mutieren liessen). Als ein Vorzeigebeispiel der Bestandessicherung gilt das einige Busminuten von der S-Bahn-Station entfernte «Weltquartier». Dessen kommunal gehaltene Zeilenbauten sind im Dialog mit den Bewohnern durch eine Backsteinhaut, Balkonanbauten, aber auch durch eine behutsame öffentliche Platzgestaltung deutlich aufgewertet worden. Eine Gewerbebrache wurde zudem vom Hamburger Büro Dalpiaz + Gianetti in einen «Welt-Gewerbehof» verwandelt. Die am Entwurf beteiligten, überwiegend migrantischen Klein- und Kleinstbetriebe finden unter einer weitgespannten, transparenten Dachstruktur einen flexibel erweiterbaren Platzraum für wenig Miete. Mit Wärme und Strom versorgt wird das Weltviertel durch den «Energiebunker». Der freistehende Hochbunker aus dem Zweiten Weltkrieg wurde nach Entwürfen von Hegger Hegger Schleiff aus Kassel so entkernt und ertüchtigt, dass er einen gigantischen, von alternativen Wärmeenergien gespeisten Pufferspeicher über acht Etagen aufnimmt plus eine futuristisch über dem Dach schwebende Photovoltaikanlage. Ein öffentliches Café und Ausstellungsstationen holen den über 60 Jahre ungenutzten, lange einsturzgefährdeten Trutzbau in das stadtgesellschaftliche Bewusstsein zurück. Aus einsamem Brachland wird ein neues, ausstrahlendes Kraftzentrum – das bis heute bezugslos in der «Metrozone» ausharrende Wilhelmsburger Rathaus wird es ihm einmal danken.
[ Die IBA Hamburg dauert bis zum 3. November (www.iba-hamburg.de). Pocket-Katalog: Wege zur neuen Stadt. Ein Reiseführer zu den Elbinseln und den Projekten der IBA Hamburg. IBA Hamburg GmbH, Hamburg 2013. 240 S., € 8.95. – Dominik Schendel: Architekturführer Hamburg. DOM Publishers, Berlin 2013. 320 S., Fr. 33.60. ]
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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