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Eine Kaufhausfamilie mit Visionen
Die Geschichte des Grazer Warenhauses Kastner & Öhler ist jene einer ungewöhnlichen Familie. Sie führt die Firma seit 140 Jahren.
8. Juni 2013 - Colette M. Schmidt
Als sich der 24-jährige Buchhalter Carl Kastner und der 26-jährige Verkäufer Hermann Öhler im 19. Jahrhundert bei einer Firma in Troppau (heute Opava in Tschechien) kennenlernen, können beide nicht ahnen, dass ihre Namen auch noch fünf Generationen später für eines der ältesten Unternehmen Österreichs stehen werden. Kastner erbt 30.000 Gulden von seiner Großmutter und will sich damit selbstständig machen. Er fragt den Kollegen, ob dieser sein Geschäftspartner werden will. Die beiden gründen am 1. April 1873 in Troppau die Kurzwarenhandlung Kastner & Öhler - mitten in einer Wirtschaftskrise. Sie kaufen Waren, lassen Wäsche in Heimarbeit herstellen und bieten diese preisgünstig an. Ihre Zielgruppe: wenig Vermögende. Das Geschäftsmodell geht auf. Bis 1881 werden unter anderem Niederlassungen in Prag, Brünn, Arad und Wien gegründet.
In der Liebe war der überzeugte Sozialdemokrat Carl Kastner nicht ganz so wagemutig. Er soll er sich zwar „auf den ersten Blick“ in Julie Öhler, eine Schwester seines Geschäftspartners, der aus einer großen jüdischen Familie stammte, verliebt haben, doch - so erinnert sich 2008 für eine Ausstellung im Stadtmuseum seine Enkelin Daisy Bene an Familiengeschichten - „als er endlich damit herausgekommen ist, haben alle schon geglaubt, er meint die jüngere Schwester, weil er aus Schüchternheit nicht mit ihr, sondern mit ihrer kleinen Schwester geredet hat“. Schließlich finden die beiden zusammen. Durch die Eheschließung werden die Familien von Kastner und Öhler eine. Das Paar bekommt neun Kinder.
Ein Zufall namens Graz
1883 entdeckt Carl Kastner durch einen Zufall Graz. Mit dem Zug auf der Durchreise nach Zagreb aufgehalten, muss er einige Stunden in Graz verbringen. Nach einem Spaziergang vom Bahnhof in die Innenstadt ist er so begeistert von der Stadt, dass er sofort ein kleines Geschäft in der Sackstraße mietet, wo er Kurzwaren anbietet. Graz wird zum Hauptsitz des Unternehmens und der Familie und bleibt es.
2013: Martin Wäg, Ururenkel von Carl Kastner, sitzt in der Champagnerbar im ersten Stock des vor drei Jahren umgebauten Kaufhauses in der Sackstraße mit Blick auf die Rolltreppe in die große Halle. In den verschiedenen Etagen stehen dieser Tage grüne Figuren mit Fotos und alten Dokumenten. Sie bilden die Ausstellung Warenhaus im Museum anlässlich des 140-jährigen Bestehens des Unternehmens, eine Kooperation mit dem Universalmuseum Joanneum.
Die Familie scheut den Kontakt mit der Presse normalerweise. Bescheiden und unaufgeregt erzählt der 1965 geborene Wäg, der gemeinsam mit dem 1968 geborenen Thomas Böck, einem Ururenkel Hermann Öhlers, das Unternehmen leitet, dem STANDARD davon, wie in ihm selbst als Maturant die Idee reifte, Wirtschaft zu studieren und in der Firma zu arbeiten. Von seinem Vater sei er dazu nie gedrängt geworden, „nicht einmal als Wunsch formuliert“, betont Wäg, „in unserer Kindheit herrschte diesbezüglich vollkommene Freiheit“.
Auch in den Generationen vor Wäg und Böck waren stets Familienmitglieder im Unternehmen, das zu hundert Prozent im Besitz der Nachkommen von Carl Kastner und Hermann Öhler ist, am Ruder. Die in den 1970er-Jahren erdachte „Konstruktion mit Aufsichtsrat und Familienrat haben wir jetzt ein paar Jahrzehnte geübt, und sie funktioniert gut“, sagt Wäg.
Das Wort Familienunternehmen hat oft den Beigeschmack von klein gedachten unveränderlichen Strukturen, nicht gera- de von visionärem Wirtschaften. Doch schon die beiden Gründer probierten immer wieder Neues aus.
Der erste von vielen weiteren radikalen Umbauten des Stammhauses in der Grazer Sackstraße verwandelte das kleine Geschäft 1895 in ein mehrgeschoßiges Warenhaus mit großem Sortiment, Mode, Haushalts-, aber auch Sportartikel, wie es in Europa neu war. In die drei Etagen führte bereits ein Lift.
1901 begann mit Richard, Paul und Albert Kastner sowie Franz Öhler die zweite Generation im Haus zu arbeiten. Weitere Gebäude werden gekauft und 1913 erfolgt der nächste große Umbau durch das Architektenduo Fellner & Helmer, das auch das Wiener Volkstheater und die Grazer Oper baute. Auffällige Architektur zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Kaufhauses: 2003 baute das Architekturbüro Szyszkowitz-Kowalski eine aufsehenerregende Tiefgarage, während deren Bau historische Häuser temporär auf einer Pfahlkostruktion standen, 2010 sorgten die spanischen Architekten Fuensanta Nieto und Enrique Sobejano für den vorerst letzten Umbau samt spektakulärer Dachlandschaft und einer Caféterrasse, die zum touristischen Hotspot über der mittelalterlichen Dachlandschaft von Graz wurde.
Kastner & Öhler hatte auch den ersten Versandhandel Europas und bereits im Jahr 1912 rund 60.00 Versandkunden. Solche Meilensteine oder die Rolltreppe, für die 1959 Menschen eigens anreisten, sind bekannt.
Weniger bekannt sind die Sozialleistungen, die das Unternehmen viele Jahre vor anderen für seine Mitarbeiter einführte. 1903 installierte man einen Betriebsarzt, 1905 führte man Urlaubsgeld ein, fünf Jahre bevor das Gesetz wurde. 1906 beschloss man die Sonntagsruhe und 1908 den Ladenschluss ab 19 Uhr. 1914 wurde erstmals Weihnachtsgeld ausbezahlt. Alles freiwillig.
Die beiden Gründer seien eben „selbst einmal Angestellte gewesen“, bemerkt dazu Wäg, „sie wollten, dass es ihren Leuten gutgeht“.
Doch es kam eine Zeit, in der Visionen keinen Platz hatten. Am Tag vor dem Anschluss Österreichs im März 1938 bereitete ein Kommissär die Arisierung des Unternehmens vor. Doch die Familie konnte das Geschäft halten. Es wurde rasch an die Schwiegersöhne verkauft und Alpenlandkaufhaus genannt. Jene Familienmitglieder, die den Nazis als „Halbjuden“ oder Juden galten, flohen in letzter Minute.
Franz Öhler, Sohn des Gründers Hermann Öhler, ging nach Zagreb, wo man eine Filiale betrieb. Er engagierte sich von dort für die Befreiung Österreichs.
Die Architektin Margarete Schütte-Lihotzky, die ihren Widerstand gegen die Nazis - anders als ihr Grazer Kollege Herbert Eichholzer, ein Freund der Kaufhausfamilie - überlebt hatte, schrieb später in ihren Erinnerungen über Öhler: „Er war kein Kommunist, unterstützte aber den Widerstandskampf in Österreich, wo und wie er nur konnte. In Zagreb stellte er seine Adresse und seine Wohnung für unsere Arbeit zur Verfügung.“ Dort fanden Besprechungen der Widerstandskämpfer statt. Öhler wurde 1941 verhaftet. Er starb im KZ Buchenwald am Tag nach der Befreiung des Lagers.
Neubeginn nach dem Krieg
„Nach dem Krieg versammelten sich alle hier wieder“, erzählt Wäg, „das Geschäft war bis auf eine Etage leer, und sie begannen wieder damit, Waren aufzutreiben und Kunden zu finden.“
19 Uhr. Ladenschluss. Die Klimaanlage schaltet sich ab, die Rolltreppe steht. „Kein Problem, wir kommen auch runter“, nickt Wäg den letzten Mitarbeitern zu, die aus der großen Halle mit den kürzlich rekonstruierten goldenweißen Säulen heraufschauen. Dann räumt der Chef noch schnell die Kaffeetassen in der Bar weg.
In der Liebe war der überzeugte Sozialdemokrat Carl Kastner nicht ganz so wagemutig. Er soll er sich zwar „auf den ersten Blick“ in Julie Öhler, eine Schwester seines Geschäftspartners, der aus einer großen jüdischen Familie stammte, verliebt haben, doch - so erinnert sich 2008 für eine Ausstellung im Stadtmuseum seine Enkelin Daisy Bene an Familiengeschichten - „als er endlich damit herausgekommen ist, haben alle schon geglaubt, er meint die jüngere Schwester, weil er aus Schüchternheit nicht mit ihr, sondern mit ihrer kleinen Schwester geredet hat“. Schließlich finden die beiden zusammen. Durch die Eheschließung werden die Familien von Kastner und Öhler eine. Das Paar bekommt neun Kinder.
Ein Zufall namens Graz
1883 entdeckt Carl Kastner durch einen Zufall Graz. Mit dem Zug auf der Durchreise nach Zagreb aufgehalten, muss er einige Stunden in Graz verbringen. Nach einem Spaziergang vom Bahnhof in die Innenstadt ist er so begeistert von der Stadt, dass er sofort ein kleines Geschäft in der Sackstraße mietet, wo er Kurzwaren anbietet. Graz wird zum Hauptsitz des Unternehmens und der Familie und bleibt es.
2013: Martin Wäg, Ururenkel von Carl Kastner, sitzt in der Champagnerbar im ersten Stock des vor drei Jahren umgebauten Kaufhauses in der Sackstraße mit Blick auf die Rolltreppe in die große Halle. In den verschiedenen Etagen stehen dieser Tage grüne Figuren mit Fotos und alten Dokumenten. Sie bilden die Ausstellung Warenhaus im Museum anlässlich des 140-jährigen Bestehens des Unternehmens, eine Kooperation mit dem Universalmuseum Joanneum.
Die Familie scheut den Kontakt mit der Presse normalerweise. Bescheiden und unaufgeregt erzählt der 1965 geborene Wäg, der gemeinsam mit dem 1968 geborenen Thomas Böck, einem Ururenkel Hermann Öhlers, das Unternehmen leitet, dem STANDARD davon, wie in ihm selbst als Maturant die Idee reifte, Wirtschaft zu studieren und in der Firma zu arbeiten. Von seinem Vater sei er dazu nie gedrängt geworden, „nicht einmal als Wunsch formuliert“, betont Wäg, „in unserer Kindheit herrschte diesbezüglich vollkommene Freiheit“.
Auch in den Generationen vor Wäg und Böck waren stets Familienmitglieder im Unternehmen, das zu hundert Prozent im Besitz der Nachkommen von Carl Kastner und Hermann Öhler ist, am Ruder. Die in den 1970er-Jahren erdachte „Konstruktion mit Aufsichtsrat und Familienrat haben wir jetzt ein paar Jahrzehnte geübt, und sie funktioniert gut“, sagt Wäg.
Das Wort Familienunternehmen hat oft den Beigeschmack von klein gedachten unveränderlichen Strukturen, nicht gera- de von visionärem Wirtschaften. Doch schon die beiden Gründer probierten immer wieder Neues aus.
Der erste von vielen weiteren radikalen Umbauten des Stammhauses in der Grazer Sackstraße verwandelte das kleine Geschäft 1895 in ein mehrgeschoßiges Warenhaus mit großem Sortiment, Mode, Haushalts-, aber auch Sportartikel, wie es in Europa neu war. In die drei Etagen führte bereits ein Lift.
1901 begann mit Richard, Paul und Albert Kastner sowie Franz Öhler die zweite Generation im Haus zu arbeiten. Weitere Gebäude werden gekauft und 1913 erfolgt der nächste große Umbau durch das Architektenduo Fellner & Helmer, das auch das Wiener Volkstheater und die Grazer Oper baute. Auffällige Architektur zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Kaufhauses: 2003 baute das Architekturbüro Szyszkowitz-Kowalski eine aufsehenerregende Tiefgarage, während deren Bau historische Häuser temporär auf einer Pfahlkostruktion standen, 2010 sorgten die spanischen Architekten Fuensanta Nieto und Enrique Sobejano für den vorerst letzten Umbau samt spektakulärer Dachlandschaft und einer Caféterrasse, die zum touristischen Hotspot über der mittelalterlichen Dachlandschaft von Graz wurde.
Kastner & Öhler hatte auch den ersten Versandhandel Europas und bereits im Jahr 1912 rund 60.00 Versandkunden. Solche Meilensteine oder die Rolltreppe, für die 1959 Menschen eigens anreisten, sind bekannt.
Weniger bekannt sind die Sozialleistungen, die das Unternehmen viele Jahre vor anderen für seine Mitarbeiter einführte. 1903 installierte man einen Betriebsarzt, 1905 führte man Urlaubsgeld ein, fünf Jahre bevor das Gesetz wurde. 1906 beschloss man die Sonntagsruhe und 1908 den Ladenschluss ab 19 Uhr. 1914 wurde erstmals Weihnachtsgeld ausbezahlt. Alles freiwillig.
Die beiden Gründer seien eben „selbst einmal Angestellte gewesen“, bemerkt dazu Wäg, „sie wollten, dass es ihren Leuten gutgeht“.
Doch es kam eine Zeit, in der Visionen keinen Platz hatten. Am Tag vor dem Anschluss Österreichs im März 1938 bereitete ein Kommissär die Arisierung des Unternehmens vor. Doch die Familie konnte das Geschäft halten. Es wurde rasch an die Schwiegersöhne verkauft und Alpenlandkaufhaus genannt. Jene Familienmitglieder, die den Nazis als „Halbjuden“ oder Juden galten, flohen in letzter Minute.
Franz Öhler, Sohn des Gründers Hermann Öhler, ging nach Zagreb, wo man eine Filiale betrieb. Er engagierte sich von dort für die Befreiung Österreichs.
Die Architektin Margarete Schütte-Lihotzky, die ihren Widerstand gegen die Nazis - anders als ihr Grazer Kollege Herbert Eichholzer, ein Freund der Kaufhausfamilie - überlebt hatte, schrieb später in ihren Erinnerungen über Öhler: „Er war kein Kommunist, unterstützte aber den Widerstandskampf in Österreich, wo und wie er nur konnte. In Zagreb stellte er seine Adresse und seine Wohnung für unsere Arbeit zur Verfügung.“ Dort fanden Besprechungen der Widerstandskämpfer statt. Öhler wurde 1941 verhaftet. Er starb im KZ Buchenwald am Tag nach der Befreiung des Lagers.
Neubeginn nach dem Krieg
„Nach dem Krieg versammelten sich alle hier wieder“, erzählt Wäg, „das Geschäft war bis auf eine Etage leer, und sie begannen wieder damit, Waren aufzutreiben und Kunden zu finden.“
19 Uhr. Ladenschluss. Die Klimaanlage schaltet sich ab, die Rolltreppe steht. „Kein Problem, wir kommen auch runter“, nickt Wäg den letzten Mitarbeitern zu, die aus der großen Halle mit den kürzlich rekonstruierten goldenweißen Säulen heraufschauen. Dann räumt der Chef noch schnell die Kaffeetassen in der Bar weg.
Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard
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