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Utopie für einen Sommer
Der Standard

Im Hyde Park baute Architekt Sou Fujimoto eine temporäre Wolke aus tausenden Stäben. Zu Besuch im Serpentine Gallery Pavilion in London.

6. Juli 2013 - Frank Kaltenbach
Kleinkinder sind vom Hochklettern kaum abzuhalten. Ganze Familien lassen sich auf den Sitzstufen nieder, um auf der Höhe der Baumkronen ihren Lunch einzunehmen. Nur den Hunden macht die Erfahrung mit dem durchsichtigen Glasboden mehr Unbehagen als Vergnügen. Aber schließlich ist der 14. Serpentine Gallery Pavilion, der seit kurzer Zeit im Londoner Hyde Park steht, ja auch nicht als Klettergerüst, sondern primär als Kunstwerk gedacht. Dass die weiße Gittermatrix von den Besuchern wie ein Gebrauchsgegenstand in Besitz genommen wird, ist eher willkommener Nebeneffekt.

Bei Sonne ist das Vergnügen ungetrübt, nur wenn düstere Wolken aufziehen, fragt sich der eine oder andere: Ob uns die transparenten schuppenartigen Kunststoffteller im offenen Dach auch bei einem Wolkenbruch trockenhalten? Für Architekt Sou Fujimoto, der derzeit als Shootingstar durch die internationale Architekturszene geistert, stellt sich diese Frage nicht. „Primitive Future“ nennt er sein 2008 erschienenes Manifest, und ganz einfach scheint auch sein Pavillon aufgebaut: 20 Millimeter starke Stahlquerschnitte bilden mit 40 x 40 Zentimeter großen Modulen einen komplexen, dreidimensionalen Raster, der wie ein weißes Etwas mitten im Grünen steht. Mehr nicht.

Welch komplexen Raumstrukturen Fujimoto durch Verdichtung, Aufweitung und Auflösung damit erzeugt, ist faszinierend. Im Grundriss rund wie ein Maulwurfshügel, zeigt sich die abstrakte Konstruktion von jeder Seite und von jedem Standort im Inneren in einer gänzlich anderen Gestalt. Die Formen von Wolken wollte er abbilden. „Eine Stadt wie ein Wald“ nennt Fujimoto seine letzte Ausstellung. In Tokio baute er 2011 das House NA, ein Skelett aus spindeldünnen weißen Stahlrahmen ohne geschlossene Wände und Geschoßdecken. Mit dem Serpentine Gallery Pavilion, der am 8. Juni eröffnet wurde, kommt er seinem Thema der Durchdringung von Architektur und Natur noch wesentlich näher.

Auch in anderen Städten kehrt mit den langen Tagen und lauen Nächten die Zeit der Festivals wieder. Mit ihr tauchen vielerorts Gebilde einer ganz eigenen temporären, vorübergehenden Gattung der Architektur auf: die Pavillons. Leichtfüßig treten sie als Skelettbau aus flüchtigen Materialien auf, die genauso schnell wieder abgebaut werden können, wie sie errichtet wurden. In der Botanik nennt man Pflanzen, die in kürzester Zeit heranwachsen, blühen und absterben, Ephemere, die „Vergänglichen“. Pavillons sind demnach ephemere Architekturen.

Im Vergleich zu temporären Containerbauten, auf Baustellen oder als Ausweichbauten, und handelsüblichen Zelten für „Events“ sind die pragmatischen Funktionen eines Pavillons marginal. Seine Hauptaufgabe besteht darin, eine Idee, eine Vision zu vermitteln - oder wenigstens zu gefallen und zu empören. Ist ein Pavillon also ein Kunstwerk?

Jährlich ein ephemeres Werk

Diese Frage stellen Julia Peyton Jones, Direktorin der Londoner Serpentine Gallery und ihr Kodirektor Hans Ulrich Obrist jeden Sommer aufs Neue ihren Besuchern. Bereits zum 14. Mal beauftragten sie heuer einen der weltweit renommiertesten Architekten, vor dem klassizistischen Galeriegebäude nahe der Wasserfläche „Serpentine“ einen temporären Kunstbau für Diskussionen und Vorträge zu errichten.

Zu den strengen Spielregeln gehört, dass der Architekt bislang noch kein einziges Bauwerk auf den britischen Inseln realisiert hat. Mit bis zu 300.000 Besuchern in drei Monaten - das Stabwerk bleibt bis Ende Oktober bestehen - gehört der Serpentine Gallery Pavilion zu den am meisten frequentierten Architekturdestinationen weltweit.

Nur sechs Monate Bearbeitungszeit von der Auftragsvergabe bis zur Eröffnung bleiben dem Architekten. Dabei gibt es nicht einmal ein Budget. Sämtliche Kosten müssen von Sponsoren aufgebracht werden. Tragwerksplaner und Baufirmen arbeiten fürs eigene Renommee. Ohne Honorar. Rund 40 Prozent der Gesamtkosten können durch den Verkauf des Pavillons nach Ablauf der Sommersaison wieder eingespielt werden. Laut der Tageszeitung The Guardian lagen die Verkaufserlöse in den ersten Jahren zwischen 250.000 und 750.000 Pfund (290.000 bis 880.000 Euro). Doch allein die Abbaukosten der ephemeren Werke schlagen mit rund 150.000 Pfund (175.000 Euro) zu Buche, Tendenz steigend. Offiziell bekanntgegeben wurde ein Käufer nur ein einziges Mal, und zwar im Olympiajahr 2012. Es war der indische Stahlmilliardär Lakshmi N. Mittal. Die meisten Pavillons sind jedoch nach dem Verkauf aus der Öffentlichkeit verschwunden. Der eine oder andere Bau ist als Café oder Besucherzentrum in einer Kulturhauptstadt aufgetaucht oder steht bei ei- nem Immobilienmakler im Garten.

Wo liegt also der Sinn eines solchen Projekts? Das Konzept der Serpentine Gallery, die gleiche Aufgabe am gleichen Ort Jahr für Jahr einem anderen Architekten zu stellen, zeigt den Spielraum, den Architektur als Kunstdisziplin bietet. Und es veranschaulicht einem breiten Publikum, was Architektur bewirkt - im Gegensatz zur Kunst. Den Startschuss setzte Zaha Hadid 2000 mit einem prismatisch gefalteten Stoffzelt. Es folgte das Who's who der internationalen Stararchitektenschaft - von Álvaro Siza bis Peter Zumthor. Mal sind es filigrane Kuben, die als temporärer Pavillon herhalten, mal splitternde Metallscheiben, mal überdimensionale Holzbalken mitten im Park.

Auch einen mit Helium gefüllten Ballon gab es. Wie eine riesige Lichtkuppel hob und senkte er sich über dem runden Auditorium, wo Vorträge und Diskussionen über die Bühne gingen. Zudem: Spiegel, Vexierspiele zwischen Realität und Reflexion, knallrote Glasscheiben, schwarze Holzwände, die den englischen Garten aus dem Innenleben des Pavillons regelrecht abschotteten. Alles schon da gewesen.

2012 schließlich gruben die beiden Schweizer Architekten Herzog & de Meuron gemeinsam mit dem chinesischen Künstler Ai Wei Wei die Fundamente aller bisherigen Pavillons aus und verwandelten das Auditorium in eine düstere, unterirdische Korklandschaft, über der eine runde wassergefüllte Plattform balancierte, die aus der Vogelperspektive wie ein überdimensionaler zur Seite geschobener Kanaldeckel aussah.

Dagegen erscheint die Gitterskulptur des 41-jährigen Sou Fujimoto - er ist der bisher jüngste Architekt in dieser Reihe - als Wendepunkt. Keiner der bisher realisierten Entwürfe war geometrisch so streng gerastert und gleichzeitig doch so unverkrampft wie dieser. Vor allem aber hat er eine Kommunikationsmaschine geschaffen, eine Sozialskulptur für Erwachsene, aber auch für Kinder und Hunde. Die Leichtigkeit des Seins und die Harmonie von Natur und Architektur, so scheint es, müssen keine Utopie bleiben. Sie sind Realität - und sei es nur für einen Sommer.
[ Frank Kaltenbach (51) ist Redakteur der internationalen Architekturzeitschrift „Detail“ und lehrt an der Akademie der bildenden Künste in München. ]

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