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Suburb bei Wien
Geplant am Reißbrett nach US-Vorbild: der niederösterreichische Selbstbau-Pendler-Ort Strasshof. Eine Geschichte über Verbindungen zwischen Böhmen, Amerika und Österreich, jetzt von Judith Eiblmayr zusammengefasst in einem Buch.
15. November 2013 - Iris Meder
Wien darf nicht Chicago werden? Na ja – Strasshof aber schon! Was heute wie ein Witz der Geschichte anmutet, war damals, Anfang des 20. Jahrhunderts, durchaus ernst gemeint – und es sollte ein großes Ding werden: die „Garten- und Industriestadt“ Strasshof nämlich, „die größte und schönste Stadt Niederösterreichs“.
Was eine rechte österreichische Geschichte ist, das fängt natürlich in den böhmischen Ländern an. Göding, tschechisch Hodonín, gleich hinter der Grenze. Die Stadt, in der nicht nur der erste tschechoslowakische Staatspräsident, Tomáš Garrigue Masaryk, geboren wurde, sondern auch die erste Ingenieurin Österreichs, die Architektin Helene Roth, die der starken jüdischen Gemeinde Gödings entstammte. Und die Stadt der Zuckerfabrikanten- und Bauunternehmerfamilie Redlich.
Der Drang der Gödinger nach Amerika war groß: Masaryk heiratete 1878 bei einem USA-Aufenthalt die Amerikanerin Charlotte Garrigue, deren Nachnamen er seinem hinzufügte. Josef Redlich, studierter Jurist, lehrte seinerseits 1910 als erster Österreicher an zwei amerikanischen Universitäten. Eine Verwandtschaft bestand mit der Ölmagnaten-Dynastie der Fanto, weswegen auch die „Mährische Bergbau Ges.m.b.H.“ ihren Sitz in Göding hatte.
Auftritt Ludvik Odstrčil, Notar aus dem nahen Klobouk (Klobouky u Brna) und gut bekannt mit den Redlichs. Gemeinsam planten sie den ganz großen Coup: die Etablierung einer neuen Stadt, verkehrstechnisch optimal gelegen an der Kaiser-Ferdinands-Nordbahn und damit direkt an der Achse, die von Wien über Göding in die schlesischen Schwerindustriegebiete von Kattowitz und Ostrau führte. Dort hatte sich Odstrčil bei der „Mährischen Bergbau Ges.m.b.H.“ bereits früh genug Schürfrechte für Gelände nahe der Rothschild'schen Witkowitzer Eisenwerke gesichert, deren Abgeltung ihm nun beachtlichen Reichtum bescherte.
Gleich nach dem Bau des großen Verschubbahnhofs der Nordbahn im flachen, sandigen und nicht weiter aufregenden Strasserfeld hatte Odstrčil vor Ort einen Gutshof mit großen Ländereien erworben. Hier plante sein Sohn Johann, der in Wien Architektur studiert hatte, ab 1911 jene „Garten- und Industriestadt“, die den Unternehmern den Durchbruch bringen sollte, mithilfe der von Johann Redlichs Cousin Karl geführten Baufirma „Redlich & Berger“, die erstmals in Österreich amerikanische Großbaumaschinen einsetzte.
Der Masterplan der Siedlung beruhte auf einer rigiden Rasterstruktur in den Dimensionen von Gartenvororten Chicagos wie Oak Park. Inspiriert wurde sie offenbar von Ansichtskarten, die der in Illinois und Michigan lehrende Johann Redlich nach Hause geschickt hatte, wie nun die Architektin Judith Eiblmayr in ihrem jüngst erschienenen, hoch spannenden Buch zu Strasshof („Lernen vom Raster. Strasshof an der Nordbahn und seine verborgenen Pläne“) erläutert: Genormte Straßenbreiten von 24 beziehungsweise 16 Meter Breite mit Baumreihen, separiertem Trottoir und Blockbreiten von 80 Metern prägen das projektierte Ortsbild.
Die Wohnviertel sollten von Fabriken umrahmt werden – gedacht war nach Gödinger Vorbild an Zucker-, Petroleum- und Ziegelherstellung, die Arbeiterschaft sollte vornehmlich aus Mähren und Ungarn zuziehen. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges standen erste Bauten wie Kirche und Schule einsam auf dem parzellierten Gelände nahe dem Verschubbahnhof. Nach Kriegsende lag die mährisch-schlesische Schwerindustrie im Ausland. Das hochfliegende Konzept war hinfällig.
Die nicht mehr zu verkaufenden Bauparzellen wurden billig abgegeben, teilweise für den Bau öffentlicher Bauten verschenkt. Ludvik Odstrčil lebte in seinem neu gebauten Schlösschen im Strasserfeld, Josef Redlich zog es nach einem kurzen Intermezzo als österreichischer Finanzminister im Jahr 1918 wieder in die USA, wo er 1926 einen Lehrstuhl für vergleichendes Recht in Harvard erhielt.
Über der Grenze erblühte derweil die Erste Tschechoslowakische Republik unter dem Amerika-erfahrenen Tomáš Garrigue Masaryk. Vorbild war dabei die liberale Verfassung der USA. Unweit von Göding nahm in Zlín die Schuhindustrie einen enormen Aufschwung. Der mit Militärstiefeln im Krieg reich gewordene Amerika-begeisterte Firmengründer Tomáš Baťa orientierte sich in seiner radikalen Rationalisierung an den Produktionsabläufen der Ford-Werke. Die architektonischen und urbanistischen Leitpläne seiner Schuhfabriken beruhten auf einem überall rigide angewandten amerikanischen Norm-Stützenraster von 6,15 Metern.
Anders als die Achse Zlín–Amerika kam die von Strasshof nicht zum Tragen. Der Donau-Oder-Kanal, den man 1913 noch hoffnungsfroh in die Lagepläne der Stadt eingezeichnet hatte, wurde nicht weitergebaut. Einen zweifelhaften Aufschwung brachte die Zeit des Nationalsozialismus mit dem Bau eines Heizhauses, das heute das Eisenbahnmuseum beherbergt, und der Einrichtung eines Militärflugplatzes. Die Geschichte des zur gleichen Zeit eingerichteten Zwangsarbeiter-Durchgangslagers wurde vor Kurzem von Irene Suchy in einem weiteren, ebenso lesenswerten Strasshof-Buch nachgezeichnet („Strasshof an der Nordbahn. Die NS-Geschichte eines Ortes und ihre Aufarbeitung“, erschienen im Metroverlag, Wien).
Heute präsentiert sich der zentrumslose Ort, der mit seinen breiten Straßen noch immer eigentümlich „amerikanisch“ wirkt, als Selbstbau-Pendler-Suburb von Wien, die in der Weltgeschichte eine ebenso kurze wie unrühmliche kriminalistische Berühmtheit erlangte, bis sie von Amstetten verdrängt wurde. In Judith Eiblmayrs Buch zitierter Kommentar einer Anwohnerin: „Strasshof hatte eh schon immer den Ruf von Klein-Chicago.“
Was eine rechte österreichische Geschichte ist, das fängt natürlich in den böhmischen Ländern an. Göding, tschechisch Hodonín, gleich hinter der Grenze. Die Stadt, in der nicht nur der erste tschechoslowakische Staatspräsident, Tomáš Garrigue Masaryk, geboren wurde, sondern auch die erste Ingenieurin Österreichs, die Architektin Helene Roth, die der starken jüdischen Gemeinde Gödings entstammte. Und die Stadt der Zuckerfabrikanten- und Bauunternehmerfamilie Redlich.
Der Drang der Gödinger nach Amerika war groß: Masaryk heiratete 1878 bei einem USA-Aufenthalt die Amerikanerin Charlotte Garrigue, deren Nachnamen er seinem hinzufügte. Josef Redlich, studierter Jurist, lehrte seinerseits 1910 als erster Österreicher an zwei amerikanischen Universitäten. Eine Verwandtschaft bestand mit der Ölmagnaten-Dynastie der Fanto, weswegen auch die „Mährische Bergbau Ges.m.b.H.“ ihren Sitz in Göding hatte.
Auftritt Ludvik Odstrčil, Notar aus dem nahen Klobouk (Klobouky u Brna) und gut bekannt mit den Redlichs. Gemeinsam planten sie den ganz großen Coup: die Etablierung einer neuen Stadt, verkehrstechnisch optimal gelegen an der Kaiser-Ferdinands-Nordbahn und damit direkt an der Achse, die von Wien über Göding in die schlesischen Schwerindustriegebiete von Kattowitz und Ostrau führte. Dort hatte sich Odstrčil bei der „Mährischen Bergbau Ges.m.b.H.“ bereits früh genug Schürfrechte für Gelände nahe der Rothschild'schen Witkowitzer Eisenwerke gesichert, deren Abgeltung ihm nun beachtlichen Reichtum bescherte.
Gleich nach dem Bau des großen Verschubbahnhofs der Nordbahn im flachen, sandigen und nicht weiter aufregenden Strasserfeld hatte Odstrčil vor Ort einen Gutshof mit großen Ländereien erworben. Hier plante sein Sohn Johann, der in Wien Architektur studiert hatte, ab 1911 jene „Garten- und Industriestadt“, die den Unternehmern den Durchbruch bringen sollte, mithilfe der von Johann Redlichs Cousin Karl geführten Baufirma „Redlich & Berger“, die erstmals in Österreich amerikanische Großbaumaschinen einsetzte.
Der Masterplan der Siedlung beruhte auf einer rigiden Rasterstruktur in den Dimensionen von Gartenvororten Chicagos wie Oak Park. Inspiriert wurde sie offenbar von Ansichtskarten, die der in Illinois und Michigan lehrende Johann Redlich nach Hause geschickt hatte, wie nun die Architektin Judith Eiblmayr in ihrem jüngst erschienenen, hoch spannenden Buch zu Strasshof („Lernen vom Raster. Strasshof an der Nordbahn und seine verborgenen Pläne“) erläutert: Genormte Straßenbreiten von 24 beziehungsweise 16 Meter Breite mit Baumreihen, separiertem Trottoir und Blockbreiten von 80 Metern prägen das projektierte Ortsbild.
Die Wohnviertel sollten von Fabriken umrahmt werden – gedacht war nach Gödinger Vorbild an Zucker-, Petroleum- und Ziegelherstellung, die Arbeiterschaft sollte vornehmlich aus Mähren und Ungarn zuziehen. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges standen erste Bauten wie Kirche und Schule einsam auf dem parzellierten Gelände nahe dem Verschubbahnhof. Nach Kriegsende lag die mährisch-schlesische Schwerindustrie im Ausland. Das hochfliegende Konzept war hinfällig.
Die nicht mehr zu verkaufenden Bauparzellen wurden billig abgegeben, teilweise für den Bau öffentlicher Bauten verschenkt. Ludvik Odstrčil lebte in seinem neu gebauten Schlösschen im Strasserfeld, Josef Redlich zog es nach einem kurzen Intermezzo als österreichischer Finanzminister im Jahr 1918 wieder in die USA, wo er 1926 einen Lehrstuhl für vergleichendes Recht in Harvard erhielt.
Über der Grenze erblühte derweil die Erste Tschechoslowakische Republik unter dem Amerika-erfahrenen Tomáš Garrigue Masaryk. Vorbild war dabei die liberale Verfassung der USA. Unweit von Göding nahm in Zlín die Schuhindustrie einen enormen Aufschwung. Der mit Militärstiefeln im Krieg reich gewordene Amerika-begeisterte Firmengründer Tomáš Baťa orientierte sich in seiner radikalen Rationalisierung an den Produktionsabläufen der Ford-Werke. Die architektonischen und urbanistischen Leitpläne seiner Schuhfabriken beruhten auf einem überall rigide angewandten amerikanischen Norm-Stützenraster von 6,15 Metern.
Anders als die Achse Zlín–Amerika kam die von Strasshof nicht zum Tragen. Der Donau-Oder-Kanal, den man 1913 noch hoffnungsfroh in die Lagepläne der Stadt eingezeichnet hatte, wurde nicht weitergebaut. Einen zweifelhaften Aufschwung brachte die Zeit des Nationalsozialismus mit dem Bau eines Heizhauses, das heute das Eisenbahnmuseum beherbergt, und der Einrichtung eines Militärflugplatzes. Die Geschichte des zur gleichen Zeit eingerichteten Zwangsarbeiter-Durchgangslagers wurde vor Kurzem von Irene Suchy in einem weiteren, ebenso lesenswerten Strasshof-Buch nachgezeichnet („Strasshof an der Nordbahn. Die NS-Geschichte eines Ortes und ihre Aufarbeitung“, erschienen im Metroverlag, Wien).
Heute präsentiert sich der zentrumslose Ort, der mit seinen breiten Straßen noch immer eigentümlich „amerikanisch“ wirkt, als Selbstbau-Pendler-Suburb von Wien, die in der Weltgeschichte eine ebenso kurze wie unrühmliche kriminalistische Berühmtheit erlangte, bis sie von Amstetten verdrängt wurde. In Judith Eiblmayrs Buch zitierter Kommentar einer Anwohnerin: „Strasshof hatte eh schon immer den Ruf von Klein-Chicago.“
Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum
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