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Der Baum im Kopf
Straßenbäume sind wichtige Bestandteile einer gebrauchsfähigen und nachhaltigen Freiraumausstattung in Städten und Dörfern. Der Habitus der Bäume spiegelt das Handwerk der GärtnerInnen wider und steht im engen Zusammenhang mit deren „Baum im Kopf“.
30. März 1996 - Thomas Mellauner
Im Frühjahr 1995 stieß ich bei einem Aufenthalt in Katalonien in der Stadt Olot auf kandelaberartig gezogene, kopfbaumartig geschnittene Straßenbäume. In Olot, einer kleinen, von der Textilindustrie dominierten Provinzstadt, haben es die StadtgärtnerInnen zustandegebracht, ihre Platanen über zumindest hundert Jahre kontinuierlich zu pflegen und zwar in einer Qualität, daß sogar Schönbrunner GärtnerInnen den Hut ziehen würden, ja eigentlich vor Neid erblassen müßten. Die GärtnerInnen in Olot verstehen ihr Handwerk, das Prinzip ihres Baumschnittes ist die kontinuierliche etwa zwei- bis dreijährige Verjüngung der Bäume an zwei Schnittebenen, so halten sie die Schnittwunden klein und stabilisieren den gewünschten Habitus (Abb. 1, 2, 3). Wenn die GärtnerInnen in Olot einen Baum ersetzen, verstehen sie es, die Jungbaumerziehung (Aufastung, Formierung, ...) so durchzuführen, daß wieder ein kopfbaumartiger, kandelaberartiger Baum entsteht. Ich möchte hier den kopfbaumartig geschnittenen Baum nicht propagieren, ja vor Neuanlagen sogar heftig warnen, denn wenn er nicht mehr geschnitten wird, entwickelt er sich zur „Zeitbombe“, aber dazu später. Von Interesse ist aber die freiraumplanerische und handwerkliche Kundigkeit der GärtnerInnen, die es schaffen, das freiraumplanerische Konzept in die Realität umzusetzen. Das Konzept ist ein grünes, dichtes Dach in einer Höhe von 4,5 bis 8 Meter Höhe auf Plätzen und Promenaden. Die Umsetzung sind die 4,5 Meter hoch aufgeasteten, kandelaberartig gezogenen, kontinuierlich kopfbaumartig geschnittenen Platanen. Die GärtnerInnen haben von Anfang an „im Kopf“, wie ihr Produkt aussehen soll und wissen, wie sie dieses Produkt erreichen können. Keiner ihrer Arbeitsschritte von der Jungbaumerziehung bis zum stabilisierenden Schnitt ist zufällig oder willkürlich.
Roßkastanien in Baden
Im Rahmen meiner Diplomarbeit (vgl. MELLAUNER, 1995) erstellte ich eine Typologie der Badener Stadtbäume. Ein Ziel dieser Arbeit war es, der Entwicklung des Handwerks der StadtgärtnerInnen in verschiedenen Epochen auf die Spur zu kommen. In der Arbeit wurde deutlich, daß im Baden der 70er und beginnenden 80er Jahre die „GärtnerInnen des vergessenen Handwerks“ tätig waren. Alle Neupflanzungen dieser Zeit haben beispielsweise einen viel zu niedrigen Kronenansatz, Zwillen und sind charakterisiert durch eine völlig ungeeignete Baumartenwahl (Abb. 4). Durch ihre unsachgemäße Pflege wurden aber auch die zahlreichen, kandelaberartig gezogenen, kontinuierlich kopfbaumartig geschnittenen Bäume - hauptsächlich Roßkastanien - aus der Gründerzeit stark in Mitleidenschaft gezogen. Die Bäume wurden nicht mehr etwa alle drei Jahre zurückgeschnitten. Da das Astsystem aber auf das Astgewicht abgestimmt war, das der Baum in drei Jahren produzieren konnte, mußten die GärtnerInnen immer wieder die Zahl der steil aufragenden Äste reduzieren, um das Zusammenbrechen der Bäume zu verhindern. Die früher planvoll, kontinuierlich arbeitenden GärtnerInnen wurden zur Feuerwehr für Notfälle, die allerdings bei ihren Einsätzen den Baumbestand fortlaufend zerstörte (Abb. 5). Das beschriebene Phänomen - baumzerstörendes Handwerk - beschränkt sich nicht auf eine Kleinstadt wie Baden, sondern kann auch in Millionenstädten wie Wien oder Barcelona beobachtet werden. (Abb. 6) In Baden konnte ich bei meiner Typologie der Straßenbäume ab den späten 80er Jahren einen deutlichen Bruch feststellen. Die Baumartenwahl orientiert sich wieder an den gründerzeitlichen Vorbildern, auch wenn nun schmalkronigere Sorten gewählt werden. Die Aufwuchs- und Jungwuchspflege ist professioneller und durchdachter, und auch die alten durchgewachsenen Bäume werden teilweise wieder verjüngt. Interessanterweise fällt dieser Zuwachs an professionellem Umgang mit Bäumen mit einem Wechsel an der Spitze des Stadtgartenamtes zusammen, der 1986 erfolgt ist. Es scheint, daß die jetzigen StadtgärtnerInnen Badens wieder einen „Baum im Kopf“ haben.
Eichen in Kassel
Der „Baum im Kopf“ ist das Bild eines alten, gesunden Stadtbaumes, alle Pflegemaßnahmen müssen auf das gewünschte Endprodukt abgestimmt sein, dadurch wird die gärtnerische Arbeit zielorientiert und verliert alle Beliebigkeit. Daher sind für mich die GärtnerInnen aus Olot auch ein brauchbares Lernbeispiel, sie verstehen ihr Produkt herzustellen. Da der arbeitsaufwendige Schnitt der kopfbaumartigen Bäume aber nicht zu rechtfertigen ist, müssen zukünftige Stadtbäume an einem anderen Baumhabitus orientiert sein. (Bestehende kopfbaumartige Bäume müssen aber wieder kontinuierlich geschnitten werden) Profunde Arbeiten zum Thema Pflanzung und Erziehung alterungsfähiger Stadtbäume finden sich bei VertreterInnen der Kasseler Schule. Deren reflektierte Erfahrungen stammen vor allem aus der Aktion „7000 Eichen“ von Joseph Beuys. Der „Baum im Kopf“ hat nach ihren Erkenntnissen einen durchgehenden Leittrieb, der etwa 6 Meter aufgeastet ist (bei starkwüchsigen Baumarten) und im Alter keine Arbeit mehr macht. Die Jungwuchspflege dieses Baumes dauert etwa zehn Jahre, wobei der Baum kontinuierlich aufgeastet wird. Nach der Jungwuchspflege ist an den Bäumen nichts mehr zu beschneiden, sie werden am besten in Ruhe gelassen (Abb. 7) (vgl. GRANDA ALONSO, 1992 und 1993, HÜLBUSCH, 1994).
Bäume mit und ohne Krankengeschichten
Beim Durchblättern von Artikeln zum Thema Baumpflege in einschlägigen Zeitschriften fällt auf, wie gern sich die AutorInnen mit dem kranken Baum beschäftigen, fachkundige Ratschläge zur Pflanzung und Jungbaumerziehung sind absolute Mangelware. Es scheint fast, als ob sich die SpezialistInnen wünschten, daß jede Baumpflanzung möglichst schnell ein Pflegefall würde. Auch die in größeren Städten so beliebten Baumkataster beschäftigen sich zu einem Großteil mit der präzisen Aufnahme kranker Stadtbäume. Ich vermute, daß die große Datenmenge - für Graz gibt es beispielsweise etwa 19. 000 „Krankengeschichten“ - die Stadtgartenämter eher lähmt als handlungsfähig macht. In Olot wird das Handwerk von GärtnerIn zu GärtnerIn weitergegeben, der „Baum im Kopf“ wird von den Nachfolgenden verstanden. In Baden beginnen die StadtgärtnerInnen ihren alten Bestand vernünftig zu verjüngen. Ob in einer Stadt nachhaltig mit Bäumen umgegangen wird, hängt also in erster Linie von den GärtnerInnen ab, die die Arbeit am Baum durchführen. In seinem Vortrag über „Bäume in der Stadt“ erläuterte Karl Heinrich Hülbusch: „Ich muß die Gärtner zu klugen Arbeitern machen, ich muß die Gärtner selbständig machen, damit sie Entscheidungen treffen, die kontinuierlich sind“ (HÜLBUSCH, 1994). Die GärtnerInnen handlungsfähig und kompetent zu machen, sehe ich als eine Aufgabe der Landschaftsplanung, denn - ein Kreis am Plan macht noch keinen Schatten.
Literatur: GRANDA ALONSO, M. E. (1992): Wie wachsen Bäume ins Holz. Unveröffentliches Manuskript. Kassel. GRANDA ALONSO, M. E. (1993): Was Bäumchen nicht lernt, lernt Baum nimmermehr. Kassel. HÜLBUSCH, K. H. (1994): Bäume in der Stadt, Vortragsmitschrift von Bednar B., Mayrhofer R., In: Zolltexte Nr. 1/1994. S. 40. MELLAUNER, T. (1995): Kandelaber, Kopf und Kugel. Der Umgang mit Bäumen am Beispiel Baden/Wien. Wien. SHIGO, A. L. (1990): Die neue Baumbiologie. Braunschweig.
Roßkastanien in Baden
Im Rahmen meiner Diplomarbeit (vgl. MELLAUNER, 1995) erstellte ich eine Typologie der Badener Stadtbäume. Ein Ziel dieser Arbeit war es, der Entwicklung des Handwerks der StadtgärtnerInnen in verschiedenen Epochen auf die Spur zu kommen. In der Arbeit wurde deutlich, daß im Baden der 70er und beginnenden 80er Jahre die „GärtnerInnen des vergessenen Handwerks“ tätig waren. Alle Neupflanzungen dieser Zeit haben beispielsweise einen viel zu niedrigen Kronenansatz, Zwillen und sind charakterisiert durch eine völlig ungeeignete Baumartenwahl (Abb. 4). Durch ihre unsachgemäße Pflege wurden aber auch die zahlreichen, kandelaberartig gezogenen, kontinuierlich kopfbaumartig geschnittenen Bäume - hauptsächlich Roßkastanien - aus der Gründerzeit stark in Mitleidenschaft gezogen. Die Bäume wurden nicht mehr etwa alle drei Jahre zurückgeschnitten. Da das Astsystem aber auf das Astgewicht abgestimmt war, das der Baum in drei Jahren produzieren konnte, mußten die GärtnerInnen immer wieder die Zahl der steil aufragenden Äste reduzieren, um das Zusammenbrechen der Bäume zu verhindern. Die früher planvoll, kontinuierlich arbeitenden GärtnerInnen wurden zur Feuerwehr für Notfälle, die allerdings bei ihren Einsätzen den Baumbestand fortlaufend zerstörte (Abb. 5). Das beschriebene Phänomen - baumzerstörendes Handwerk - beschränkt sich nicht auf eine Kleinstadt wie Baden, sondern kann auch in Millionenstädten wie Wien oder Barcelona beobachtet werden. (Abb. 6) In Baden konnte ich bei meiner Typologie der Straßenbäume ab den späten 80er Jahren einen deutlichen Bruch feststellen. Die Baumartenwahl orientiert sich wieder an den gründerzeitlichen Vorbildern, auch wenn nun schmalkronigere Sorten gewählt werden. Die Aufwuchs- und Jungwuchspflege ist professioneller und durchdachter, und auch die alten durchgewachsenen Bäume werden teilweise wieder verjüngt. Interessanterweise fällt dieser Zuwachs an professionellem Umgang mit Bäumen mit einem Wechsel an der Spitze des Stadtgartenamtes zusammen, der 1986 erfolgt ist. Es scheint, daß die jetzigen StadtgärtnerInnen Badens wieder einen „Baum im Kopf“ haben.
Eichen in Kassel
Der „Baum im Kopf“ ist das Bild eines alten, gesunden Stadtbaumes, alle Pflegemaßnahmen müssen auf das gewünschte Endprodukt abgestimmt sein, dadurch wird die gärtnerische Arbeit zielorientiert und verliert alle Beliebigkeit. Daher sind für mich die GärtnerInnen aus Olot auch ein brauchbares Lernbeispiel, sie verstehen ihr Produkt herzustellen. Da der arbeitsaufwendige Schnitt der kopfbaumartigen Bäume aber nicht zu rechtfertigen ist, müssen zukünftige Stadtbäume an einem anderen Baumhabitus orientiert sein. (Bestehende kopfbaumartige Bäume müssen aber wieder kontinuierlich geschnitten werden) Profunde Arbeiten zum Thema Pflanzung und Erziehung alterungsfähiger Stadtbäume finden sich bei VertreterInnen der Kasseler Schule. Deren reflektierte Erfahrungen stammen vor allem aus der Aktion „7000 Eichen“ von Joseph Beuys. Der „Baum im Kopf“ hat nach ihren Erkenntnissen einen durchgehenden Leittrieb, der etwa 6 Meter aufgeastet ist (bei starkwüchsigen Baumarten) und im Alter keine Arbeit mehr macht. Die Jungwuchspflege dieses Baumes dauert etwa zehn Jahre, wobei der Baum kontinuierlich aufgeastet wird. Nach der Jungwuchspflege ist an den Bäumen nichts mehr zu beschneiden, sie werden am besten in Ruhe gelassen (Abb. 7) (vgl. GRANDA ALONSO, 1992 und 1993, HÜLBUSCH, 1994).
Bäume mit und ohne Krankengeschichten
Beim Durchblättern von Artikeln zum Thema Baumpflege in einschlägigen Zeitschriften fällt auf, wie gern sich die AutorInnen mit dem kranken Baum beschäftigen, fachkundige Ratschläge zur Pflanzung und Jungbaumerziehung sind absolute Mangelware. Es scheint fast, als ob sich die SpezialistInnen wünschten, daß jede Baumpflanzung möglichst schnell ein Pflegefall würde. Auch die in größeren Städten so beliebten Baumkataster beschäftigen sich zu einem Großteil mit der präzisen Aufnahme kranker Stadtbäume. Ich vermute, daß die große Datenmenge - für Graz gibt es beispielsweise etwa 19. 000 „Krankengeschichten“ - die Stadtgartenämter eher lähmt als handlungsfähig macht. In Olot wird das Handwerk von GärtnerIn zu GärtnerIn weitergegeben, der „Baum im Kopf“ wird von den Nachfolgenden verstanden. In Baden beginnen die StadtgärtnerInnen ihren alten Bestand vernünftig zu verjüngen. Ob in einer Stadt nachhaltig mit Bäumen umgegangen wird, hängt also in erster Linie von den GärtnerInnen ab, die die Arbeit am Baum durchführen. In seinem Vortrag über „Bäume in der Stadt“ erläuterte Karl Heinrich Hülbusch: „Ich muß die Gärtner zu klugen Arbeitern machen, ich muß die Gärtner selbständig machen, damit sie Entscheidungen treffen, die kontinuierlich sind“ (HÜLBUSCH, 1994). Die GärtnerInnen handlungsfähig und kompetent zu machen, sehe ich als eine Aufgabe der Landschaftsplanung, denn - ein Kreis am Plan macht noch keinen Schatten.
Literatur: GRANDA ALONSO, M. E. (1992): Wie wachsen Bäume ins Holz. Unveröffentliches Manuskript. Kassel. GRANDA ALONSO, M. E. (1993): Was Bäumchen nicht lernt, lernt Baum nimmermehr. Kassel. HÜLBUSCH, K. H. (1994): Bäume in der Stadt, Vortragsmitschrift von Bednar B., Mayrhofer R., In: Zolltexte Nr. 1/1994. S. 40. MELLAUNER, T. (1995): Kandelaber, Kopf und Kugel. Der Umgang mit Bäumen am Beispiel Baden/Wien. Wien. SHIGO, A. L. (1990): Die neue Baumbiologie. Braunschweig.
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