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Städtische Freiräume – Anmerkungen über die Interpretation von Freiheit
Funktionalistische Spezialisierung versus Polyvalenz und Offenheit. Überlegungen zur Lesbarkeit von Freirämen
30. März 1996 - Karin Raith
Unbehagen im Sitzungssaal: Da ist es dem Kontrahenten doch tatsächlich gelungen, den besten Platz am Verhandlungstisch zu erobern. Mit seiner Körperfülle, mit weit abgespreizten Ellbogen und seinen persönlichen Requisiten besetzt er mehr Tischfläche und zugehöriges Hinterland als ihm anteilsmäßig in der Konferenzrunde zustünde. Auch akustisch beherrscht er den Raum. Es hat den Anschein, als wäre ein Verlust an geschäftlichem Terrain an ihn nicht mehr zu vermeiden...
Körpersprache wird heute in einschlägigen Kursen als Bestandteil der Verhandlungstaktik trainiert. Man lernt sie zu deuten und in geschäftlichen Revierkämpfen, wie dem gerade skizzierten, zum eigenen Vorteil einzusetzen. Wo immer es in Verdrängungswettbewerben um Macht- und Einflußsphäre, um Besitzansprüche und Eigentumsrechte geht - in der Politik, in der Wirtschaft, im alltäglich-zwischenmenschlichen Bereich - gibt es auch diese speziellen Rituale, die den Konflikt gleichzeitig auf einer symbolischen Ebene ablaufen lassen. In unserem konkreten Beispiel wird diese symbolische Ebene durch die Vorgänge an einem Verhandlungstisch dargestellt, dessen Fläche selbst wieder begrenzt ist. Der reale umkämpfte Raum wird also durch einen anderen, metaphorischen Raum repräsentiert und die reale Verschiebung der Machtverhältnisse naturgetreu darin abgebildet. Eine Art von kulturell codierter Sprache ist auch die Architektur. Das Bebauen eines Territoriums kann als ein Signal des Besitzergreifens und Verdrängens von Konkurrenten gedeutet werden.
Besetzt! Die architektonische Aneignung
Die Architekturgeschichte offenbart uns ein erstaunlich ausgefeiltes Vokabular dieser Zeichensprache. Dabei werden vor allem die topologisch besonderen Orte der beanspruchten Fläche akzentuiert: der Rand als Begrenzung (Fassade, Umzäunung, Stadtmauer etc.), die Mitte mit einem repräsentativen, selbstdarstellenden Bauwerk bzw. Bauelement. Während der Rand dazu dient, sich von Anderem abzugrenzen und zu unterscheiden und daher besonders sorgfältige Gestaltung an jenen Punkten erfordert, wo die Begrenzung durchlässig wird und einen Austausch erlaubt (bei Eingängen, Portalen, Stadttoren etc.), ist die Mitte in der Regel als Bedeutungsmitte zu sehen. Hier scheint die Vertikalität der zentralen Bebauung und das Abstandhalten zur Peripherie eine gewisse psychologische Rolle zu spielen, nämlich im Sinne einer Hierarchie und der Wahrung von Distanz. Das Konzentrieren der Baumassen in der Mitte und das Freilassen der Randzone trägt in sich auch die Option, den Besitz umschreiten zu können und damit den Anspruch darauf beliebig oft rituell erneuern und bekräftigen zu können. (Dieser Aspekt kann auch als Grund für die hartnäckige Beliebtheit des freistehenden Einfamilienhauses interpretiert werden: Es wird nämlich immer wieder in Befragungen als Vorzug dieser Wohnform erwähnt, daß man „um sein Haus herumgehen kann“, sein Eigentum sinnlich erfahren kann, statt sich ausschließlich auf dürre Eintragungen im Grundbuch verlassen zu müssen. Gesellschaftliche Hierarchien und ökonomische Machtverhältnisse bildeten sich in der baulichen Höhenentwicklung ab, indem die privilegierten Punkte und höchsten Positionen von den Mächtigsten bevorzugt wurden. Daran hat sich bis heute nichts Wesentliches verändert. Die multinationalen Konzerne bauen Wolkenkratzer; das ORF-Zentrum thront als „Medienfestung“ (vgl. Achleitner) auf dem Wiener Küniglberg.
Interessanterweise läßt sich das Phänomen baulicher Inbesitznahme aber auch an den heutigen Freiflächen beobachten. Diese Flächen sind keineswegs frei, denn bauliche Abgrenzungen, Hindernisse und Festschreibungen sind im Übermaß vorhanden. Betrachten wir zwei unterschiedliche urbane Freiraumsituationen:
Die städtische Straße
Fehlen die wohlvertrauten motorisierten Fahr- oder Stehzeuge einmal im Straßenbild, so regiert der Horror vacui. Das Vollramschen von Fußgängerzonen mit Blumencontainern, Brünnlein, überdesignten Bänken und Papierkörben und sonstigem „Schmuck“ kann nur als Verhaltensmuster gedeutet werden, das dem Setzen von Duftmarken gleicht: Die Elemente der Straßenmöblierung sind Eroberungszeichen der sich mittels „Gehwerkzeugen Fortbewegenden“ gegenüber den „Auto- Mobilen“. Dabei kann von Möbeln, also beweglichen temporären Einrichtungen, in diesen Fällen oft keine Rede sein. „Echtes“ Straßenmobiliar war jedoch immer Bestandteil des öffentlichen städtischen Raumes. Es eroberte kurzfristig öffentliche Flächen, ermöglichte eine andersartige Nutzung und gab sie dann wieder frei. Dazu zählten die Stühle und Sonnenmarkisen der Straßencafes oder ihre Wiener Variante, die Schanigärten („Schani, trag den Garten hinaus!“), die Marktstände, die mobilen Kiosks von Schaustellern und fliegenden Verkäufern, die mit Kreide aufgemalten Fußballtore und vieles mehr. Heute hat es jedoch den Anschein, als müßte das Beladen des öffentlichen Raumes mit materiellen Objekten den Verlust an Bedeutungsinhalten kompensieren. Denn leider läßt es sich nicht leugnen: Waren die Straße und der städtische Platz einmal gleichzeitig Verkehrsfläche, Einkaufsort, Nachrichtenbörse, Spielwiese, Laufsteg und Forum für Politik, Tratsch und Seitenblicke, so werden die meisten dieser überlieferten Aufgaben heute viel effizienter von separaten spezialisierten Einrichtungen erfüllt.
Der Kinderspielplatz
Nun ist es schon fragwürdig genug, Spielflächen abseits der Alltagsräume der Erwachsenen schaffen zu müssen und damit vieles zu erschweren, was für Kinder wichtig ist: die Teilnahme an den Tätigkeiten der Erwachsenen, das informelle Sammeln von Erfahrungen, das beiläufige Spiel, das im Tagesablauf eingebettet ist. Primäre Aufgabe der Kinderspielplätze in der Stadt scheint es heute zu sein, grüne Oasen einzurichten, die Kinder mit Frischluft und Naturerfahrungen beliefern, die die Straße nicht bereitstellen kann. Es müssen Reservate geschaffen werden, wo Kinder - ich will es einmal überspitzt formulieren - vor dem übermächtigen motorisierten Verkehr und dem ebenso allgegenwärtigen (für Kleinkinder gefährlichen) Hundekot in Schutzhaft genommen werden. Die Spielflächen sind oft eingefriedet und die Spielgeräte haben hier, abgesehen von ihrem tatsächlichen Gebrauchswert, Signalfunktion. Sie markieren das Hoheitsgebiet des Kindes. Da die „normalen“ städtischen Straßen für das Spiel untauglich geworden sind, und in der Regel nur diese winzigen spezialisierten Flächen dafür zur Verfügung stehen, müssen sie eben mit Inventar vollgestopft werden, um die große Zahl an spiel- und bewegungshungrigen Kindern beschäftigen zu können. Aus Platzmangel, Sicherheits- und Haftungsgründen ist dann auch nur mehr eine relativ schmale Palette an standardisierten Geräten möglich. Mit anderen Worten: auch das Spiel wird funktionalistisch determiniert.
Festgelegt! Die funktionalistische Spezialisierung
Die Tendenz der aktuellen Planung zur Fragmentierung von Territorien in Einzelflächen mit spezialisierten Einzelnutzungen ist unverkennbar und durch die Eigengesetzlichkeiten des zur Verfügung stehenden Planungsinstrumentariums bedingt. Das bunte Mosaik unserer Flächenwidmungspläne mit scharf gegeneinander abgesetzten verschiedenfarbigen Flächen spiegelt sinnfällig diese Zuteilung des Bodens an einzelne, möglichst klar definierte Nutzungen. Schattierungen, verlaufende Grenzen, Farbmischungen kommen nicht vor. Der Verdrängungswettkampf der Interessen, der sich hinter den Kulissen der Stadtplanung abspielt, wird mit dem Bebauungsplan zu einem vorläufigen Waffenstillstand gebracht. Man sucht zukünftige Entwicklungen abzuschätzen, Prozesse zu lenken und das erwünschte Ergebnis festzuschreiben. Insofern gleicht dieser Plan der Momentaufnahme einer hypothetischen Situation, die in dieser Form wahrscheinlich nie eintritt. Da das zur Verfügung stehende Territorium nicht vermehrt werden kann, die verschiedenen Nutzungsarten jedoch zunehmen und sich weiter spezialisieren, führt diese Planungsstrategie zu immer kleinräumigerer Segmentierung. Die Einzelflächen für die jeweiligen Einzelinteressen sind immer zwangsläufig zu knapp bemessen, Expansion über die Grenzen des zugeteilten Reviers hinaus, Schwerpunktverlagerungen oder überhaupt Nutzungsänderungen sind aber durch die Unflexibilität der Festlegungen extrem erschwert.
Sind InLineSkaterInnen FußgängerInnen?
Im dichtverbauten Stadtgebiet sind bekanntlich Territorien besonders hart umkämpft. Nun gibt es zwar die Regulative der Raumplanung, um Zonen allgemeinen Interesses festzulegen und vor der expansiven Tendenz anderer, gewinnträchtigerer Verwertung zu schützen, doch Freiflächen befinden sich in einer eigentümlich schwachen Position. Schon durch die Raumordnungsgesetze werden Freiflächen d.h. Grünland im Flächenwidmungsplan als „Restflächen“ diskriminiert, indem alles, was nicht als Bauland oder Verkehrsflächen gewidmet wird, als Grünland übrig bleibt. Neben den vielen Gründen, die in der wirtschaftlichen Dynamik und den Eigentümlichkeiten der Planungspraxis liegen, gibt es vielleicht noch einen weniger beachteten: Freiräume mitten in der Stadt, die Kindern wie Erwachsenen gleichermaßen Spaß machen, weil sie anregend, interessant und abwechslungsreich sind, weil sie vielfältige Aktivitäten erlauben und stimulieren, weil sie Kontakte entstehen lassen, sind von Natur aus funktionell wenig spezialisiert. Gerade aber die funktionelle Mehrdeutigkeit macht diese Flächen so schwer handhabbar, denn unsere aktuellen Instrumente der Planung und Administration verlangen exakte Abgrenzung, präzise Definition, eindeutigen rechtlichen Status. (Quizfrage: Sind InLineSkaterInnen FußgängerInnen? Oder sollen wir einen zusätzlichen Fahrstreifen auf dem Gehsteig neben dem Radweg und dem Streifen der SkateboarderInnen für sie vorsehen?) Auf der Maßstabsebene der Parzelle sind Freiräume leider oft Nebenprodukte architektonischer Planung: das Abstandsgrün des sozialen Wohnbaus, die Brachen zwischen Auto- und Müllcontainerstellplätzen, Flächen, für deren nachträgliche „Gestaltung“ dann kein Geld mehr bleibt. Diese Kategorie von Freiflächen scheint keine beliebte Entwurfsaufgabe zu sein trotz, oder gerade wieder wegen der Vielfältigkeit der Anforderungen. Sie bleibt daher immer ein topologisches Aschenbrödel, das man zwar braucht, um die untergeordneten Aufgaben zu erfüllen (die Erschließung sicherzustellen, die vorgeschriebene Belichtung zu gewährleisten), das man aber nicht schätzt, weil ihm in seiner Funktion als Erholungsfläche der Glanz des Golfplatzes oder als Verkehrsfläche die Effizienz der Autobahn fehlt.
Mehrfache Lesbarkeit
Die Vielfältigkeit und Offenheit für unterschiedlichste Nutzungen scheint die erste Bedingung für die Attraktivität von Freiräumen zu sein, ihre Gestaltqualität eine zweite. Die „G’stetten“ zum Beispiel sind zwar marginale Bereiche aus dem Blickwinkel der Erwachsenen und in der Geographie der Städte, aber bedeutende Refugien der Kindheit. Diese blinden Flecken der Planung an der Peripherie und in Baulücken, die sich heute aufgrund der Bodenverknappung nur mehr in Form wilder Mülldeponien, Industriebrachen oder Restflächen zwischen Supermarktparkplatz und Autobahnabfahrt finden (also mitunter auch keine geeigneten Spielorte sind), können sich aber auch unerwartet hinter der gepflegten Fassade der städtischen Parks auftun. Ich erinnere mich noch mit Freude an die geheimnisvolle und naturbelassene Welt voll von Getier und Kletterbäumen und Rohstoffen für allerlei Abenteuer, die sich eröffnete, wenn man die äußere grüne Membran der exakt zurechtgeschnittenen Alleen im Schönbrunner Schloßpark durchstieß. Da gibt es also die Eleganz des barocken Parks und die Schönheit des „Wilden“, zwei konträre Gestaltqualitäten dicht beieinander. Warum ziehen Kinder im Zweifelsfalle das Dickicht mit den hohlen Bäumen, den Lianen, den Wassertümpeln und einem Haufen Gerümpel einem adretten Spielplatz mit Betonröhre, Kletterseil und Springbrunnen vor? Vermutlich weil die Räume und Objekte, die sich im Dickicht finden, weder für ihren Gebrauch eindeutig festgelegt noch in irgendeiner Weise „fertig“ sind. Sie verlangen geradezu danach, ergänzt, verstärkt, verändert, interpretiert, akzentuiert etc. zu werden und wunderbarerweise wird das Material, um solches zu tun, vom Gebüsch gleich mitgeliefert. Wir haben daher auch Mühe, diese Dichte an Bewegungsanreizen, haptischen Erlebnissen und sogar Lichtstimmungen in einem künstlichen Ambiente zu reproduzieren. Am allerschwierigsten ist es aber, einerseits Gestaltprägnanz herzustellen und gleichzeitig Freiheiten des Gebrauchs und der Interpretation zu erhalten. Hier ist also von Qualitäten die Rede, die sich nicht messen oder funktionell definieren lassen. Sie sind aber wesentlich für die Vitalität eines Freiraumes, einer Straße, und gleichermaßen für die eines Gebäudes, einer Stadt. Es geht um Mehrdeutigkeit, an der sich die Fantasie entfalten kann, um Offenheit von Strukturen gegenüber der Nutzung und Interpretation, um Veränderbarkeit, die nachträgliche Gestaltung zuläßt. Und es geht auch darum, den Räumen (wenigstens temporär) Freiheiten zu lassen, d.h. sie nicht von vornherein mit Besitzansprüchen und Funktionen zu besetzen.
Bauliche Hüllen so perfekt wie Maßkleidung
Der Slogan „form follows function“, der um die Jahrhundertwende von dem amerikanischen Architekten Louis Sullivan in die Welt gesetzt wurde, um entwerferische Hilfestellung und Orientierung in der Beliebigkeit der Stile zu leisten, führte in den folgenden Jahrzehnten unter dem Gesichtspunkt profitablen Bauens zu einer reduktionistischen Planungsauffassung. Erstens verlagerte sich die Aufmerksamkeit mehr und mehr auf das „Positivistische“ der Funktion, also die quantifizierbare und exakt definierbare Zweckbestimmung von Gebäuden, während die Schaffung und Symbolisierung von Sinnzusammenhängen, die Darstellung von Bedeutungen - also Meta-Funktionen der Architektur - in den Hintergrund traten. Zweitens erwies sich in unserer Zeit des raschen Wandels gesellschaftlicher und ökonomischer Verhältnisse die Spezialisierung der Funktionen mit ihrer Tendenz zur immer genaueren Erfüllung von Einzelanforderungen als hinderlich und einschränkend. Denn es hat wenig Sinn, bauliche Hüllen so perfekt wie Maßkleidung anpassen zu wollen. Ein zu enges Korsett kann im Fall veränderter Lebensumstände nur mehr gesprengt werden. Gerade unter den Wohnbauten der letzten Jahrzehnte gibt es Beispiele extremer Unflexibilität: Gebäude mit genauen Raumwidmungen, die „zu getreu“ den momentanen Bedarfserhebungen folgend, jeder Funktion einen eigenen, knapp bemessenen Platz zuwiesen, und überdies noch aus Beton errichtet wurden, einem Material, das sich wie kein zweites dem Umbau widersetzt. In einer Zeit, da überall und zu Recht „Nachhaltigkeit“ gefordert wird, ist aber jedes Gebäude, das bereits nach kurzer Nutzungsdauer unbrauchbar wird, eine ökologische Schande.
Polyvalenz und Offenheit
Und doch wurden in den historischen Städten jahrhundertelang Strukturen geschaffen, die für den jeweiligen Zweck zum Zeitpunkt ihrer Entstehung angemessen waren, aber auch heute noch für Nutzungen und Ansprüche geeignet sind, die damals unabsehbar waren. Diese Flexibilität können nur Bauten, Freiräume, Stadtstrukturen leisten, die über ein gewisses Entwicklungspotential verfügen, das ihnen bereits von vornherein mitgegeben worden ist, die aber robust genug sind, allzu leichter Veränderung einen Widerstand entgegenzusetzen. Wie diese Offenheit von Strukturen beschaffen ist, läßt sich wieder am Beispiel des Wohnbaus demonstrieren: Bekanntlich sind Reihenhäuser (Stadthäuser) mit zwar festgelegter Parzellenbreite, aber Erweiterungsmöglichkeiten zum Garten (Hof) hin, sehr anpassungsfähig. Diese Form der Freiheit bedeutet allerdings, zusätzliche Flächen in Anspruch zu nehmen, d.h. den Innenraum auf Kosten des Außenraumes zu vergrößern. Doch in den meisten Fällen ist es nicht möglich, Flächenreserven zu mobilisieren. Hier müssen andere Lösungen gesucht werden. Eine mögliche Strategie ist es, beispielsweise im Geschoßbau, eine Zone mit Naßräumen und Installationskern festzulegen, in der Wohnzone aber etwa gleichwertige, neutrale Räume anzubieten, deren Funktionen nach Belieben vertauscht werden können. Dazu können noch weitere mehrfach nutzbare Zonen (Erschließung, Übergang zwischen Wohnräumen und Außenraum) treten. Diese Offenheit der Struktur nannte Herman Hertzberger „Polyvalenz“: „Indem den Bewohnern kollektiv vorgeschrieben wird, wo sie ihre Tische und Betten - Generationen um Generationen - hinsetzen müssen, bewerkstelligen wir die Gleichschaltung selbst. Diese kollektive Erstarrung von persönlicher Bewegungsfreiheit hat jeden Raum in Haus und Stadt gekoppelt an eine im voraus bestimmte Absicht. Und das geschieht auf eine so uninspirierte Weise, daß damit alle Schattierungen, die die Identität ausmachen, von vornherein ausgeschaltet sind. Das Geheimnis der Bewohnbarkeit alter Grachtenhäuser z.B. besteht darin, daß man auf jedem Platz arbeiten, wohnen und schlafen kann, daß jeder Raum suggestiv ist für jedermann in bezug auf seine Interpretation von wohnen. Die größere Vielfalt der alten Stadt wird sicher nicht verursacht durch stärker ausgebreitete und reichere Gegebenheiten (die Gegebenheiten des zwanzigsten Jahrhunderts sind auf jeden Fall komplexer), sondern durch eine Folge von vielfach untereinander nicht stark abweichender Räume, die durch ihre größere Polyvalenz eine persönliche Interpretation möglich machen“ (HERTZBERGER, 1962). Eine zweite Strategie ist es, einen leeren Raum mit minimalsten Festlegungen (etwa wieder Naßräume und Installationskern) bereitzustellen, der vom Benutzer nach seinen Bedürfnissen organisiert wird. Diese Lösung könnte man als minimalistische bezeichnen. In beiden Fällen bildet die Fassade ein autonomes System, das keine differenziertere Auskunft über den Inhalt der Räume gibt. Diesbezüglich kann also keine Rede sein von einer Form, die der Funktion folgt. Dennoch hat sie Qualitäten und Prägnanz aufzuweisen und eine Aufgabe in einem übergeordneten, vielleicht stadträumlichen Zusammenhang zu erfüllen. Der amerikanische Architekt Louis Kahn sagte über den griechischen Marktplatz (Agora) und seine Säulenhalle (Stoa) 1969 in einem Vortrag in Zürich: „Sie war ungefähr so: keine Unterteilungen, nur gerade Säulen und Schutz. Dinge entwickelten sich. Läden entstanden. Menschen begegneten sich und begegnen sich. Sie bietet Schatten. - Man lieferte eine architektonische Qualität, keine Absicht. Nur gerade ein Zugeständnis für etwas, das man nicht definieren kann, das aber gebaut werden muß“ (KAHN, 1975). Allgemeiner formuliert bedeuten offene Strukturen, nur jenen Funktionen, die zwangsläufig spezialisiert sein müssen, auch einen speziellen Platz zuzuweisen, für die Melange der anderen Funktionen aber breiten Raum zu lassen. Der entscheidende Vorteil einer offenen polyvalenten Struktur gegenüber einer in x Einzelflächen für x Einzelfunktionen unterteilte ist, daß die offene Struktur insgesamt mehr Fläche für jede Funktion bereitstellt. Hier werden sich Nutzungen überlagern, in Konkurrenz treten oder friedlich koexistieren. Hier werden auf dem offenen Feld die altbekannten Verdrängungswettbewerbe stattfinden. Auf der Maßstabsebene des Stadtteils betrachtet, könnte das auch bedeuten, daß moderierende Institutionen notwendig werden (etwa in der Art der Gebietsbetreuungen), die die ablaufenden Selbstorganisationsprozesse begleiten und ordnen. Insgesamt impliziert die Strategie der Offenheit aber Vertrauen in autonome Regelmechanismen, und setzt voraus, daß Planung sich selbst hin und wieder auch etwas zurücknehmen kann. Freie Räume brauchen mehr Freiheit auf instrumenteller Ebene: eine größere Offenheit der rechtlichen Rahmenbedingungen und mehr Flexibilität in den Methoden der Planung.
Literatur:
Hertzberger, H. (1967): Flexibiliteit en polyvalentie. In: Forum, Amsterdam und Hilversum. Juli 1967.
Kahn, L. (1975): Schweigen und Licht. In: Giurgola, R., Mehta, J. (1975): Louis Kahn. Zürich.
Körpersprache wird heute in einschlägigen Kursen als Bestandteil der Verhandlungstaktik trainiert. Man lernt sie zu deuten und in geschäftlichen Revierkämpfen, wie dem gerade skizzierten, zum eigenen Vorteil einzusetzen. Wo immer es in Verdrängungswettbewerben um Macht- und Einflußsphäre, um Besitzansprüche und Eigentumsrechte geht - in der Politik, in der Wirtschaft, im alltäglich-zwischenmenschlichen Bereich - gibt es auch diese speziellen Rituale, die den Konflikt gleichzeitig auf einer symbolischen Ebene ablaufen lassen. In unserem konkreten Beispiel wird diese symbolische Ebene durch die Vorgänge an einem Verhandlungstisch dargestellt, dessen Fläche selbst wieder begrenzt ist. Der reale umkämpfte Raum wird also durch einen anderen, metaphorischen Raum repräsentiert und die reale Verschiebung der Machtverhältnisse naturgetreu darin abgebildet. Eine Art von kulturell codierter Sprache ist auch die Architektur. Das Bebauen eines Territoriums kann als ein Signal des Besitzergreifens und Verdrängens von Konkurrenten gedeutet werden.
Besetzt! Die architektonische Aneignung
Die Architekturgeschichte offenbart uns ein erstaunlich ausgefeiltes Vokabular dieser Zeichensprache. Dabei werden vor allem die topologisch besonderen Orte der beanspruchten Fläche akzentuiert: der Rand als Begrenzung (Fassade, Umzäunung, Stadtmauer etc.), die Mitte mit einem repräsentativen, selbstdarstellenden Bauwerk bzw. Bauelement. Während der Rand dazu dient, sich von Anderem abzugrenzen und zu unterscheiden und daher besonders sorgfältige Gestaltung an jenen Punkten erfordert, wo die Begrenzung durchlässig wird und einen Austausch erlaubt (bei Eingängen, Portalen, Stadttoren etc.), ist die Mitte in der Regel als Bedeutungsmitte zu sehen. Hier scheint die Vertikalität der zentralen Bebauung und das Abstandhalten zur Peripherie eine gewisse psychologische Rolle zu spielen, nämlich im Sinne einer Hierarchie und der Wahrung von Distanz. Das Konzentrieren der Baumassen in der Mitte und das Freilassen der Randzone trägt in sich auch die Option, den Besitz umschreiten zu können und damit den Anspruch darauf beliebig oft rituell erneuern und bekräftigen zu können. (Dieser Aspekt kann auch als Grund für die hartnäckige Beliebtheit des freistehenden Einfamilienhauses interpretiert werden: Es wird nämlich immer wieder in Befragungen als Vorzug dieser Wohnform erwähnt, daß man „um sein Haus herumgehen kann“, sein Eigentum sinnlich erfahren kann, statt sich ausschließlich auf dürre Eintragungen im Grundbuch verlassen zu müssen. Gesellschaftliche Hierarchien und ökonomische Machtverhältnisse bildeten sich in der baulichen Höhenentwicklung ab, indem die privilegierten Punkte und höchsten Positionen von den Mächtigsten bevorzugt wurden. Daran hat sich bis heute nichts Wesentliches verändert. Die multinationalen Konzerne bauen Wolkenkratzer; das ORF-Zentrum thront als „Medienfestung“ (vgl. Achleitner) auf dem Wiener Küniglberg.
Interessanterweise läßt sich das Phänomen baulicher Inbesitznahme aber auch an den heutigen Freiflächen beobachten. Diese Flächen sind keineswegs frei, denn bauliche Abgrenzungen, Hindernisse und Festschreibungen sind im Übermaß vorhanden. Betrachten wir zwei unterschiedliche urbane Freiraumsituationen:
Die städtische Straße
Fehlen die wohlvertrauten motorisierten Fahr- oder Stehzeuge einmal im Straßenbild, so regiert der Horror vacui. Das Vollramschen von Fußgängerzonen mit Blumencontainern, Brünnlein, überdesignten Bänken und Papierkörben und sonstigem „Schmuck“ kann nur als Verhaltensmuster gedeutet werden, das dem Setzen von Duftmarken gleicht: Die Elemente der Straßenmöblierung sind Eroberungszeichen der sich mittels „Gehwerkzeugen Fortbewegenden“ gegenüber den „Auto- Mobilen“. Dabei kann von Möbeln, also beweglichen temporären Einrichtungen, in diesen Fällen oft keine Rede sein. „Echtes“ Straßenmobiliar war jedoch immer Bestandteil des öffentlichen städtischen Raumes. Es eroberte kurzfristig öffentliche Flächen, ermöglichte eine andersartige Nutzung und gab sie dann wieder frei. Dazu zählten die Stühle und Sonnenmarkisen der Straßencafes oder ihre Wiener Variante, die Schanigärten („Schani, trag den Garten hinaus!“), die Marktstände, die mobilen Kiosks von Schaustellern und fliegenden Verkäufern, die mit Kreide aufgemalten Fußballtore und vieles mehr. Heute hat es jedoch den Anschein, als müßte das Beladen des öffentlichen Raumes mit materiellen Objekten den Verlust an Bedeutungsinhalten kompensieren. Denn leider läßt es sich nicht leugnen: Waren die Straße und der städtische Platz einmal gleichzeitig Verkehrsfläche, Einkaufsort, Nachrichtenbörse, Spielwiese, Laufsteg und Forum für Politik, Tratsch und Seitenblicke, so werden die meisten dieser überlieferten Aufgaben heute viel effizienter von separaten spezialisierten Einrichtungen erfüllt.
Der Kinderspielplatz
Nun ist es schon fragwürdig genug, Spielflächen abseits der Alltagsräume der Erwachsenen schaffen zu müssen und damit vieles zu erschweren, was für Kinder wichtig ist: die Teilnahme an den Tätigkeiten der Erwachsenen, das informelle Sammeln von Erfahrungen, das beiläufige Spiel, das im Tagesablauf eingebettet ist. Primäre Aufgabe der Kinderspielplätze in der Stadt scheint es heute zu sein, grüne Oasen einzurichten, die Kinder mit Frischluft und Naturerfahrungen beliefern, die die Straße nicht bereitstellen kann. Es müssen Reservate geschaffen werden, wo Kinder - ich will es einmal überspitzt formulieren - vor dem übermächtigen motorisierten Verkehr und dem ebenso allgegenwärtigen (für Kleinkinder gefährlichen) Hundekot in Schutzhaft genommen werden. Die Spielflächen sind oft eingefriedet und die Spielgeräte haben hier, abgesehen von ihrem tatsächlichen Gebrauchswert, Signalfunktion. Sie markieren das Hoheitsgebiet des Kindes. Da die „normalen“ städtischen Straßen für das Spiel untauglich geworden sind, und in der Regel nur diese winzigen spezialisierten Flächen dafür zur Verfügung stehen, müssen sie eben mit Inventar vollgestopft werden, um die große Zahl an spiel- und bewegungshungrigen Kindern beschäftigen zu können. Aus Platzmangel, Sicherheits- und Haftungsgründen ist dann auch nur mehr eine relativ schmale Palette an standardisierten Geräten möglich. Mit anderen Worten: auch das Spiel wird funktionalistisch determiniert.
Festgelegt! Die funktionalistische Spezialisierung
Die Tendenz der aktuellen Planung zur Fragmentierung von Territorien in Einzelflächen mit spezialisierten Einzelnutzungen ist unverkennbar und durch die Eigengesetzlichkeiten des zur Verfügung stehenden Planungsinstrumentariums bedingt. Das bunte Mosaik unserer Flächenwidmungspläne mit scharf gegeneinander abgesetzten verschiedenfarbigen Flächen spiegelt sinnfällig diese Zuteilung des Bodens an einzelne, möglichst klar definierte Nutzungen. Schattierungen, verlaufende Grenzen, Farbmischungen kommen nicht vor. Der Verdrängungswettkampf der Interessen, der sich hinter den Kulissen der Stadtplanung abspielt, wird mit dem Bebauungsplan zu einem vorläufigen Waffenstillstand gebracht. Man sucht zukünftige Entwicklungen abzuschätzen, Prozesse zu lenken und das erwünschte Ergebnis festzuschreiben. Insofern gleicht dieser Plan der Momentaufnahme einer hypothetischen Situation, die in dieser Form wahrscheinlich nie eintritt. Da das zur Verfügung stehende Territorium nicht vermehrt werden kann, die verschiedenen Nutzungsarten jedoch zunehmen und sich weiter spezialisieren, führt diese Planungsstrategie zu immer kleinräumigerer Segmentierung. Die Einzelflächen für die jeweiligen Einzelinteressen sind immer zwangsläufig zu knapp bemessen, Expansion über die Grenzen des zugeteilten Reviers hinaus, Schwerpunktverlagerungen oder überhaupt Nutzungsänderungen sind aber durch die Unflexibilität der Festlegungen extrem erschwert.
Sind InLineSkaterInnen FußgängerInnen?
Im dichtverbauten Stadtgebiet sind bekanntlich Territorien besonders hart umkämpft. Nun gibt es zwar die Regulative der Raumplanung, um Zonen allgemeinen Interesses festzulegen und vor der expansiven Tendenz anderer, gewinnträchtigerer Verwertung zu schützen, doch Freiflächen befinden sich in einer eigentümlich schwachen Position. Schon durch die Raumordnungsgesetze werden Freiflächen d.h. Grünland im Flächenwidmungsplan als „Restflächen“ diskriminiert, indem alles, was nicht als Bauland oder Verkehrsflächen gewidmet wird, als Grünland übrig bleibt. Neben den vielen Gründen, die in der wirtschaftlichen Dynamik und den Eigentümlichkeiten der Planungspraxis liegen, gibt es vielleicht noch einen weniger beachteten: Freiräume mitten in der Stadt, die Kindern wie Erwachsenen gleichermaßen Spaß machen, weil sie anregend, interessant und abwechslungsreich sind, weil sie vielfältige Aktivitäten erlauben und stimulieren, weil sie Kontakte entstehen lassen, sind von Natur aus funktionell wenig spezialisiert. Gerade aber die funktionelle Mehrdeutigkeit macht diese Flächen so schwer handhabbar, denn unsere aktuellen Instrumente der Planung und Administration verlangen exakte Abgrenzung, präzise Definition, eindeutigen rechtlichen Status. (Quizfrage: Sind InLineSkaterInnen FußgängerInnen? Oder sollen wir einen zusätzlichen Fahrstreifen auf dem Gehsteig neben dem Radweg und dem Streifen der SkateboarderInnen für sie vorsehen?) Auf der Maßstabsebene der Parzelle sind Freiräume leider oft Nebenprodukte architektonischer Planung: das Abstandsgrün des sozialen Wohnbaus, die Brachen zwischen Auto- und Müllcontainerstellplätzen, Flächen, für deren nachträgliche „Gestaltung“ dann kein Geld mehr bleibt. Diese Kategorie von Freiflächen scheint keine beliebte Entwurfsaufgabe zu sein trotz, oder gerade wieder wegen der Vielfältigkeit der Anforderungen. Sie bleibt daher immer ein topologisches Aschenbrödel, das man zwar braucht, um die untergeordneten Aufgaben zu erfüllen (die Erschließung sicherzustellen, die vorgeschriebene Belichtung zu gewährleisten), das man aber nicht schätzt, weil ihm in seiner Funktion als Erholungsfläche der Glanz des Golfplatzes oder als Verkehrsfläche die Effizienz der Autobahn fehlt.
Mehrfache Lesbarkeit
Die Vielfältigkeit und Offenheit für unterschiedlichste Nutzungen scheint die erste Bedingung für die Attraktivität von Freiräumen zu sein, ihre Gestaltqualität eine zweite. Die „G’stetten“ zum Beispiel sind zwar marginale Bereiche aus dem Blickwinkel der Erwachsenen und in der Geographie der Städte, aber bedeutende Refugien der Kindheit. Diese blinden Flecken der Planung an der Peripherie und in Baulücken, die sich heute aufgrund der Bodenverknappung nur mehr in Form wilder Mülldeponien, Industriebrachen oder Restflächen zwischen Supermarktparkplatz und Autobahnabfahrt finden (also mitunter auch keine geeigneten Spielorte sind), können sich aber auch unerwartet hinter der gepflegten Fassade der städtischen Parks auftun. Ich erinnere mich noch mit Freude an die geheimnisvolle und naturbelassene Welt voll von Getier und Kletterbäumen und Rohstoffen für allerlei Abenteuer, die sich eröffnete, wenn man die äußere grüne Membran der exakt zurechtgeschnittenen Alleen im Schönbrunner Schloßpark durchstieß. Da gibt es also die Eleganz des barocken Parks und die Schönheit des „Wilden“, zwei konträre Gestaltqualitäten dicht beieinander. Warum ziehen Kinder im Zweifelsfalle das Dickicht mit den hohlen Bäumen, den Lianen, den Wassertümpeln und einem Haufen Gerümpel einem adretten Spielplatz mit Betonröhre, Kletterseil und Springbrunnen vor? Vermutlich weil die Räume und Objekte, die sich im Dickicht finden, weder für ihren Gebrauch eindeutig festgelegt noch in irgendeiner Weise „fertig“ sind. Sie verlangen geradezu danach, ergänzt, verstärkt, verändert, interpretiert, akzentuiert etc. zu werden und wunderbarerweise wird das Material, um solches zu tun, vom Gebüsch gleich mitgeliefert. Wir haben daher auch Mühe, diese Dichte an Bewegungsanreizen, haptischen Erlebnissen und sogar Lichtstimmungen in einem künstlichen Ambiente zu reproduzieren. Am allerschwierigsten ist es aber, einerseits Gestaltprägnanz herzustellen und gleichzeitig Freiheiten des Gebrauchs und der Interpretation zu erhalten. Hier ist also von Qualitäten die Rede, die sich nicht messen oder funktionell definieren lassen. Sie sind aber wesentlich für die Vitalität eines Freiraumes, einer Straße, und gleichermaßen für die eines Gebäudes, einer Stadt. Es geht um Mehrdeutigkeit, an der sich die Fantasie entfalten kann, um Offenheit von Strukturen gegenüber der Nutzung und Interpretation, um Veränderbarkeit, die nachträgliche Gestaltung zuläßt. Und es geht auch darum, den Räumen (wenigstens temporär) Freiheiten zu lassen, d.h. sie nicht von vornherein mit Besitzansprüchen und Funktionen zu besetzen.
Bauliche Hüllen so perfekt wie Maßkleidung
Der Slogan „form follows function“, der um die Jahrhundertwende von dem amerikanischen Architekten Louis Sullivan in die Welt gesetzt wurde, um entwerferische Hilfestellung und Orientierung in der Beliebigkeit der Stile zu leisten, führte in den folgenden Jahrzehnten unter dem Gesichtspunkt profitablen Bauens zu einer reduktionistischen Planungsauffassung. Erstens verlagerte sich die Aufmerksamkeit mehr und mehr auf das „Positivistische“ der Funktion, also die quantifizierbare und exakt definierbare Zweckbestimmung von Gebäuden, während die Schaffung und Symbolisierung von Sinnzusammenhängen, die Darstellung von Bedeutungen - also Meta-Funktionen der Architektur - in den Hintergrund traten. Zweitens erwies sich in unserer Zeit des raschen Wandels gesellschaftlicher und ökonomischer Verhältnisse die Spezialisierung der Funktionen mit ihrer Tendenz zur immer genaueren Erfüllung von Einzelanforderungen als hinderlich und einschränkend. Denn es hat wenig Sinn, bauliche Hüllen so perfekt wie Maßkleidung anpassen zu wollen. Ein zu enges Korsett kann im Fall veränderter Lebensumstände nur mehr gesprengt werden. Gerade unter den Wohnbauten der letzten Jahrzehnte gibt es Beispiele extremer Unflexibilität: Gebäude mit genauen Raumwidmungen, die „zu getreu“ den momentanen Bedarfserhebungen folgend, jeder Funktion einen eigenen, knapp bemessenen Platz zuwiesen, und überdies noch aus Beton errichtet wurden, einem Material, das sich wie kein zweites dem Umbau widersetzt. In einer Zeit, da überall und zu Recht „Nachhaltigkeit“ gefordert wird, ist aber jedes Gebäude, das bereits nach kurzer Nutzungsdauer unbrauchbar wird, eine ökologische Schande.
Polyvalenz und Offenheit
Und doch wurden in den historischen Städten jahrhundertelang Strukturen geschaffen, die für den jeweiligen Zweck zum Zeitpunkt ihrer Entstehung angemessen waren, aber auch heute noch für Nutzungen und Ansprüche geeignet sind, die damals unabsehbar waren. Diese Flexibilität können nur Bauten, Freiräume, Stadtstrukturen leisten, die über ein gewisses Entwicklungspotential verfügen, das ihnen bereits von vornherein mitgegeben worden ist, die aber robust genug sind, allzu leichter Veränderung einen Widerstand entgegenzusetzen. Wie diese Offenheit von Strukturen beschaffen ist, läßt sich wieder am Beispiel des Wohnbaus demonstrieren: Bekanntlich sind Reihenhäuser (Stadthäuser) mit zwar festgelegter Parzellenbreite, aber Erweiterungsmöglichkeiten zum Garten (Hof) hin, sehr anpassungsfähig. Diese Form der Freiheit bedeutet allerdings, zusätzliche Flächen in Anspruch zu nehmen, d.h. den Innenraum auf Kosten des Außenraumes zu vergrößern. Doch in den meisten Fällen ist es nicht möglich, Flächenreserven zu mobilisieren. Hier müssen andere Lösungen gesucht werden. Eine mögliche Strategie ist es, beispielsweise im Geschoßbau, eine Zone mit Naßräumen und Installationskern festzulegen, in der Wohnzone aber etwa gleichwertige, neutrale Räume anzubieten, deren Funktionen nach Belieben vertauscht werden können. Dazu können noch weitere mehrfach nutzbare Zonen (Erschließung, Übergang zwischen Wohnräumen und Außenraum) treten. Diese Offenheit der Struktur nannte Herman Hertzberger „Polyvalenz“: „Indem den Bewohnern kollektiv vorgeschrieben wird, wo sie ihre Tische und Betten - Generationen um Generationen - hinsetzen müssen, bewerkstelligen wir die Gleichschaltung selbst. Diese kollektive Erstarrung von persönlicher Bewegungsfreiheit hat jeden Raum in Haus und Stadt gekoppelt an eine im voraus bestimmte Absicht. Und das geschieht auf eine so uninspirierte Weise, daß damit alle Schattierungen, die die Identität ausmachen, von vornherein ausgeschaltet sind. Das Geheimnis der Bewohnbarkeit alter Grachtenhäuser z.B. besteht darin, daß man auf jedem Platz arbeiten, wohnen und schlafen kann, daß jeder Raum suggestiv ist für jedermann in bezug auf seine Interpretation von wohnen. Die größere Vielfalt der alten Stadt wird sicher nicht verursacht durch stärker ausgebreitete und reichere Gegebenheiten (die Gegebenheiten des zwanzigsten Jahrhunderts sind auf jeden Fall komplexer), sondern durch eine Folge von vielfach untereinander nicht stark abweichender Räume, die durch ihre größere Polyvalenz eine persönliche Interpretation möglich machen“ (HERTZBERGER, 1962). Eine zweite Strategie ist es, einen leeren Raum mit minimalsten Festlegungen (etwa wieder Naßräume und Installationskern) bereitzustellen, der vom Benutzer nach seinen Bedürfnissen organisiert wird. Diese Lösung könnte man als minimalistische bezeichnen. In beiden Fällen bildet die Fassade ein autonomes System, das keine differenziertere Auskunft über den Inhalt der Räume gibt. Diesbezüglich kann also keine Rede sein von einer Form, die der Funktion folgt. Dennoch hat sie Qualitäten und Prägnanz aufzuweisen und eine Aufgabe in einem übergeordneten, vielleicht stadträumlichen Zusammenhang zu erfüllen. Der amerikanische Architekt Louis Kahn sagte über den griechischen Marktplatz (Agora) und seine Säulenhalle (Stoa) 1969 in einem Vortrag in Zürich: „Sie war ungefähr so: keine Unterteilungen, nur gerade Säulen und Schutz. Dinge entwickelten sich. Läden entstanden. Menschen begegneten sich und begegnen sich. Sie bietet Schatten. - Man lieferte eine architektonische Qualität, keine Absicht. Nur gerade ein Zugeständnis für etwas, das man nicht definieren kann, das aber gebaut werden muß“ (KAHN, 1975). Allgemeiner formuliert bedeuten offene Strukturen, nur jenen Funktionen, die zwangsläufig spezialisiert sein müssen, auch einen speziellen Platz zuzuweisen, für die Melange der anderen Funktionen aber breiten Raum zu lassen. Der entscheidende Vorteil einer offenen polyvalenten Struktur gegenüber einer in x Einzelflächen für x Einzelfunktionen unterteilte ist, daß die offene Struktur insgesamt mehr Fläche für jede Funktion bereitstellt. Hier werden sich Nutzungen überlagern, in Konkurrenz treten oder friedlich koexistieren. Hier werden auf dem offenen Feld die altbekannten Verdrängungswettbewerbe stattfinden. Auf der Maßstabsebene des Stadtteils betrachtet, könnte das auch bedeuten, daß moderierende Institutionen notwendig werden (etwa in der Art der Gebietsbetreuungen), die die ablaufenden Selbstorganisationsprozesse begleiten und ordnen. Insgesamt impliziert die Strategie der Offenheit aber Vertrauen in autonome Regelmechanismen, und setzt voraus, daß Planung sich selbst hin und wieder auch etwas zurücknehmen kann. Freie Räume brauchen mehr Freiheit auf instrumenteller Ebene: eine größere Offenheit der rechtlichen Rahmenbedingungen und mehr Flexibilität in den Methoden der Planung.
Literatur:
Hertzberger, H. (1967): Flexibiliteit en polyvalentie. In: Forum, Amsterdam und Hilversum. Juli 1967.
Kahn, L. (1975): Schweigen und Licht. In: Giurgola, R., Mehta, J. (1975): Louis Kahn. Zürich.
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