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1956 als Wiener geboren, aber heute - nach der Selbsteinschätzung - eher Westösterreicher, wenn nicht Europäer. Angesichts der Härten des Hauses Stonbourough-Wittgenstein aufgewachsen, folglich schon bald Begierde nach dem Studium der Architektur, des Bauingenieurwesens und der Philosophie. 1988 Gründung der interdisziplinären Planungsgruppe Pontifex Partnership. Planung und Durchführung mehrerer Industrie- und Wohnbauten in Österreich. Internationale Vermittlungsarbeit und Agitation in Sachen Architektur, Ingenieurbau und Landschaftsgestaltung. Architekturkritiker für in- und ausländische Tageszeitungen und Fachzeitschriften. Mitgestalter der österreichischen Fachmedien Bauforum und UmBau. Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für Architektur. Lebt als freischaffender Forscher und Händler (Ideen und Wortspenden aller Art) - trotzdem - in Wien.

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24. Juli 1999 Spectrum

Herzkammer in Hartgrün

Zentrumslosigkeit ist das Wachstumsprinzip vieler Ortschaften im Rheintal. Wolfurt lebt vor, wie mit mutiger Mehrfachstrategie alter Siedlungsraum zentrierbar ist: Der neue Veranstaltungssaal „Cubus“ signalisiert eine hinzugewonnene vitale Mitte.

Das tädtebauliche Problem unserer Gemeinde ist, daß ihre Muskeln schneller gewachsen sind als die Knochen.“ Carl Fingerhuth, international erfahrener Architekt, Städtebaulehrer und Urbanist aus Basel, überliefert diese in einer Bürgerversammlung der siebziger Jahre von der anspringenden Tourismusentwicklung motivierte Aussage des Pfarrers von Bürserberg. Fingerhuth hatte damals die mit der Alpinerschließung konfrontierte kleine Vorarlberger Gemeinde beraten, um eine „gedeihliche Entwicklung“ in einer Phase raschen Strukturwandels einzuleiten.

Seinerzeit fehlten dazu vor allem die groben Infrastrukturen und die großen Zieldefinitionen einer nachhaltigen Raumordnungspolitik. Mittlerweile verfügt Vorarlberg über eine unbequeme, daher wirkungsvolle Raumplanungpraxis und eine hinreichende Infrastruktur. Der politische Wille zum geordneten Raum ist manifest und kann von der Verwaltung nachvollzogen werden. Knochen sind dem Land binnen zwei Jahrzehnten also bereits nachgewachsen.

Jüngst legte Fingerhuth in der Zeitschrift „Vorum“ dem Pfarrer aber einen fiktiven Satz zur aktuellen Situation in den Mund: „Das Problem Vorarlbergs ist, daß die Knochen und die Muskeln unserer Gemeinden schneller gewachsen sind als ihre Herzen.“

Sieht sich die Raumentwicklung Vorarlbergs also doch neuerlich mit einer existentiellen Frage konfrontiert? Fingerhuth ist überzeugt, daß zwar wesentliche Probleme zwischen den Siedlungen ausgeräumt wurden, daß aber viele Binnenfragen, etwa die zeitgemäße Zentrierung der Bebauungsstrukturen, noch ungelöst sind. Zahlreichen Ortschaften fehlt das vitale Herz.

Vorarlberg hat zwar die höchste Qualitätsdichte in der heimischen Architekturproduktion, so reif diese Objekte für sich auch sind, so offen bleibt häufig die Frage nach dem Ortsganzen. Daß kürzlich die beim Land angesiedelte, im österreichweiten Vergleich vorbildlich agierende „Geschäftsstelle für Gemeindeentwicklung in Vorarlberg“ einen Wettbewerb mit dem Thema „Orte der Begegnung“ mit zwei ersten Preisen für Wolfurt und Sulzberg-Thal abschloß, ist für die raumordnungspolitische Problemlage symptomatisch: Konzentration auf die Entwicklung der inneren Ressourcen, auf das Finden der Mitte.

Wolfurt hat gute und typische Chancen: eine Marktgemeinde im zäsurarmen Ballungsraum Bregenz-Dornbirn, die ihren dörflichen Wurzeln sichtlich noch nicht weit entwachsen ist. Das Gemenge von alten und neuen Bauten ist unübersichtlich, die Kirche markiert immer noch die Mitte. Bauland ist genug vorhanden. Die frühere, den Dorfplatz querende Landstraße ist längst durch eine periphere Umfahrung abgelöst. Die Ortschaft ist für viele im Bewußtsein nicht mehr existent.

Was Wolfurt neuerdings aus der Bandstadt des Rheintals heraushebt, ist die strategisch angelegte Aufrüstung des Dorfkerns und der Dorfidentität. Der Preis für Dorf- und Stadtkernentwicklung wurde für die „professionelle Konzeptarbeit und die weitsichtige Bodenpolitik, die aktive Entwicklung des Bewußtseins, den pfleglichen Umgang mit vorhandenen sozialen und baukulturellen Ressourcen und den kritischen Dialog mit professionellen Begleitern“ et cetera zugesprochen. So wird seit Jahren Haus um Haus, Freiraum um Freiraum saniert. Architektonisch überzeugend ist etwa die Revitalisierung des „Alten Schwanen“ samt Dorfplatz als Kultur- und gesellschaftliches Zentrum, unweit entstanden der Marktplatz mit Tiefgarage und kleinere Neubauten von hoher Qualität.

Notwendig und richtig auch der nächste Schritt, als Ergänzung zur rückgewonnenen historischen Mitte um die Kirche ein zweites Ortszentrum an der auch schon „eingewachsenen“ Umfahrung zu entwickeln. Kein vitales Herz funktioniert mit nur einer Kammer. Kaum zehn Gehminuten von der Kirche entfernt ist ein markanter Gemeindesaal, eingebettet in einen Stadtpark, neben dem Vereinshaus und einer Schule entstanden. Lothar Huber aus Lustenau und das mittlerweile erfolgreich allein agierende junge Team Andreas Cukrowicz und Anton Nachbaur-Sturm aus Wolfurt haben 1994 den Wettbewerb gewonnen und 1998 einen Veranstaltungsbau realisiert, der für das langfristige Ziel einer zumindest bipolaren Siedlungsorganisation eine feste Wurzel schlägt.

Bestechend an diesem kommunalen Veranstaltungshaus ist, daß es scheinbar polare Qualitäten in sich vereint. Es ist fast simpel organisiert, also übersichtlich nutzbar, und trotzdem vermittelt es einen spezifischen Ausdruck alemannischen Selbstbewußtseins und hier öfters an anonymer Architektur anzutreffender dezenter Feierlichkeit. Der Bau ist eine einfache, ruhige Großform– allerdings mit kapriziösen Ausstülpungen für den Außenraumbezug –und ist mit angemessenem Aufwand errichtet worden, entwickelt aber eine hohe öffentliche Präsenz bei Tag und Nacht.

Im Inneren zeigt sich das marketinggerecht „Cubus“ genannte Haus als konseqent ausdetailliertes „warmes“ Holzfutteral für 800 Personen, von außen als in graugrünem Schiefer hart in das liebliche Gepräge des Dorfrandes gesetzter Erstbehauptungsversuch der Gemeinschaft. Zur räumlichen Erfüllung des Zentrumswunsches ist noch ein weiter Weg, aber eine starke Bedeutungsmitte ist gesetzt.

Die Intention der Architekten, ein städtisches Territorium als signalhafte Vorleistung in das Unstädtische zu setzen, geht auch deswegen auf, weil ihr Bau durch eine geometrisch rigide Parkanlage der Zürcher Landschaftsarchitekten Kienast & Vogt verstärkt wird. Vor und neben dem Saalbau spannt sich eine Folge durch Baumraster, Hecken und Kiesgevierte prästabilierter Freiflächen auf. Abseits blumenschmückender Absicht zeigt sich schon Jahre vor der wachstumsbedingten Raumwerdung ein hohes Aneignungspotential für den Bürger. Wegen des Überangebots an Brachen in der Umgebung kontrastiert es noch nicht richtig mit dem Privaten.

Das Hartgrün des Stadtparks und das hartgeschnittene Schiefergrün des „Cubus“ sind untrügliche Anzeichen wachsender kultureller und sozialer Kompetenz. Gemeinwohl braucht Vision, Konzept, Dialog und dann Aktion, wirksam imRaum. Wolfurt steckt in einem exemplarischen Selbstfindungsprozeß, den populistisch-ornamental orientierte Ortsbildbewahrer genau verfolgen sollten. Herzoperationen

3. Juli 1999 Spectrum

Grappa ätzt Geschichten frei

Hauptplatz von Leoben war lange nur mehr ein Automobilreservat mit bezuglosem Architekturpassepartout. Boris Podrecca konstruierte neue Bedeutungen und hat damit die alte Einheit des Stadtraums zurrückgewonnen.

Wie weit läßt sich ein Ort in einer Stadt von seinen historischen Entstehungsbedingungen entfremden, ohne daß der bauliche Rahmen zu einer letztlich grotesken Kulisse herabkommt? Wie weit kann man einem Stadtraum seine angestammten, temporären Nutzungsmuster abgewöhnen, ohne daß dies dauernd als Mangel sichtbar wird? Wie lange kann das Prinzip des Öffentlichen auf einem Stadtplatz, etwa die Frei- und Großzügigkeit für Passanten durch das Private, etwa das massierte Auftreten von ruhenden Kraftfahrzeugen, unterdrückt werden?

Für all diese Grenzzustände einer tradierten, urbanen Platzfigur hat der Städtebau keine funktionalen Schwellenwerte festmachen können. Eine von Gebäuden dicht umstandene Fläche gibt nicht automatisch einen intakten Stadtplatz ab. Man kennt die geometrische Bedingung, daß eine Raumsituation dann als Platz wahrnehmbar ist, wenn die Weite nicht kleiner als die einfache und nicht größer als die dreifache Höhe der Randbebauung ist. Es ist dagegen unmöglich, den hochkomplexen Wandel einer alten Stadtstruktur simpel zu quantifizieren. Aber es gibt qualitative Indikatoren, die gefährliche Entmischungsvorgänge des Stadtlebens anzeigen: Rascher Eigentümerwechsel, beschleunigte Mieterfluktuation, Leerstände in den Sockelzonen oder die Nivellierung des Waren- und Dienstleistungsangebots weisen auf eine instabile Situation.

Vom Leobener Hauptplatz kann daher nicht mit knappem Befund behauptet werden, er sei als städtebauliche Großeinheit zuletzt auf der Kippe gestanden. Aber es gibt deutliche Anzeichen einer unkoordinierten Entwicklung, die ihn in seiner damaligen Verfassung zum Teil des kommunalen Imageproblems, nicht zum Teil der Lösung machten. Photos der siebziger Jahre zeigen einen vom Kraftfahrzeug dominierten Bewegungsraum mit drei Fahrstreifen in beiden Längsrichtungen und breiten Gehsteigen an den Rändern.

Der Hauptplatz war damals integrierter Teil des regionalen Straßennetzes. Er diente als Busbahnhof und mit einem breiten Parkierungsbereich in der als Automobildepot, dessen Kapazitätsgrenze im Rahmen der fortschreitenden Motorisierung immer bedrängender wurde. Weitgespannte Zebrastreifen machten die Hierarchie der Verkehrsteilnehmer klar; der Fußgänger war die Randexistenz auf diesem dem Fahrverkehr gewidmeten Territorium.

Als Rettungsinseln in der durchgehenden Asphaltfläche standen dem Flaneur die Pestsäule, eine Reihe von vier firsthohen Lichtflutern und zwei Brunnen mit angelagertem Verlegenheitsgrün zur Verfügung. Insgesamt also zu viele verkehrliche und pflanzliche Einschränkungen, zu wenige vorbereitete Flächen für die Entfaltung städtischer Ereignisse.

Ursprünglich entsteht der rechteckige Hauptplatz mit 180 Meter Länge und 32 Meter Breite als zentraler Raum der in einer Murschleife situierten, planmäßigen Siedlungsgründung in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Die Längsfronten sind in der Hälfte durch Quergassen unterbrochen, sodaß sich als ältester Stadtkern vier annähernd quadratische Viertel um den Hauptplatz gruppieren.

Seine Dimensionen überschreiten den Eigenbedarf für Markt, Versammlung und Feierlichkeiten bei weitem; vielmehr sind sie Ausdruck der Lage Leobens an seit dem Altertum sich hier kreuzenden, bedeutenden Verkehrswegen und der Rolle der Stadt als Handelsplatz. Selbst für die mit etwa 30.000 Einwohnern heute zweitgrößte Stadt der Steiermark, für den Sitz der weltweit renommierten Montanuniversität und den nach der Verstaatlichtenkrise wiedererstarkten Industriestandort kann der Hauptplatz als großzügig gelten – wenn er bespielbar ist.

Offensiv angehend gegen die prekäre wirtschaftliche Lage – Donawitz mit seinem Stahlwerk ist eingemeindeter Teil Leobens – und das damit auch verbundene Selbstwertdefizit, beschließt der Gemeinderat 1994 einstimmig die Abhaltung eines Gutachterverfahren über die Neugestaltung des Hauptplatzes und der zuführenden Gassen. Boris Podreccas Vorschlag eines „leeren Platzes“ wird ganzheitlich zur Ausführung empfohlen, weil er der Jury am ehesten durch „eine ganz neue Oberflächenqualität, mit einer durchdachten und visuell prägnanten Zonung der Flächen die unterschiedliche Möglichkeit der Benutzung (also Belebung)“ garantiert.

Die Realisierung der Oberflächen verursachte relativ moderate Kosten von etwa 64 Millionen Schilling (rund 4,7 Millionen Euro) einschließlich aller Nebenleistungen und wurde im April 1997 abgeschlossen. Die Beobachtung zeigt, daß der neue Freiraum angenommen wird, daß Podreccas Konzept einer durch den gleichzeitigen Bau einer Tiefgarage möglichen Ausräumung des Platzes aufgeht und die zu Baubeginn durchaus nicht unumstrittene Radikallösung eine Neubewertung des Stadtkerns bewirkt, die der gesamten Stadt nützt.

Podrecca überrascht mit dieser reifen Leistung die Fachwelt nicht. Er ist – 1940 in Belgrad geboren, in Triest aufgewachsen und in Wien als Architekt ausgebildet – ein interkultureller Grenzgänger im kakanischen Kosmos, ein polyglotter Fachmann des Urbanen, ein akribischer, von klassischer wie moderner Architektur Besessener sowieso. Es ist für die Stadtaktivierung also ein prädestinierter, weil sendungsbewußter Planer, der auf Grund seiner verwirklichten Stadtraumreparaturen in Salzburg, Cormons, Piran, Wien oder Verona genau weiß, daß Halbherzigkeiten auf diesem Sektor besonders leicht desaströs enden können.

Die Entwurfsstrategie hinter Podreccas Stadträumen ist konsequent und konstant. Sie zielt auf die Akzentuierung „der Unterschiede in der gleichzeitigen Wahrnehmung der Zeitschichten“, also auf das Angebot eines möglichst vieldeutigen Feldes synchroner Raumwahrnehmungen, die in assoziativem Zusammenhang zu Eigenschaften des vorgefundenen Stadtraums stehen. Gewissermaßen ätzt der in italienischen Städten Geprägte immer mit scharfem Gedankengrappa tragende Geschichte(n) unter nebensächlichen historischen Transgressionen frei. Die endliche Wirkungseinheit zwischen Alt und Neu soll gelassen und großzügig sein.

Podrecca will keinen starren Kontext zu dem schreiben, was ihm die Stadt als inspirierende Ursachen zeigt (Gelände, Geometrie, Licht, Farbe, Geruch, Milieu, Material et cetera) und ihn uns als Sekundärliteratur bei der Lektüre des Ortes andienen, sondern er will den Passanten dazu verleiten, mit der Stadt direkt in produktiven Dialog zu treten. Es geht ihm nicht um die Beschreibung einer in vielen Facetten vorliegenden Historie, sondern um deren synthetische Umschreibung, um ihre Vergegenwärtigung, um eine Provokation der verschütteten Dinge. Denn Fortschritt entsteht für Podrecca nur aus der „umfassenden Präsenz des Vergangenen“, bei der Weitung des räumlichen Gedächtnisses beim Passanten, durch die „gedehnte Temporalität“ des jetzt Wahrnehmbaren.

Kontexte müssen die Form des umgebenden Textes wahren; Podreccas Assoziationen und Konnotate können die meist mit hohen Denkmalwerten behafteten Ausgangsfiguren der Stadtkerne respektieren, aber auch karikieren, ironisieren, subversiv provozieren oder mit Manierismen unterlaufen. Das geht manchen Kritikern in einer Zeit der Reduktionismen architektonisch entschieden zu weit; der Leobener Entwurf weist aber nur wenige Aspekte des von Podrecca so geschätzten „Ludischen“ auf, er wirkt vergleichsweise diszipliniert.

Prodreccas Platzregulativ basiert wie immer auf dem Ingenieurmäßigen, auf der raschen Entwässerung der Oberflächen. Zum natürlichen Längsgefälle des Platzes kommt so ein Querprofil mit dem Gipfel im einen Drittelpunkt, während im anderen die Kandelaberreihe steht. Die Längsrigole liegen nächst den Fassaden, als Steinbänder zusammengefaßt, und gehen in rote Querstreifen über, die die Liegenschaftsgrenzen markieren.

Die zwei Hauptflächen sind mit grauen Graniten belegt, die Enden des überlangen Platzes, um die beiden exzentrisch gesetzten Brunnen, mit grünem Diabas. Wie Teppiche ziehen sich die Beläge der Seitengassen unter den Hauptfeldern durch und machen die Winkelverschiebung im Stadtgrundriß sichtbar.

Die mittige Pestsäule wird durch die nachts mildes Bartenbach-Licht diffus auf den Platz werfenden Kandelaber ebenso wenig konkurriert wie durch die konsequent standardisierte Möblierung der Bars. Alle Schichten der Geschichte sind freigelegt, zu Geschichten geordnet, trotzdem sind sie dem Stadtwanderer schon bald nicht mehr als ein Hintergrund.

Podreccas Vermutung bestätigt sich: „So werden in der tradierten, aber verklärten Physis der Stadt noch immer die besten Orte jene sein, wo der Mensch imstande sein wird, sich inmitten von Ungewißheiten aufzuhalten, ohne gereizt nach Tatsachen und Gründen fragen zu müssen.

9. April 1999 Spectrum

Bildung, polyvalent verpackt

Schulen sollten nicht länger Kasernen sein, in denen Minderjährige nur Wissensbeweise gegen Berufszugänge tauchen. Vielmehr sind offene Trainingszentren sozialer und kultureller Kompetenz – Orte der Bildung – gefragt. Vorbildhaftes steht in Hall in Tirol.

Die Gesellschaft braucht Nachhilfe, aber die alte Schule ist überfordert: „Die Antwort auf unsere behauptete oder tatsächliche Orientierungslosigkeit ist Bildung – nicht Wissenschaft, nicht Information, nicht die Kommunikationsgesellschaft, nicht moralische Aufrüstung.“ Hartmut von Hentig, Professor emeritus der Pädagogik und Vordenker einer neuen Schule, insistiert auf einer „Rückkehr“ zur Bildung, denn „sie ist pädagogisch geboten. Alle Menschen sind der Bildung bedürftig und fähig.“

Die Besinnung auf einen präziser gefaßten Bildungsbegriff, der sich gegen Ausbildung und Erziehung klar abgrenzt, muß seiner Ansicht nach das Ziel sein. Grundsätzlich ist von Hentig überzeugt: „Alle Bildung ist politische Bildung, eine kontinuierliche, zugleich gestufte Einführung in die polis. Was für ein Volk die Kultur ist, ist für den einzelnen die Bildung.“

Die Schule will dem Individuum einen systematischen Einstieg in die Gemeinschaft bereiten, zuletzt kann sie das immer weniger. Die Gründe sind mannigfaltig, die Abhilfen ebenso. Ein Ansatz wäre intensiverer räumlicher Kontakt: Weg vom monofunktionalen Gebäude, hin zum hybriden Baukomplex. Zumindest für Zentrallagen ist eine Nutzungsmischung, in der Arbeit und Freizeit, Kommerz und Ehrenamtliches, Bildung und Ausbildung, Unterhaltung und politische Konfrontation, Privates und Öffentliches et cetera dicht gepackt sind, erfolgversprechend.

„Wo Kinder und Jugendliche wirklich etwas lernen“, meint der Soziologe Oskar Negt, „ist nicht mehr ganz leicht auszumachen. Es kann im Kommunikationszusammenhang der Discos, in kleinen Freundschaftsgruppen, durch Fernsehen und Schulen sein, aber auch in Jugendzentren, auf der Straße, in den Familien und Schulen.“ Das Schulhaus ist also nicht der einzige und beste Lernort der Heranwachsenden, aber wahrscheinlich neben dem Elternhaus und dem Cyberspace doch noch der prägendste.

Der Schulbau wirkt auf die Schüler gewissermaßen „wie die Lehrerpersönlichkeit bildend oder verbildend“, vermutet der Psychologe Christian Rittelmeyer, „er wird gestisch-gebärdenhaft erlebt. Daher wird er nach Kriterien des zwischenmenschlichen Umgangs bewertet – allerdings in aller Regel nicht bewußt.“ Das Schulhaus, als öffentlicher Raum verstanden, wirkt offenbar ähnlich wie belebter Stadtraum, es ist Marktplatz der Begegnungen. Die These, daß Schulsolitäre verzichtbar sind, daß das Schulhaus inniger in das Stadtleben eingebettet sein soll, wird von der jugendlichen Wahrnehmung also bekräftigt.

Wieso kann eine Schule nicht auch mit einer Ladenstraße, einem Bürobau oder einem Wohntrakt in einer hochdichten Hybridpackung zusammengefaßt werden? Dem in Diskussion stehenden, zugespitzten Bildungsideal wäre das nur zuträglich, dem Streben zentralstädtischer Lagen nach komplexen Funktionsgefügen ebenso. Meist steht die organisatorische Schwierigkeit, eine rechtlich handhabbare Partnerschaft zwischen hoheitlichen und privaten Interessen zu konstruieren, der Realisierung dieses architektonisch herausfordernden, urbanistisch hochinteressanten Bautyps entgegen. In Hall in Tirol wurde diese Hürde gleich am Anfang überwunden.

Die im November des Vorjahres eröffnete Schul- und Sportanlage Dr. Posch ist ein solcher, wenn auch einfacher Mischtyp, ein intelligenter, polyvalenter Bildungsstapel. Die Hauptschule ist zwar die prägende Leitnutzung des Komplexes, dessen Attraktivität kann aber im Einzelfall als Ausgangspunkt für einen Altstadtbummel, als Tagungsort für Vereinsfunktionäre, als Austragungsort für Wettkämpfe, als Park für Jugendliche, als Spielort für Kinder auch ganz anders eingeschätzt werden.

Wenn man die größte öffentliche Schulbauinitiative dieses Jahrzehnts in Österreich zum Vergleich heranzieht, nämlich das Schulbauprogramm 2000 der Stadt Wien, dann ist trotz latenter Bedürfnislage zu konstatieren, daß keine der dabei verwirklichten Schulanlagen eine so schlüssige Verquickung schulinterner und -externer Interessen beinhaltet. Die Haller Stadtverwaltung hat sich freilich unter der weitblickenden Amtsführung des vor Vollendung des Baus verstorbenen Bürgermeisters Dr. Josef Posch das Thema der Funktionsmischung selbst gestellt.

Die zentrale Lage des Surergrunds in der Unteren Stadt ist für eine Hybridnutzung – Bildung, Sport, Spiel und Parkierung – ideal. Gerade damit die stadtplanerisch erstrangige Aufwertung einer problematischen Brache am Rand des touristisch hochgeschätzten Stadtkerns zu erreichen schien verlockend. Für das kommunale Bauvorhaben mußten Liegenschaften der Stadt und des Turnvereins zusammengeführt und bestandsfrei gemacht werden.

Die Lagegunst nahe von Bahn, Autobahn und Bundesstraße ist hoch, trotzdem war der Kfz-Verkehr auf den anliegenden Straßenzügen leicht zu beruhigen.

Die kleinmaßstäbliche Umgebung erforderte eine subtile Einbettung der erheblichen Baumassen. Die Nutzungen waren vorgegeben: eine Hauptschule mit zehn Klassen und Turnhalle, ein Turnvereinszentrum mit eigenem Turnsaal, ein Eissportzentrum und eine Tiefgarage für etwa 380 Fahrzeuge. Der bestehende Park sollte als wichtige Naherholungsfläche aufgewertet werden. Aus einem tirolweiten Wettbewerb geht 1995 der Entwurf der Architekten Bruno Sandbichler, Inge Andritz und Feria Gharakhanzadeh überzeugend hervor.

Ihr Konzept beruht auf der Bündelung der Nutzungen in einer kompakten Baumasse. Zu den drei Hauptfunktionen gibt eigene Eingänge: An der Südseite betritt man die Schule zwischen den beiden abgesenkten, gut einsehbaren Turnsälen; das Foyer mit den Garderoben spannt sich brückenartig zwischen diesen Hallen. Zehn Regelklassen und etwa ebenso viele Sonderunterrichtsräume im ersten und zweiten Obergeschoß orientieren sich zu den beiden großen Terrassen über den Turnsälen.

An der Westseite liegt der Zugang zum Turnvereinsbereich mit Kletterwand und Cafeteria, an der Ostseite jener zum Eislaufverein mit dem 30 mal 60 Meter großen Eislauf- und Ballspielplatz, unter dem die dreigeschoßige, tagesbelichtete Tiefgarage verschwindet. Der Park wird von der Garageneinfahrt, drei Wasserbecken und dem Kinderspielplatz gerahmt. Die in solcher Nutzungsvielfalt auf engem Raum lauernden Widersprüche sind in Synergien aufgelöst und mit Herstellungskosten von etwa 3200 Schilling (233 Euro) pro Kubikmeter umbauten Raums ökonomisch befriedigend bewältigt.

Vor allem aber ist es den Architekten gelungen, übersichtliche, in Licht- und Blickführung stets anregende Raumfolgen zu schaffen. Vom Vorplatz bis in die Lehrküche geht die qualitätvolle Anmutung nie verloren. Daß der mit den tragenden Stahl- und Stahlbetonteilen befaßte Konstrukteur bei der Ausreizung der Raumwirkungen nicht mitwollte, ist letztlich eine architektonische Marginalie, die von der disziplinierten Materialisierung der Hauptbauteile, der präzisen Detaillierung und Möblierung des Komplexes leicht in den Schatten gestellt wird.

Glatter Sichtbeton ist der Basiswerkstoff; außen treten das Lärchenholz der Fassadenschalung und das Aluminium der Fensterrahmen kontrastierend hinzu, innen unverputzter Ziegel für Zwischenwände und Serpentin als Bodenbelag. Auf klarem Grundriß organisiert, ergibt sich eine ruhige Architektur – mehrdeutig, formkonsequent, zeitfühlig. Das transparente Erschließungssystem der Schule wirkt als Weiterung des öffentlichen Raumes.

Obwohl gute Schulhäuser immer Aspekte des Privaten und des Öffentlichen zusammenziehen, hier ist durch die räumlichen Querverweise zwischen den eng verschränkten Nutzungen – die dann in zufällige Begegnungen zwischen Menschen münden – stärker als sonst Offenheit spürbar. So können Trainingszentren demokraticher Kompetenz aussehen. Daß gerade in dieser vorbereiteten Umgebung schulautonom das Fach „Soziales Lernen“ erfolgreich entfaltet werden kann, überrascht nicht.

Ludwig Wittgenstein hat längst den Zusammenhang hergestellt: „Die Arbeit an der Philosophie ist – wie vielfach die Arbeit in der Architektur – eigentlich mehr die Arbeit an einem selbst. Daran, wie man die Dinge sieht. (Und was man von ihnen verlangt.)“ Hier wurden die Dinge schon anfangs scharf gesehen. Nun darf man auch viel von ihnen verlangen.

20. Februar 1999 Spectrum

Aus meiner Pannonisiertrommel

Die Naturlandschaft stellt hohe Ansprüche ans Bauen. Gerecht kann man ihr mit zwei gegenläufigen Strategien werden: Tarnung oder Figuration. Viele Bauherren können sich nicht entscheiden und werden zu kulturellen Rückfalltätern. Ein Tatortbericht.

Die schlichte Sentenz des Tessiner Architekten Luigi Snozzi ist bei Fragen nach der architektonischen Beherrschbarkeit von Territorium noch immer hilfreich: „Jeder Eingriff bedingt eine Zerstörung: Zerstöre mit Verstand.“ Snozzi meint, daß man zu sinnvollem Bauen in Stadt und Land nur über das Abwägen von räumlichem Verlust und Gewinn gelangt. Niemals beginnt ein Bauvorhaben an einem voraussetzungslosen Nullpunkt, und keines führt naturgemäß nur auf einen Gewinn. Jeder Ort hat bereits respektable Eigenschaften: eine eigentümliche Geometrie, seine eingeprägte Geschichte, immanente Geologien et cetera.

Jeder Architekt ist gut beraten, die Lebenslinien eines Ortes weiterzuführen, die unvermeidlichen Verluste durch zugewonnene Nutz- und Gestaltwerte mehr als auszugleichen. Ein guter Bauherr wird offensiv nach diesem Gewinn streben und dabei den Architekten fordern, ein durchschnittlicher Bauherr wird den immateriellen Gewinn nicht suchen, ein schlechter Bauherr vernichtet den architektonischen Mehrwert mit kurzschlüssiger Eigenmächtigkeit. Letzteres ist hier zu beklagen.

Nach heimischen Bauordnungen ist eine Baubewilligung dann zu versagen, wenn das Vorhaben eine erhebliche Störung des Orts- und Landschaftsbildes abgeben könnte. In einer Ortschaft sind mit dem Baubestand und Bebauungsplänen einigermaßen tragfähige Referenzen zu einer solchen Beurteilung gegeben. Trotzdem gibt es gebaute Fehlurteile sonder Zahl.

In Landschaftsteilen, die nicht in einem Blickfeld mit Siedlungen wahrnehmbar sind, ist die Beurteilung auf ästhetische Umweltverträglichkeit noch prekärer. Da greifen die schon für einen Stadtkörper schwammigen Begriffe Einfügung, Anpassung oder Harmonie nicht mehr. Ein Solitärkörper mit einer Sondernutzung in freier Natur sollte zumindest so sehr der Zeit wie dem engeren Umraum entspringen. Die Anbiederung an rasch alternde Architekturmoden hilft da sowenig wie jene an rurale Formpopulismen. Eine abstrahierende Figuration der Zwecke wäre gefragt.

Statt dessen erfaßt der vorauseilende Gestaltgehorsam vor Trivialtouristen- und Volksmusikliebhabermassen nun auch große Infrastrukturinvestitionen. Aus freien Stücken hat sich der kommunale Abwasserverband Großraum Bruck an der Leitha/NeusiedlamSee dazu entschlossen, seine 1998 fertiggestellte Kläranlage, die gut sichtbar an der Ostautobahn und an der Leitha steht, regionalpolitisch korrekt hinter einem Banalbild von vorgestern zu verstecken.

Da man sich hier automobilistisch am „Tor zu Pannonien“ – nicht etwa am Weg nach Europa – wähnt, waren Schwungvergiebelung und Rotdachbeziegelung als Wegweiser in den Osten unumgänglich. Bei einem Pirschgang auf Rustikalmotive haben die hier planenden Zivilingenieure Lengyel & Binder, Lang und Bichler & Kolbe offenbar ihre Pannonisiertrommel beim Zitatepflücken rund um den Neusiedlersee prall gefüllt. So konnte dem Wunsch der Bauherrschaft nach fernwirksamer Beheimatung im Pannonisch Plattenseeligen rasch und tatsächlich ohne Kostenerhöhung gefolgt werden.

Warum eine Anlage, deren Standort und Konzeption sorgfältig optimiert wurden, deren Funktionalität außer Streit steht, deren Investitionskosten von etwa 370 Millionen Schilling (26,89 Millionen Euro) das präliminierte Ausmaß deutlich unterschreiten, eine derartige regionalistische Behübschung braucht, ist rätselhaft.

Die groteske Abrüstung des ganzen Ensembles zum pannonischen Bauernhof taugt weder kultur- noch naturräumlich als Tarnung. Bei einer öffentlichen Bauaufgabe wäre eine aus der Nutzung abgeleitete signalhafte architektonische Figur zu erwarten gewesen. Dazu hätte man sich mangels Bewußtseinslage der Bürger und der Medien oder gar selbstgestellter kultureller Verantwortung nie verstiegen.

So behängt der Bauherr den positiv besetzten Bau freiwillig mit der Bleiweste der Provinzialität, um auch noch ihn im Banalmeer der Ortsbildschönungen untergehen zu lassen. Unter dem Sparsamkeitsdruck öffentlicher Haushalte gilt ein Abwasserverband heute dem Wahlvolk als hinreichend verantwortungsvoll, wenn er möglichst wenig Geld verbraucht. Sparsamkeit wird fälschlich mit Billigkeit gleichgesetzt, die Zweckmäßigkeit der zeitgemäßen Form daher überhaupt nicht erwogen.

Statt auf Angemessenheit setzt der Bauherr in Bruck auf Untertreibung. Bis in ferner Zeit einmal von Politikern die Gesamtverantwortung für die Umwelt, also auch für die ästhetische, verbindlich eingefordert werden kann, sollte gerade das Bundesministerium für Umwelt, Jugend, Familie die gemäß dem Umweltförderungsgesetz ausgeschütteten Gelder an die bauliche Erfüllung architektonischer Kriterien knüpfen. Ohne Zwang sind sichtlich nicht einmal der Stand der Technik und die Befassung befugter Personen –beides in den Förderrichtlinien explizit verankert und Architektur durchaus implizierend –gewährleistet. – Die bei Kläranlagen fachlich berufenen Ingenieure beziehungsweise Controller haben im Zeitalter der ihren Berufsstand zersetzenden Planungshonorarkämpfe nicht mehr die Kraft, im Sinne eines ganzheitlichen Lösungsansatzes auch den Gestaltungsaspekt zu vertreten. Der Anlagenplaner hat hier lieber das Hochbauthema dilettierend an sich gezogen, als auf eigene Kosten einen ambitiösen Architekten beizuziehen. Daß das zielführend ist, zeigt das von Kurt Ackermann überformte Klärwerk Gut Marienhof bei München vorbildhaft.

Sensiblere Passanten scheitern bereits beim Flughafen Schwechat, robustere werden nun in Bruck, die härtesten letztlich angesichts des Factory-Outlet-Centers in Parndorf von der Autobahn abkommen. Aber alle hätten wissen können: Der Balkan beginnt mitten in Simmering. Hier läuft die Zerstörung noch wie gehabt.

16. Januar 1999 Spectrum

Partituren der Unschärfe

Ob sich die neueren Wiener Siedlungsinseln je in das Stadtganze integrieren lassen, ist fraglich: Sie bieten zu wenige Optionen für eine durchgreifende Verstädterung. In Wien-Meidling setzt man jetzt auf eine längerfristige Aneignungsdynamik.

Stadt ist nicht planbar, sie stellt sich über kurz oder lang ein. Der Städter er zeugt seine Stadt, indem er sich auf vorbereitete Strukturen einläßt oder zufällige Konstellationen nutzt und in seinem Sinne verändert. Stadtplanung kann diese Selbstdefinition eines dicht genutzten Raums kanalisieren, aber nicht erzwingen. Richtige Ausgangsbedingungen können die Ausdifferenzierung der Stadt beschleunigen, falsche können sie verzögern.

Viele Definitionsversuche von Stadt operieren sinnfällig mit dem Begriff „Organismus“. Da mit ist das Wesen der Stadt angesprochen, ihre stetige Veränderung, die Unumkehrbarkeit ihrer Entwicklung, die Ungleichzeitigkeit von Stadtidee und Stadtkörper. Städte räumen Chancen ein und bilden gleichzeitig Entwicklungsbarrieren. Für Stadträume könnten Klassen des Widerstands gegen Eingriffe angegeben werden, um zu erklären, wo und wann Interventionen in die bestehenden Verhältnisse chancenreich sind.

Eine weitsichtige Stadtplanung sollte die Widerstände gegen die individualistische Dynamik der Stadtentwicklung generell senken, aber das Gedeihen des Öffentlichen nicht außer acht lassen. Methodendiskussionen in der Stadtplanung kreisen daher immer um die Art der minimalen Festlegungen, die stadträumliche Entwicklungen noch steuern können. In Wien neigt man nach Abklingen des Erweiterungsschubes der frühen neunziger Jahre rückblickend zur Auffassung, daß sich städtischer Charakter in den Quartieren nur an vielen architektonischen Handschriften manifestiert, ohne wirklich flexible, variable, vielfältige und zukunftsoffene Strukturen zu etablieren. Die planerische Selbstfesselung entspricht jahrzehntelanger Tradition und ist maximal.

Das wäre akzeptabel, wenn die Viertel strategische Raumreserven enthielten und diese von einem Stadtteilmanagement weiterentwickelt würden. Da kein komplexer Prozeß zonierter Verstädterung begonnen, sondern mit den bekannten Planungs und Finanzierungsinstrumenten manchmal durchaus erfreuliche Wohnanlagen gebaut wurden, ist der erträgliche Anfangs auch schon gleich der einer Stadt definitionsgemäß nicht zuträgliche Endzustand.

Die eingeschliffene Praxis der Stadtplanung legt also längst eine Reform der Stadterzeugung nahe, die beim theoretischen Überbau und bei ganzheitlicheren Entwicklungszielen ansetzen muß. 1996 wird dieses Problembündel vom Wiener Magistrat im Millenniumsworkshop „Die konkrete Utopie – Strukturelemente der Stadt“ gemeinsam mit Fachleuten aufgeschnürt.

Die teilweise sehr konkreten Ansätze wurden gleich auf eine interessante Industriebrache in Wien-Meidling, das von der U6 gut erschlossene, von heterogenen Wohnquartieren umgebene Gelände der Kabel und Draht werke AG, projiziert. In der abschließenden Publikation zeichnet sich bereits ein politisch und planerisch, aber auch von Anrainern und Bauträgern akzeptierter Handlungsrahmen für eine „Stadt der Zukunft“ ab. Mit dem kürzlich entschiedenen Ideenwettbewerb „Stadt 2000“ wurde die Probe aufs Exempel gemacht, die Fachwelt auf ihre ortsbezogenen Strategien zur Stadtraumbildung befragt.

Klar erstgereiht und zur Konkretisierung vorgesehen wurde das Konzept der Wiener Projektgemeinschaft aus RainerPirkers ARCHItextureteam und the POOR BOYs ENTER PRISE, der Architektengruppe bestehend aus Ernst J. Fuchs, Marie Therese Harnoncourt und Florian Haydn. Ihr von sprachlicher wie bildlicher Poesie getragenes Projekt imaginiert das 6 Hektar große Gebietals „dyn@mosphäre“, als „Infrafragment“ des Stadtorganismus. Flexibler als in der schon gefestigten Umgebung soll ausgehend von einer möglichst allgemein gehaltenen Raummatrix Selbstorganisation im Sozioökonomischen induziert werden.

Die Suche nach einer spezifischen Sehnsuchtsform des Städtischen beschränkt sich naturgemäß nicht auf eine pragmatische Planungstechnik: Vorgeschlagen und in seiner Tiefe noch gar nicht auslotbar, aber erfolgversprechend wird ein kompositer Ansatz der Stadt(er)gründung aus wissenschaftlicher Forschung und künstlerischer Einfühlung. Theodor W. Adornos Ansage aus der Ästhetischen Theorie klingt durch: „Kunst berichtigt die begriffliche Erkenntnis, weil sie, abgespalten, vollbringt, was jene von der unbildlichen Subjekt-Objekt-Relation vergebens erwartet: daß durch subjektive Leistung ein Objektives sich enthüllt.“

Was hier in Gang gesetzt wird, ist ein Strategiespiel mit strengen Regeln und ernsthaftem, aber nicht absehbarem Ausgang. Geschrieben steht vorerst eine primäre Partitur der Unschärfen, die verhindert, daß voreilige Festlegungen das Prinzip Stadt im Endgültigen der Nutzungen ersticken. Das Ziel, in einer nie vollständigen Detaillierung entlang stetig verfolgter „Leitlinien“ Stadt zu schaffen, mutet abstrakt an, bedarf aber einer Vielzahl konkreter Einlassungen, einer Hierarchie der Eingriffe, einer Logistik der Problemlösungen.

In die urbanistischen Anfangsbedingungen werden „Keime“, „Relais“ und „Felder“ ein gebracht, um den „Organismus zum Wachsen zu bringen“, das „Agitationsfeld der Benutzer“ zu erweitern. Dem Ort immanent ist eine „unsichtbare Ordnungsstruktur“, die sich als dichtes Geflecht aus Grundstücksgrenzen, Bau und Höhenschichtlinien, Wirkungskreisen et cetera abzeichnet. Dieses Spielfeld wird weiter akzentuiert durch Baukörper und Freiräume unterschiedlicher Privatheit und Öffentlichkeit: „Impulsatoren“ ziehen Passanten an, „Lungen“laden zum Spiel und Flanieren im Grünen ein, „Attraktoren“ fördern Sozialkontakte, „Schaltzonen“ puffern temporären Raumbedarf der Bewohner ab, „Transformatoren“ lenken Bewegungen im Stadtraum.

Mit solchen Spielfiguren, die bezeichnenderweise noch keine Entsprechung in der Planungs- und Alltagssprache haben, werden die Regeln deutlicher, nach denen das Stadtspiel stattfinden wird. Klar sind schon die Teilnehmer: alle, die Hoffnungen auf das Territorium projizieren. Damit ist es keine alleinige Fachplanung mehr, sondern ein politischer Akt, ein Bürgerforum neuen Typs, das auf die Verdichtung der kollektiven, mentalen Stadtkarte und deren Verräumlichung abzielt.

Der Erfolg dieses Freispielens wird von der Disziplin der Spieler und der Regelfestigkeit der Schiedsrichter abhängen. Jean François Lyotards „postmodernes Wissen“ hilft hier: „Die Gerechtigkeit wäre folgende: der Vielfalt und Unübersetzbarkeit der ineinander verschachtelten Sprachspiele ihre Autonomie, ihre Spezifität zuzuerkennen, sie nicht aufeinander zu reduzieren; mit einer Regel, die trotzdem eine allgemeine Regel wäre, nämlich ,lasst spielen ...und lasst uns in Ruhe spielen.‘“

5. Dezember 1998 Spectrum

Blau aus der Dorfzentrifuge

Lustenau, Vorarlberg: ein Großdorf, aber noch lange keine Kleinstadt. Die Dorfstruktur ist erhaltenswert, bedarf aber einer zentrierenden Mitte. Bruno Zur-kirchen und Daniele Marques haben nun den Kirchplatz als solche gestaltet.

Das Vorarlberger Rheintal hat durch die Wechselwirkung der weiten Ebene mit den Bergsilhouetten ein einmaliges Gepräge. Als charakteristische Phänomene treten noch dauerfeuchte Westwetterstaus und ein irritierender Siedlungstyp hinzu, den man in dieser Sortenreinheit in anderen Bundesländern nicht kennt: das schier endlose, richtungslose Dorf. Lustenau ist dessen bekannter Prototyp und unterscheidet sich strukturell deutlich von Bregenz oder Dornbirn.

Während letztere durch ihre Gliederung mit Kern und Rand, durch ihre Lage in starkem Gelände, durch ihre regional bedeutsamen Angebote als Städte einzuschätzen sind, gilt Lustenau trotz seiner etwa 20.000 Einwohner als Dorf. Die auffällige Sonderheit der Ortschaft ist in einer Randlage zu Vorarlberg ausgeprägt worden, sie manifestiert sich im Selbstverständnis der Bewohner, in der Sprache, aber auch im Siedlungsmuster. Lustenau ist ein wohlhabender Industriestandort mit agrarischem Gepräge.

Der Ort ist attraktiv für das Wohnen, weil das Private dominant ist, aber für Unkundige durch die aus sieben Weilern zusammengewachsene Bebauung schwer orientierbar. Die Siedlungsemulsion aus Einfamilienhäusern und kleinen Gewerbeanlagen hat sich bis in die neunziger Jahre nirgends zu einem Zentrumsraum verdichten lassen, höchstens der „Kirchdorf“ genannte Bereich um die katholische Pfarrkirche, den Friedhof und das Rathaus fällt auf.

Eigentlich beginnt die nun abgeschlossene erste Zentrierung Lustenaus schon Ende der fünfziger Jahre. Durch den Verzicht der Gemeinde, die an den Kirchplatz grenzende Liegenschaft für eigene Zwecke zu erwerben, kommen an dieser strategischen Stelle kommerzielle Nutzungen zum Zug. Gleichzeitig setzt die Gemeinde mit der Errichtung des noch heute bestechenden Rathauses neben der Pfarrkirche ein wirksames Zentrumszeichen. Es liegt zwar nicht am Platz, aber gibt dem Ensemble rundum kommunale Bedeutung.

1983 erfolgt über einen baukünstlerischen Ideenwettbewerb ein nächster Konkretisierungsschritt, gesucht sind Entwürfe für die Gesamtgestaltung des Ortszentrums. Das Ergebnis dieses Verfahrens überzeugt mehr durch das klare Bekenntnis zum Platzraum als durch die dann errichteten Bauten. Der als Kulturhaus gedachte Reichshofsaal entwickelt zwar eine der Kirche ebenbürtige Präsenz, seine Gestik wirkt aber grotesk überzeichnet. Über die Banalität der beiden später entstandenen Eckhäuser, die nun das Gegenüber der Pfarrkirche abgeben, breitet man eingedenk der Vorarlberger Standards besser den Mantel des Schweigens.

So ergibt sich 1990 ein Platzfragment, das seine intendierte Rolle als Reservoir des Öffentlichen noch immer nicht übernehmen kann. Durch die ungelöste Individualverkehrsproblematik überfordert, aber vor allem von der Absenz des Urbanen belastet, erklärt sich der Ort nicht von selbst. Den Durchbruch schafft neuerlich ein Wettbewerb. Diesmal stellt die Gemeinde gemeinsam mit der regional bekannten Unternehmerfamilie Sutterlüty die Frage nach einem Ersatzbau für den Selbstbedienungsmarkt an der Südseite. Daß damit endgültig der langgehegte Zentrumswunsch Lustenaus zur Disposition stand, war den Gemeindevätern und der Jury bewußt.

Die Entscheidung für das schneidige Projekt der in der Deutschschweizer Szene seit längerem hervorstechenden Luzerner Architekten Daniele Marques und Bruno Zurkirchen kommt daher nicht überraschend. Es arbeitet nämlich die ortsplanerischen Halbherzigkeiten der Vorläufer radikal auf, es schlägt einen für den Ort lebenswichtigen, ungewohnt städtischen Ton an, es vollzieht eine für jedermann unmittelbar berührende, schlüssige Raumbildung: im halböffentlichen Bereich für den Kommerz, für die Bürger am Platz. Es beschert nach einer Planungsphase mit zeitintensiven Brüchen zwischen Bauherrschaft und Architekten doch einen - wenn auch nicht pflegeleichten und sofort konsensfähigen - Hochbau, nicht zuletzt auch noch eine überzeugende Platzfigur.

Marques und Zurkirchen thematisieren mit ihrer Architektur sinnfällig die Dreiheit von Instanzen, die eine Gemeinde prägen: Den Manifestationen von sakralem Kult und profaner Politik stellen sie das Merkantile ungeschminkt gegenüber. Denn das Öffentliche konstituiert sich aus der Überlagerung dieser Aktionsfelder einer Gesellschaft. Ihr Bau beschirmt mit einem weit auskragenden Vordach den Kirchplatz und stellt optisch dessen Symmetrie wieder her. Mit den Fassadenfluchten fassen sie die zuvor unkontrolliert in den Platzbereich mündenden Straßen ein und erzeugen akzentuierte Raumfolgen für den Passanten. Es kommt hier erstmals zu städtisch anmutender Nähe zwischen Bauwerken. Dichte deutet sich an.

Im Erdgeschoß des ganz in Holz konstruierten, mit transluzenten Kunststoffstegplatten bekleideten Baus befinden sich zum Platz geöffnet der Sutterlüty-Markt, eine Gasthausbrauerei und ein Blumenladen. Die wichtigere Seitenfassade ist von einer Ladenzeile für den täglichen Bedarf bestimmt, an der Rückseite liegt die Rampe zum Parkdeck im Obergeschoß.

Ein ursprünglich als vertikaler Gegenakzent zum Kragdach auf dem Garagendach geplanter zweigeschoßiger Wohntrakt konnte nicht ausgeführt werden. So sieht man sich bei Tag einer ihre Details exhibitionistisch vorführenden Skulptur gegenüber, die ihre Distanzwirkung aber in großen Einheiten als geschichteter Baukörper entfaltet und die bei Dunkelheit durch Be- und Hinterleuchtung zum blickfangenden Stadtlampion mutiert.

Von den Gemeindeverantwortlichen, die dieses überraschende Potential an Außenwirkungen erkannt hatten, wurden Marques und Zurkirchen auch mit der Planung des Kirchplatzes beauftragt. Obwohl Lustenau seit Jahrzehnten von „blauer“ Politik bestimmt ist, das Volk während der Bauzeit mit 56 Prozent gegen den Platzentwurf votiert hat und es zu heftigen Polemiken um die neue Mitte Lustenaus gekommen ist, vollendet nun ein fast leerer, mit blauem Bodenbelag „gehöhter“ Freiraum das Zentrumsstreben Lustenaus.

Wenn man ein disperses Gemenge „klären“ will, dann setzt man gern auf die trennende Zentrifugalkraft. Die Siedlungsmelange Lustenaus verlangt nach einer räumlichen Separierung, und Marques und Zurkirchen haben intuitiv die Ortszentrifuge in Gang gesetzt und die alles sättigende Privatemulsion ausgetrieben, um endlich einer sauberen Mitte auf den Grund sehen zu können. Und siehe da: Er ist blau wie ein klarer Abendhimmel. Wie befreiend das nach langem, nebeldumpfem Unterlandwetter ist!

31. Oktober 1998 Spectrum

Ein Blickmagnet am Bodensee

Bregenz versteht sich als Seestadt - und beklagt ein prekäres Verhältnis zum Ufer: Bahngleise halten das Stadtleben von der Wasserkante fern. Rudolf Prohazka setzt mit seinem Tourismushaus endlich ein Signal zur Überwindung der Barriere.

Der Wunsch, das Seeufer zu kultivieren, prägt die Bregenzer Baugeschichte erst seit etwa 150 Jahren. Bregenz war nie eine typische Uferstadt mit einem um den Hafen konzentrierten Zentrum, vielmehr entwickelte sie sich auf Terrassen am Hang des Pfänders. Die Landnahme am See - teilweise durch Aufschüttung - ist eine merkantil-bürgerliche Konzeption des 19. Jahrhunderts.
Die Einschätzung des Uferstreifens zwischen Mehrerau und Lochau hat sich zeitbedingt stark geändert. Vom stadtparkähnlichen Ort des Lustwandelns bis zum kommerzialisierten Festspielbezirk, vom Seglerdorado bis zum hochrangigen Verkehrsband mit Hafenanschluß reichen die stadtplanerischen Zielvorstellungen, die sich nun im Zentralbereich widersprüchlich gegenüberstehen.

Kern des permanenten Nutzungskonflikts ist die Barrierewirkung der 1870 bis 1872 errichteten Vorarlberger Bahn. Der seinerzeit geleistete Widerstand gegen eine Führung des Bregenzer Abschnitts in Tunnels hat sich nach Fertigstellung der Strecke bald in Ernüchterung gewendet. Trotz der bis dahin nicht sehr hohen Wertschätzung der Seeseite bemüht man sich seitdem um die Aufwertung der vom See wahrnehmbaren Silhouette der Stadt.

In diesem Sinne erarbeitet der Wiener Architekt Kurt Klaudy bereits 1945/46 ein Projekt zur Untertunnelung von Bregenz, in dem er auch detaillierte Aussagen über eine neue Stadtkante zum See macht. Basierend auf dem Abbruch des Bahnhofs und einer fast zwei Kilometer langen, unterirdischen Strecke, will er die Stadt aus der Umklammerung befreien.

Bemerkenswert ist sein auch heute wieder angestrebter Versuch, ein „Seegesicht“ entlang einer „lebenden“ Kante aus mehreren Baublöcken zu formen. Klaudy gibt sich 1948 keiner Illusion hin: „Die Erfüllung dieser erstmalig gestellten Großaufgabe wird nicht leicht sein. Der Vorarlberger zeigt keine Vorliebe für große städtebauliche Wirkungen, geschweige denn für Monumentalität. Sein ganzes formales Denken ist vom Eigenhaus erfüllt.“

Ein halbes Jahrhundert später ist ein so radikaler Neubeginn wegen unkoordinierter Teillösungen nicht mehr realistisch. Die Stadt muß heute mit begrenzteren städtebaulichen Mitteln den wichtigen Kontakt zum See suchen. Der aktuelle Handlungsrahmen ist durch das Gelände des abgebrochenen Bahnhofs, das „Seestadtareal“, abgesteckt. Es spannt sich zwischen der verkehrsberuhigten Bahnhofsstraße und der an die Bahntrasse verlegten, stark frequentierten Bundesstraße auf. Der See ist etwa 100 Meter entfernt.

Seinen Ostrand bestimmt der neue, plump gestaltete Bahnhof mit seiner unglücklichen Seitenposition neben dem Gleiskörper. Er wird weder der Ufer- noch der Tunneloption wirklich gerecht, fixiert aber als gedanklicher Zwitter die alte Trasse erst recht und belastet alle weiteren Absichten.

Seeseitig der nur an wenigen Brücken und Unterführungen durchlässigen Bahnbarriere hat sich aus Festspielhaus, Casino, Hotel und Stadion ein unübersichtliches Kultur- und Erholungsensemble entwickelt, welches das vorzügliche naturräumliche und infrastrukturelle Potential des Ortes ungenützt läßt. Den westlichen Abschluß der Brache bildet ein Seegalerie benanntes Geschäftshaus, an das das nun fertiggestellte Tourismushaus schließt.

Mit diesem aus einem österreichweiten Wettbewerb mit internationalen Zuladungen hervorgegangenen Bau setzt Rudolf Prohazka erstmals einen Teil des auch von ihm entwickelten Seestadt-Projekts um. Er verwirft eine bereits fertige Bebauungsplanung, die eine willkürliche Megastruktur vorschlägt, neben der wertvoller Boden großflächig ungenutzt bliebe.

Rudolf Prohazka legt ein feingliedrigeres Bebauungsprinzip mit getrennt zu bearbeitenden Stadthäusern auf selbständigen Parzellen vor. Gemeinsam ist ihnen ein zusammenhängender Innenhof. Die Gebäude sollen einheitlich fünf Geschoße und Geschäfte, Büros und Wohnungen beinhalten. Damit wird im Osten der jetzt verloren wirkende Bahnhof zumindest strukturell eingebunden, im Westen an der Montfortstraße durch die Rücknahme der Bebauung ein städtebaulich wichtiger, da zum See offener Vorplatz für das vis-à-vis situierte Tourismushaus geschaffen. Noch dient der größte Teil des Seestadtareals nur als Parkplatz.

Das Tourismushaus bestätigt die Leistungsfähigkeit von Prohazkas urbanistischer Vision - was eigentlich die Fachwelt nicht überrascht. Rudolf Prohazka, 1947 in Ortmann geborener, in Wien ausgebildeter und praktizierender Architekt, realisierte in den letzten zehn Jahren mehrere durch Klarheit und Transparenz bestechende Privatbauten, bewies vor allem mit leider nicht verwirklichten städtebaulichen Entwürfen seine starke Affinität zum großen Maßstab und zu weitsichtig konzipierten Stadtstrukturen.

Insbesondere sein 1989 verfaßter Entwurf für das Regierungsviertel St. Pölten ist jenes Konzept, mit dem dieses Vorhaben von einer regional mächtig wirkenden zur international bedeutenden Architekturmanifestation hätte aufsteigen können. Das die Traisenlandschaft rechteckig weitgreifend einfassende Landhaus war in seiner politischen Symbolik, seiner städtebaulichen Gestik und in seiner architektonischen Konsequenz für die Jury überfordernd, weil dem damals gängigen Suchraster nach einem repräsentativen Objekt zu weit voraus. Prohazka schlägt in seinen Projekten eben immer optionsreiche Ausgangszustände vor, er zeigt raumanalytisch hilfreiche, ästhetisch und technisch ausgereifte Strukturen auf dem Weg zur Problemlösung, aber nicht die Lösung selbst.

Die kann der Nutzer durch qualifizierten Gebrauch verwirklichen, die kann erst die langfristige Nutzung verifizieren. Prohazkas Entwürfe sind daher vorweg an der Präzision zu messen, mit der sie die Aufgabenstellung sezieren. Derart eröffnen sie spezifische Potentiale: auf der Suche nach dem Tourismushaus begründet die Jury ihren einstimmigen Beschluß damit, daß „das Projekt durch seine Offenheit eine große Potenz für differenzierte Entwicklungen“ hat. Im Ansatz qualifiziert hat es sich durch sein klares Bekenntnis zur Verbindung von Öffentlichkeit und Privatheit, also durch eine intensive Beziehung von Innen- und Außenraum. Prohazka bietet eine Wahrnehmungshilfe für den Stadtgebrauch an: Er wirbt bei den Passanten um Aufmerksamkeit für das Einsteigen in die Vertikale, also für die Geschäfte und Büros in den Obergeschoßen, aber auch für das Eintauchen in das weit aufgeschnittene Untergeschoß, in die unterirdische Passage zum See.

Gewissermaßen soll der öffentliche Horizontalschub der Fußgängerzone in die Senkrechte umgelenkt werden. Das Tourismushaus ist ein optisch anziehend wirkender Magnet, der schon auf mittlere Distanz zum tätigen Gebrauch anregen will. Darin unterscheidet es sich grundsätzlich von der fast sakralen Hermetik des nahen, die Stadtsilhouette mitprägenden Kunsthauses, das staunen läßt, aber zumindest von der Seeseite niemanden direkt anzieht.

Das Tourismushaus gibt sich aufklärerisch und einschließend, das Kunsthaus mystifizierend und ausschließend. Beide sind auf ihre Art kaprizöse Architekturen - in der Auffassung von Öffentlichkeit sind sie diametral. Bei ersterer stellt sich Baukunst in den Dienst der Stadt, bei letzterer - trotz öffentlicher Zwecke - ist sie Dienstbarkeit eines privatisierten Kults.

Die Hauptschauseite des Tourismushauses mit der weiten Auskragung wendet sich nicht zum See, sie sucht Kontakt zur Stadt. Nur auf dem vorläufig zum Bahnhof weiträumig offenen Vorplatz kann sich der Aufforderungscharakter des präzis geschnittenen Glaskörpers entfalten. Die nahe Bundesstraße läßt fast kein Vorland für Fußgänger zu, sie erfordert sogar eine Abschrägung des Sockels. Der gestufte Baukörper mit den beiden aufgeständerten Hauptgeschoßen und dem zurücktretenden Dachgeschoß reflektiert durchaus die Bregenzer Fassadengrammatik, allein die Entmaterialisierung der Fassaden bricht mit dem Ortsüblichen und läßt die Dresscodes der Vorarlberger Szene vergessen.

Der kleine Anteil beweglicher Fassadenteile läßt schon das avancierte Haustechnikkonzept erahnen, das auf sichtbare Heizkörper und Klimatisierung verzichten kann. Die offenen Betondecken sind speicherwirksam, Heizungs- und Kühlungs-, aber auch Frischluftleitungen durchziehen sie und garantieren auch den Innenräumen asketische Anmut.

Daß sich das Haus schonend, aber wirkungsvoll Kälte wie Wärme aus der Ummantelung der Untergeschoße, also aus der Umwelt holt, ist Symptom für den katalytischen Charakter dieser Architektur, die sie intelligenten Apparaten verwandt zeigt: Sie reagiert auf feine systemgerechte Impulse mit deren Verstärkung, aber sie ist gleichzeitig fehlertolerant gegenüber groben Störgrößen. Zahllose Passanten lassen sich von diesen „Signalen“ über die latente Fehlstelle des Stadtkörpers hinweghelfen.

17. Oktober 1998 Spectrum

Das Manufakt im Umbruch

Hohe Arbeitskosten, überbewertete Traditionen, industrielle Konkurrenz: das europäische Kunsthandwerk steht unter Druck. Mit einer qualifizierten Reform versucht die renommierte Königliche Porzellan-Manufaktur Berlin einen Ausweg aus der Krise.

Porzellan, das als luxuriöser Hausrat geschätzte Weiße Gold, ist seit dem frühen 18. Jahrhundert in Europa hergestellter Ausdruck verfeinerter Lebenskultur. Etliche Manufakturen, wie etwa jene in Meißen, erreichen in der Gefäßkeramik und der freien Bildnerei bald künstlerischen Rang. Die reife technische wie formale Qualität dieser Produkte läßt ein hohes Berufsethos auf Seite der Produzenten und eine dauerhafte Wertschätzung auf Seite der Kundschaft wachsen.

Lebensstile wollen bei gedecktem Tisch begründet oder befestigt werden. Zu zeitgenössischer Repräsentation eignen sich aber viele heute unter traditionellen Marken produzierte Porzellane nicht mehr, da sie entweder formal unbefriedigend oder schlicht unerschwinglich sind. Die Manufakturen befinden sich daher generell in einer defensiven Situation. Ihr letzter Gedankenaustausch mit der Avantgarde geht oft auf die Moderne der zwanziger Jahre oder gar auf den Jugendstil zurück.

Die Wiener Manufaktur Augarten versucht noch jetzt, die Angebotslücke zur Gegenwart mit Josef Hoffmann und Vertretern der Wiener Werkstätte zu überspielen. Mit dem Verzicht auf neue Produkte bricht aber der Kontakt zu den nächsten Käufergenerationen ab, junge kulturelle Eliten bauen keine Affinität mehr zu den alten Eliteprodukten auf. Auch die Königliche Porzellan-Manufaktur Berlin (KPM), gegründet 1763 und dafür berühmt, immer wieder am Puls der Zeit gewesen zu sein, zehrt seit mehr als einem halben Jahrhundert von ihrer künstlerischen Substanz.

Einen ökonomischen Kollaps verhindert der Eigentümer der KPM, das Land Berlin, ebenso wie einen Verkauf. Statt dessen wird 1989 ein interdisziplinärer Beirat berufen, der eine Neuorientierung der Produktpalette einleiten soll.

Durch Beschränkung auf Spitzenleistungen der Vergangenheit, etwa den klassizistischen und neusachlichen Modellschatz, soll Kraft frei werden für die Weiterentwicklung des Unternehmens. 1993 wird der renommierte Generalist für alle gestalterischen Wechselfälle, der 1932 geborene, in Mailand lebende und neuerdings in Wien lehrende Enzo Mari, beauftragt, das jahrzehntelang ruhende Potential der KPM zu beleben.

Mari dokumentiert seit den frühen fünfziger Jahren mit seinen Arbeiten, die dem Design, der Architektur, der bildenden Kunst, aber auch der wissenschaftlichen Forschung zuzurechnen sind, daß er ein pragmatischer Weltverbesserer ist, ein Humanist mit ästhetischem Feingefühl und Blick für das Ganze eines Problemfeldes.

Dementsprechend kann er sich bei KPM nicht auf das Zeichnen eines neuen Geschirrs beschränken, sondern analysiert, was die Chancen einer großen Porzellanmanufaktur in Europa sein können. Ihm erscheint bald evident, daß solch ein altmeisterlich arbeitender Betrieb nur weiterexistieren kann, wenn die öffentliche Hand, wie bei einem erstklassigen Opernhaus, den Bestand sichert.

Damit ist das Unternehmen zwar von der ausschließlichen „Logik des Kapitals“ befreit, aber gleichzeitig angehalten, die „Logik der Unternehmenskultur und der sozialen Verantwortung“ zu verinnerlichen. Eine solche Manufaktur neuen Typs kann sich also nicht als geschützte Werkstätte verstehen, die ohne Marktkontakt ihrer Geschichte nachhängt, sondern hat ihre Kompetenzen neu zu ordnen.

Als Arbeitsfelder zeichnen sich für Mari ab: eine Abteilung für die vollständige Tradierung der alten Techniken, um Klassisches weiter zu produzieren und Neues in Kleinserien anzubieten; eine Abteilung, die einfachere Produkte in der ersten Welt industriell oder in der dritten handwerklich herstellt; eine Bildungseinrichtung, die alle Grundlagen der Qualitätsproduktion für Fachleute und Laien präsent hält; und nicht zuletzt ein Labor, das technologische und semiologische Forschung betreibt und die Ergebnisse kommerziell anbietet.

Mari hat diese Vision zumindest teilweise im Meisteratelier mit zwei Modelleuren und zwei Malern von KPM umgesetzt. Als Ergebnisse sind spindelförmige Vasen und das einprägsame Service „Berlin“ auf den Markt gekommen. Der von Mari initiierte Designprozeß hat eine umfangreiche Resonanz in den Fachmedien gefunden. Auch wenn heute industriell agierende Unternehmen wie Alessi den Markt für gehobenes Tischgerät beherrschen, für ein weißes Tafelservice von höchster Perfektion und moderater formaler Innovation wie das „Berlin“ gibt es eine strategisch anpeilbare Marktnische.

Zielgruppe sind Bauherrn, die sich um Architektur in ihrer Privatsphäre bemühen, Käufer von hochwertigem Mobiliar, die ihre Wohnsituation im Detail abrunden, und Nutzer von historischen Ambiancen, die auch in ererbten Qualitäten auf heutige nicht verzichten wollen.

Ihnen dient Mari klassische Kelchformen an, die hohen Wiedererkennungswert beanspruchen dürfen. An die großen Gefäße setzt Mari an ionische Kapitelle erinnernde, schlaufenförmige Henkel an, die Tassen haben ebenso handliche, stehende Henkel. Die schräg angesetzten Griffe der Deckel vervollständigen den spezifischen Ausdruck der sonst schlichten, aber sofort an Einzelteilen erkennbaren Objektfamilie. Skulptural betörend sind die kugelförmige Teekanne und der Stapel aus Suppen-, Speise- und Platzteller, wobei deren Fahnen konvex und konkav fein ausschwingen.

Enzo Mari setzt also auf eine einfache Grundform, die historische Assoziationen zuläßt, auf marktübliche Gefäßtypen, einwandfreie Ergonomie, auf eine wirtschaftliche Produktion, die handwerkliche Qualität einbezieht, aber auch ohne gemaltes Dekor zu einem ausgewogenen Produkt führt. Die Wiener Glasmanufaktur Lobmeyr ergänzt das Service seit kurzem mit passenden Glasschalen.

KPM hat damit einen ernsthaften, wenn auch nicht radikalen Schritt zu einer Wiederbelebung seiner Marke gesetzt. Die Akzeptanz dieser und anderer Manufakturen wird aber davon abhängen, ob eine Kontinuität der Erneuerung absehbar wird - sonst sind die Tage handwerklich geformten Porzellans als Kulturträger gezählt.

4. Juli 1998 Spectrum

Kommunaler Alpenattraktor

Keine schlichte Schachtel, sondern ein vielgliedriger Wohnapparat: Max Rieder entzog sich mit seinem Kindergarten in Salzburg-Aigen den gängigen Formerwartungen.

Gute Architektur reagiert auf Vorgaben der Gesellschaft, der Landschaft, der Wirtschaft et cetera und agiert in bewußter Stärkung oder Schwächung dieser Anfangsbedingungen im Sinne der Nutzer in Fortschreibung des Großraumes. Da verantwortungsvolles Bauen immer den Verlust bestehender Qualität mit dem Gewinn einer neuen aufzuwiegen versucht, interessiert besonders die Strategie eines gelungenen Abtausches.

Einklang und Angemessenheit können dann leistungsfähige strategische Ansätze sein, wenn das in Stadt und Land Vorgefundene nur im Positiven zu bestärken ist. Meist ist der Architekt aber mit einem widersprüchlichen Problemgeflecht konfrontiert, in dem er mit seinem Werk eine Klärung einleiten will. Freilegung verschütteter und Widerstand gegen praktizierte Ideen sind ebenso legitim wie neue.

Der Kindergarten in Aigen X des Salzburger Architekten und Kulturtechnikers Max Rieder führt exemplarisch vor, was eine vielschichtig dialogisierende Architektur, die vorwiegend aus dem Ort schöpft und dabei mit subtilen Mitteln einen neuen definieren will, leisten kann. Rieder baut ein höchstpersönliches Bekenntnis zu Salzburg, vollzieht letztlich eine psychotherapeutische Aufarbeitung eines in Jahrzehnten oft schmerzlich angereicherten „Stadtbildes“.

Der heuer fertiggestellte Bau reagiert feinnervig auf die latente Befindlichkeit der Architektur - die „Neue Bescheidenheit“ hat ihren Zenit überschritten, und statt elementarer Schachteln sind wieder Bauten mit stärkeren Physiognomien gefragt. Unmittelbar kommentiert der kommunale Kindergarten die bestehenden Vorstadtverhältnisse in Aigen, einer gutbürgerlichen Wohngegend mit auffallend vielen gestaltlosen Bauten, die sorglos mit dem hohen Landschaftspotential umgehen.

Automatisch ist damit die kulturpolitische Situation Salzburgs in der durch die Verhinderung großzügiger architektonischer Lösungen charakterisierten Ära nach Voggenhuber thematisiert.

Wenn für ganze Bauwerke, und nicht nur für einzelne Tragwerkselemente, ein Widerstandsmoment angebbar wäre, würde dieser Bauskulptur ein vieljähriger Höchstwert auf der nach oben offenen Salzburger Siza-Skala zustehen. Denn Aktion geht hier vor Reaktion, Risiko vor Gewißheit, Sinnlichkeit vor Rationalität, Räumlichkeit vor Konformität, Nutzwert vor Konvention, Kinderwahrnehmung vor Erwachsenenerwartung - alles, ohne die Funktionalität zu schmälern.

Eine Rückblende. Unter Johannes Voggenhuber erreicht das Architekturreformphänomen Salzburg um die Mitte der achtziger Jahre seine produktivste Phase. Noch in seiner Ära wird ein erstes Verfahren für einen Kindergarten Aigen abgehalten, ohne befriedigendes Ergebnis. Ein weiterer Anlauf scheitert an Voggenhubers Einwänden. Erst 1992, lange nach dessen Abgang, geht Max Rieder aus einem neuerlichen Wettbewerb als eindeutiger Sieger hervor. Der Baubeginn erfolgt schließlich erst im Februar 1997, nachdem budgetäre Gründe der Realisierung entgegengestanden waren.

Mehr als ein Jahrzehnt, eine international beachtete, architekturpolitische Reform und deren weitgehende Erosion werden benötigt, um einen viergruppigen Kindergarten zu planen und zu bauen. Bezeichnenderweise ist Max Rieders Bau die erste originär kommunale Architektur in der Stadt Salzburg seit Ernst Hoffmanns Feuerwehrgebäude, damit eigentlich deren erste Manifestation in architektonischer Moderne seit dem Zweiten Weltkrieg.

Der Kindergarten ist in diesem restriktiven Klima erwartungsgemäß zu einem Reibebaum geworden. Selbst das gegenüber dem Wettbewerbsbeitrag vereinfachte Konzept erregt in Aigen Anstoß. Aber es sind nicht die Kosten. Der Gesamtaufwand mit 6,5 Millionen Schilling (466.600 Euro) pro Gruppe liegt um eine halbe Million (35.900 Euro) über dem landesüblichen Durchschnitt. Wenn man den räumlichen Ertrag, die Aufenthaltsqualität in Betracht zieht, dann sind diese Kosten mehr als angemessen. Gerade in der mit Pflanzen, Möbeln und kindlichem Wandschmuck beschwichtigenden Nachrüstungsphase zeigt sich, daß es der Stadt nicht am Geld, sondern nur am Mut, zu einer einmal gefaßten, begründeten Entscheidung zu stehen, mangeln kann.

Die räumlichen Vorsorgen Rieders sind trefflich für die kindliche Wahrnehmung geeignet, weil variantenreich, wenn auch für Erwachsene unkonventionell anmutend. Die vier Schauseiten des stark gegliederten Komplexes leisten spezifische Aufgaben für die Nutzer, üben kalkulierte Wirkungen auf die Umgebung aus: zur Stadt die weit schwingende, vom aufgeständerten Runddach des einen Bewegungsraumes asymmetrisch bekrönte Eingangssituation, die Architekturen des Barock assoziieren läßt; zum noch weithin unbebauten Grasland im Süden die holzverschalten, wie Finger vortretenden, lapidar wirkenden Gruppentrakte; nach Osten der wie eine voralpine Höhung aus der Ebene in Kaskaden aufsteigende, komplexe Beton- und Putz-Körper.

Das eingeschoßige „Sackgassenelement mit Verwirbelungskraft“, das die „Trajektorien“, die aus der benachbarten Banalsiedlung direkt auf den Eingang zuführen, einfängt, ist nach Rieder als „Bremse“ zu erleben, die zur Ruhe führt. Von diesem versammelnden Punkt geht eine neue Bewegung aus, der „Bildungsbeschleuniger“ entfaltet seine Wirkung. Die laminaren Strömungen der Wahrnehmung, die eingefahrenen Bahnen des alltäglichen Daseins, werden durch den Bau, den voralpinen „Attraktor“, in Turbulenz, in inspirierend Neues übergeführt. Gleichnishaft setzt Rieder dem omnipräsenten, lähmend nivellierenden Druck der Gesellschaft seine normative Kraft des Faktischen entgegen.

Rieders Raumsequenz umschreibt die im Kindergarten beginnende Wandlung des Kindes von der elterngezwängten zur eigenverantwortlichen Existenz mit dem für jeden Wasserbautechniker geläufigen Wechsel des Abflußzustands von laminar auf turbulent. Die Hydraulik beschreibt diesen Wechsel etwa an Wehrschwellen, hier wird er räumlich vollzogen in der Transformation eines Einraums, des fließenden Kontinuums des Foyers, in einen Mehrfachraum, die drei in die Natur weisenden Holzquader der Gruppen. Die von einer dialektisch-wolkig texturierten, nichtsdestoweniger massiven Betondecke dominierte niedrige Halle faßt die Funktionseinheiten zusammen. Sie erlaubt Durchsicht in alle Bereiche, Ausblicke in die Halbhöfe und wirkt als verteilende Vorzone zu den „Wohnzimmern“.

In den vier Gruppenräumen ist für unzählige Spielsituationen mit Detailversessenheit vorgesorgt, hervorstechend ist aber, wie der Außenraum über akzentuiert gesetzte, auch parapetlose Fenster in das Innere einbezogen wird. Dieser öffentliche Bau zelebriert so recht dosiert Qualitäten privater Wohnkultur und verräumlicht die für Kinder so gravierende Ablösung vom Elternhaus erfreulich, wenn auch für die meisten ungewohnt.

Die Unbefangenheit der Kinder im Umgang mit dem Bau wird Eltern und Betreuerinnen Ansporn sein, das Haus zu verstehen und in seinen zahllosen Raum-, Form- und Farboptionen zu erschließen. Protest ist, auch wenn es so scheinen mag, keine primäre Kategorie in Rieders Bauten. Vielmehr sind es komplexe Kommentare zu komplex empfundenen Situationen.

Dieser Kinderkosmos ist, bezogen auf Rieders Entwurfsschaffen, sicher ein Hauptwerk, er kann als räumliche Konkretisierung lange bedachter Gedanken zu einem dichten Raumgeflecht gelten. Es ist berührendes Manifest eines Maximalismus in Struktur und Textur, in Anspruch und Verwirklichung, in Raum und Zeit.

23. Mai 1998 Spectrum

Ein wenig mehr vom Ganzen

Einst eine Vision der Moderne, heute Alltagswirklichkeit in Büro und Haushalt: reversible Möbelsysteme. Ihre Potentiale sind aber noch nicht ausgereizt. Das System SEC von Häberli & Marchand erschließt nun eine neue Ausdruckskraft.

Oft folgt man einer Idee ohne zu wissen, wohin sie führt. Oft verliert man sich dabei hoffnungslos und kehrt enttäuscht zurück. Gelegentlich führt das fixe Gefühl zu Lichtpunkten, die das Wort ,Erfindung' auslösen. Oft scheint es auch, ,Erfinden' sei eine Art ,Wiederfinden'. Am Anfang war das Gefundene nur ein Teil des Ganzen. Dieser gefundene Teil bewirkt das Finden anderer Teile und so fort, bis letztlich das Ganze gefunden ist. Oder anders: Der erfundene Teil eines Ganzen trägt das Bild des Ganzen in sich."

Fritz Haller, seit 1949 Architekt in Solothurn, seit den sechziger Jahren weltbekannt für seine Systementwicklungen und Industriebauten, hat 1968 diesen Zusammenhang von Teilen und Ganzem bei der Bewältigung chaotisch erscheinender Probleme beschrieben. Er hat in seinem Schaffen auch mehrfach den Beweis geführt, daß der industriell unterstützte Systembau zu einer treibenden Kraft der Architekturentwicklung werden kann. Seine Stahlhochbausysteme bestechen in ihrer Logik und Ästhetik ebenso wie das auch nach fast vier Jahrzehnten Produktion noch immer aktuelle Möbelbausystem USM Haller, mitbenannt nach der herstellenden Firma U. Schärer AG im Schweizer Münsingen.

Das aus Stahlrohren und kugelförmigen, ebenso verchromten Messingknoten durch Verschraubung gefügte Korpusmöbel ist als Design-Klassiker einzustufen. Es hat in seiner unstreitigen Funktionalität und abgeklärten Anmutung eine fixe Position unter den Möbelbausystemen erobert. Aus dem immer gleichen Knoten, den nach einer modularen Ordnung abgelängten, zarten Rohren, ergänzt mit lackierten Füllblechen oder Glasfüllungen, entstehen strenge Möbelobjekte.

Das Prinzip von Skelett und Haut ist immer gestaltdominant, der Ausdruck ist wegen der zwischen den Böden, Türen, Klappen, Zügen und Wänden komplett sichtbaren Gitterstruktur technoid. Die tragenden und getragenen Teile werden, anders als beim traditionellen hölzernen Korpusmöbel, separiert gezeigt. Durch die Griffe oder Beschläge zeichnet sich das Innere, der funktionale Ausbau des Gerüsts, äußerlich klar ab; die fast immer homogene Farbgebung der einhüllenden Blechfelder wirkt dagegen vereinheitlichend.

Hallers System lebt optisch vom eleganten Lineament der glänzenden Chromrohre zwischen seidenmatten Farbflächen. Hans Wichmann charakterisierte es 1989 als „verhalten, konzentriert, wahrhaftig, transparent, würdig, edel oder lapidar“. Die langdauernde Hochschätzung wirft die Frage auf, wo sich mit neuen Fertigungstechnologien und geänderten Kundenwünschen weitere Entwicklungsschritte in der Systemmöbelwelt abzeichnen.

Von den Massenanbietern wie IKEA gehen bisher keine Impulse aus, intelligente Systeme zu entwickeln. Diese Rolle bleibt weiterhin elitären Nischenanbietern in Designzentren vorbehalten.

Kartesianisch geordnete Möbelbausysteme gliedern streng den umgebenden Raum. Sie bieten eine raumteilende Maßeinheit und fragen damit nach der Maßstäblichkeit jedes Möbels. In der Chance, auf jedes konkrete Umfeld gezielt einzugehen, liegt auch das Risiko, den Kunden in seiner Anschauung zu überfordern. Bestellt wird an Hand von Tabellen und Zeichnungen oder angesichts von Photos repräsentativer Beispiele. Kaum je sieht ein Käufer seine Wunschkonfiguration vor der Lieferung, stets bleibt ein Überraschungsmoment.

Ein interessanter Verbesserungsschritt für ein modulares Möbelsystem kann also darin liegen, dem Käufer mehr Freiheitsgrade für die Erstausstattung einzuräumen, aber nicht zuletzt mehr Chancen zur einfachen Nachbesserung einer bereits bestehenden Konfiguration zu eröffnen. In einem offenen „Spiel“ mehr kompatible Teilbausteine für ein unabsehbares Ganzes zu gewinnen müßte das Ziel für offensive Entwerfer sein.

Die aus dem generellen Boom des Designs für den Wohnbereich abzuleitende Erwartung nach intelligenten Korpusmöbeln wird durch diverse neue Systeme in den neunziger Jahren nicht zufriedengestellt. - 1997 stellt die durch ihre signifikanten Möbel von Giandomenico Belotti, Mario Botta, Alberto Meda, Jasper Morrison oder Paolo Rizzatto weithin geschätzte Firma Alias ein „System Elementarer Componenten“ (SEC) vor, das bald hohe Aufmerksamkeit erregt. Zum einen fasziniert das umfassender als bisher wahrgenommene Anspruchsprofil für ein solches System, zum anderen die Präsenz und Präzision der ersten Ausstellungsstücke.

Die relative Unbekanntheit der Designer verstärkt den Eindruck einer erfreulichen Designüberraschung noch - die nähere Kenntnis der Personen erweist freilich, daß es sich nicht nur um einen glücklichen Wurf, sondern um das Ergebnis einer dreijährigen Forschung vor dem Hintergrund langer Studien zur Formgebung von Industrieprodukten handelt.

Die in Zürich ansässigen, um die Mitte der sechziger Jahre geborenen, an der dortigen Hochschule für Gestaltung ausgebildeten und seit 1993 zusammen arbeitenden Alfredo W. Häberli und Christophe Marchand stellen ein innovatives Anbausystem für Schränke, Regale, Container et cetera vor, das strukturell, funktional und kompositiv über Vorgänger hinausgeht. Vorbilder gibt es nicht, da der Auftrag von Alias ursprünglich nicht auf ein komplexes, offenes Möbelbausystem zielte, sondern nur auf einen simplen Rollwagen.

Die Analyse der Schweizer Designer mündet schließlich in eine komplexe Systemidee und eine zündende technische Lösung. SEC soll einfache Elemente zu standfesten, aber veränderbaren Möbeln vereinen, will dem Besitzer die Möglichkeit einräumen, seine Konfiguration zu erweitern, auseinanderzunehmen oder ohne Eingriff in die tragende Struktur die Innenausstattung zu verändern.

Fächer, Faltpaneele, Alu- und Filztüren, Schubladen, Griffe, Rollen, Füße, Bücherstützen sind die funktionalen Optionen. Carrara-Marmor, grünlich-klares oder bedrucktes Glas, orange, schwarz, grau oder weiß lackiertes Stahlblech sind die materialen Vorgaben für die Fachböden. Vertikalpaneele zur Trennung der Felder gibt es in schwarzem oder satiniertem PVC, bedruckt mit Blattmustern in Siebdrucktechnik.

Die tragende Struktur besteht aus Aluminium: Mit einem unsichtbaren Stecksystem werden horizontale Querstreben aus Preßguß mit glänzender Oberfläche, horizontale Elemente aus gezogenen Profilen mit anodisierter Oberfläche und vertikale, glänzende Glieder verbunden. Zusammen wirkt das Raumgerüst zurückhaltender als verchromter Stahl, die Schlankheit signalisiert Effizienz, die vorbereiteten Halterungen für die Einsätze verdeutlichen Variabilität und Flexibilität. Die modulare Ordnung der Strukturen ist einfach: Es werden zwei Breiten (50, 100 Zentimeter), drei Höhen (16, 25, 35 Zentimeter) und zwei Tiefen (23, 38 Zentimeter) angeboten.

Der Esprit dieses auf dem Markt befindlichen Systems liegt einerseits in der offenbaren Tüchtigkeit der tragenden Teile und der Raffinesse der minimalistischen Knotenlösung, andererseits in der formalen Interpretierbarkeit dieser struktiven Vorgabe. Zeitbedingt anders als bei Fritz Haller, gewissermaßen sogar in einer designstrategischen Gegenposition, wollen Häberli und Marchand die Sinnlichkeit des Systems nicht auf ein „korrektes“ Maß ein für alle Mal zurücknehmen, sondern die Entscheidung für den Nutzer freihalten. Das Möbelobjekt soll seinen Charakter mit vertretbarem Aufwand ändern können. Es soll selbst Bilder produzieren, den Raum affizieren und nicht nur passiver Hintergrund sein.

Das System USM Haller steht wahrlich nicht im Geruch, einer Mode zu unterliegen; es hat den raren Status einer zeitlosen Meisterleistung erreicht. Trotzdem ist es unverkennbar ein Kind seiner Zeit, die „Gute Form“ und das „Ulmer Klima“ grüßen aus dem Hintergrund. Haller hat die beginnenden sechziger Jahre mit seiner Konzeption vielleicht sogar noch überfordert, heute scheint er viele zu unterfordern. Mancher will - eingedenk heutiger Stilpluralität im Leben und folglich im Design - zwar ein rigides Systemmöbel um sich, aber trotzdem stärker hedonistische Züge verwirklicht sehen.

Nach einem System zu agieren bedeutet schließlich auch Gleichschaltung. Wer möchte da in seiner ureigensten Umgebung nicht gelegentlich ausbrechen. Mehr Freiheitsgrade für die Sinne bei begrenztem ästhetischen Risiko für den Kunden - das erscheint ein erfolgsträchtiges Designkonzept.

Ob das SEC auch einmal an Meisterleistungen der Systemmöbel, wie sie uns von Le Corbusier, Marcel Breuer oder Charles Eames überliefert wurden, heranreichen wird, ist noch nicht erkennbar. Immerhin öffnet es die von der klassischen Moderne der Architektur aufgestoßene Tür zu einer von der industriellen Produktion bestimmten, technisch hochqualifizierten und kulturell ambitiösen Raumaneignung für jeden Menschen, für jeden Fall des Alltags ein wenig weiter.

SEC bietet eine verfeinerte Dienstbarkeit für Verstand und Sinne: konsequent, klar, effizient, anregend, zeitgemäß, ökologisch, erfrischend. Mit Haller könnte man sagen: Die bisher gefundenen Teile erschließen ein wenig mehr vom Lebensganzen.

28. Februar 1998 Spectrum

Mit Mut und Anmut ins dritte Alter

Altersheime sind in der Regel modifizierte Spitalsbauten zur Verwahrung von Pflegefällen - was aber die allermeisten Senioren heute nicht sind. Das „Haus Gisingen“ in Feldkirch von Noldin & Noldin gibt älteren Menschen die Möglichkeit, Teil der Gesellscha

Alter ist heutzutage kein gefährliches Endspiel mehr, sondern oft eine lang ersehnte Krönung des Lebens. Anders als frühere Generationen erlauben bewußtere Lebensführung und entwickeltere Medizin, für den persönlichen Herbst noch ein Programm zu entwickeln. Das noch immer weit verbreitete Bild der Alten im Ausgedinge, die ihrer Gebrechlichkeit gehorchend passiv pfleglicher Zuwendung harren, ist einem facettenreicheren Phänomen gewichen. Eigenständiger, kaufkräftiger und selbstbewußter ist der neue Alte, und er macht seine Rechte politisch geltend.

Eine Gesellschaft, die Jugend und Kraft als Ideale hat und die Altenfrage gern an die Kirchen, Kommunen, Krankenanstalten delegiert, ist auf diese neue Interessenlage ungenügend vorbereitet. Politik muß jetzt jedenfalls altersintegrativ sein, wenn sie zukunftsträchtig sein will.

Am anschaulichsten werden Defizite und Erfolge in der Altenpolitik an Bauten, auch wenn erst die kombinierte Betrachtung von stationären und ambulanten Angeboten das regionale Bild abrundet. Während etwa in den neunziger Jahren vom „Kuratorium Wiener Pensionistenwohnhäuser“ zentrale, industriell optimierte Massenbehausungen von bescheidenster räumlicher und damit sozialer Qualität unwidersprochen errichtet werden, laufen in anderen Ländern, wie in Ober- und Niederösterreich, bereits qualifizierte Bauprogamme für dezentrales, altersgerechtes Wohnen mit architektonischem Feinschliff.

Das Land Vorarlberg und besonders die Stadt Feldkirch nehmen jetzt im österreichischen Vergleich eine Spitzenstellung in gelebter Altenpolitik ein. 1991 verabschiedet sich Feldkirch im letzten Moment von einer bereits baureifen zentralistischen Lösung mit einem 130-Betten-Bau, um ein alternatives Altenpflegekonzept zu erarbeiten. Am Anfang steht das politische Bekenntnis zu einem nicht selbstverständlichen Höchstmaß an Qualität im regionalen Kostenrahmen. Prägend für das Feldkircher Modell ist die Ausschöpfung aller Varianten ambulanter und teilstationärer Betreuung als Ergänzung stationärer Einrichtungen.

Obwohl die zwei in diesem Programm in Feldkirch errichteten Altenhäuser im Vergleich zu anderen Heimbauten an der Kostenobergrenze liegen, macht die synchrone Stärkung des vorstationären Bereichs diese Aufwände im Vergleich mit anderen Gesamtpflegestrukturen plausibel. Beim hier vorgestellten Haus Gisingen nach dem preisgekrönten Entwurf von Regina und Rainer Noldin ergeben sich Nettobaukosten von etwa 1,7 Millionen Schilling (122.302 Euro) für jedes der 40 Betten. Die Betreuungskosten betragen je nach Pflegestufe zwischen 20.000 (1439) und 50.000 Schilling (3597 Euro) pro Person und Monat.

Solche Aufwände werden in der immer weiter aufgehenden „sozialpolitischen Schere“ - einer zunehmenden Zahl an Pflegefällen steht eine abnehmende Bereitschaft der Familien gegenüber, Pflege zu leisten - naturgemäß kontrovers erörtert. Der mit dem Altenhilfekonzept vorpreschende Sozialreferent Günter Lampert wird kritische Stimmen vergleichsweise leichter verkraften, weil einerseits die politisch angestrebte Zielsetzung eines hohen Pflegestandards mit einem angemessenen Bündel organisatorischer und baulicher Maßnahmen erreicht worden ist, andererseits Feldkirch nun über zwei beispielgebende Sozialarchitekturen verfügt. Fast gleichzeitig mit dem Haus Gisingen von Noldin & Noldin hat der ebenfalls in Innsbruck ansässige Architekt Rainer Köberl das Haus Nofels, eine klösterlich streng anmutende, allerdings sehr kommunikative Anlage errichtet.

Überraschend ist, daß weder Köberl noch Noldin & Noldin zuvor ein Altenheim errichtet haben, also nach der fragwürdigen Formalqualifikation vieler europaweiter Planungskonkurrenzen gar nicht für die Aufgabe prädestiniert gewesen wären. Trotzdem bescheren sie dem öffentlichen Auftraggeber einen bedeutenden Mehrwert an präzis konzipiertem Raum, der nun direkt und sofort an die Alten, indirekt und langfristig an eine in diesem Aspekt befriedete Stadtgesellschaft zurückfließt.

Schon die Bezeichnung als „Haus Gisingen“ ist programmatisch zu verstehen. Eine Punzierung durch den Begriff Altersheim würde eher ein hospitalisierendes Altenghetto mit ruhiggestellten Insassen meinen. Weder will sich die Fraktion Gisingen von ihren Alten abschotten, noch wollen die hier stationär betreuten Bewohner, die Gäste und die Betreuer den Kontakt zur Stadt verlieren. Das Schlagwort vom „offenen Haus“ wird von Noldin & Noldin architektonisch reif umgesetzt: durch eine mehrfache Durchdringung des Baukörpers mit dem öffentlichen Raum, durch eine überschaubare, doch in den Details reiche Gesamtfigur kann das Haus Gisingen bei Tag und bei Nacht seine Nutzwerte glaubhaft verkörpern.

Nahe dem Stadtteilzentrum mit Kirche, Post und Bankfiliale gelegen, ist der dreigeschoßige Sozialbau fußläufig leicht erreichbar. Die im Erdgeschoß untergebrachte öffentliche Bibliothek sichert Besucher aus allen Altersschichten. Das als Café ausgestattete Foyer steht jedem offen, der Betrieb des Hauses kann sich im Sommer logisch am Vorplatz und auf den Terrassen entwickeln. Optisch nimmt die Stadt durch die großflächigen Verglasungen an der westorientierten Eingangsseite sowieso jederzeit Anteil.

Die starke Gliederung der Gemeinschaftsräume an der Straßenfassade steht in angenehmer Spannung zum alles überspannenden Flachdach. Dessen drei kreisrunde Perforationen verstärken die Verzahnung von Innen und Außen, geben dem Bau, der sonst mit formalen Akzenten sparsam umgeht, ein individuelles Gepräge. Das Haus Gisingen ist einprägsam; es besticht durch seine einladende Hemisphäre mit den öffentlichen Räumen zum Vorplatz und eine stille, fast abweisende Hemisphäre mit den an drei anderen Gebäudeseiten gereihten Wohneinheiten.

Der Entwurf macht aus dem sozialpolitischen Ansatz der Öffnung des Pflegebetriebs einen städtebaulichen; das Bauwerk bestätigt das entwerferische Kalkül mit architektonischen Mitteln: Gestufte Einblicke erklären die Funktionsweise des Hauses, öffentliche Vorbereiche bauen die Schwellenangst ab, Eingänge und Aufgänge haben dosierten Aufforderungscharakter. Die Architektur affirmiert daher für viele Betrachter, obwohl bar gängiger regionalistischer Bezüge, Ort und Funktion.

Die Wohnlichkeit und Übersichtlichkeit des Inneren entkräftet eventuell noch vorhandene Skepsis, ob eine solche kompromißlose Moderne altengerecht sein kann. Respekt gegenüber der Aufgabe zeigt sich im Mut, in der Altenbetreuung beschämend lange repetierte Muster des Spitalsbaus zu verlassen, sich den Bestleistungen des alemannischen Wohnbaus, sich in der Raumstimmung sogar guten Hotelbauten der jüngsten Zeit verwandt zu zeigen.

In solchen Wohnräumen wäre auch ein junger Zeitgenosse gut behaust. Der gestalterische Mut der jungen Architekten wird den Alten Mut machen, den Gang der Zeit mitzumachen, aktiv zu bleiben. Die Anmut der Architektur und die Art der Betreuung werden sie der noch nicht alltäglichen Wertschätzung vergewissern, wie sie die Feldkircher Gesellschaft für sie aufbringt.

17. Januar 1998 Spectrum

Unpopuläre Beharrlichkeit

Der gute Bauherr verhält sich wie der mündige Konsument: Er weiß genau, was er will, und fordert die Erfüllung seiner Wünsche ein. Nur so entstehen erstklassige Produkte. Zum Beispiel das Maderna-Haus in Sankt Pölten.

Ein Szenario für das Architekturgeschehen: Nach Auflösung ihrer Berufsvertretung haben sich die wenigen selbständigen Architekten - die meisten Planer sind längst Angestellte der Bausparkassen - der Kammer der Wirtschaftstreuhänder angeschlossen; Zugangsbedingungen zur Architektenbefugnis sind ein Bauökonomie-Diplom, der Besitz dreier Workstations, einer ATM-Verbindung zum zentralen Motiv-Server der Europäischen Baumeister-Agentur in Brüssel und die Installation einer virtuellen Wunderkammer für sechs Personen.

Sämtliche Architekten, die sich nun offiziell „Konsulenten für Stileffizienz“ nennen, sind nach ISO zertifiziert, was etwa eine Begrenzung der Dauer des Designprozesses in Abhängigkeit von der Bausumme garantiert. Wettbewerbe sind überflüssig, weil eine auf dem Schengen-Informationssystem basierende Datenbank jedem Bauwilligen in Sekunden jenes Planungsunternehmen nennt, das bestqualifiziert und gerade verfügbar ist.

Honorarverhandlungen erübrigen sich durch die verbindliche Entgeltrichtlinie der Europäischen Zentralbank, die sich am vom Internationalen Investoren-Institut in Shanghai definierten Real-Estate-Code orientiert, der fixe Stundensätze und standardisierte Minimalinformationen über die Bauaufgabe zusichert. Der normale Bauwerber erhält seinen kostenlosen, bereits genehmigten Hausentwurf samt Kosten- und Terminplan nach kurzem Beratungsgespräch direkt am Bankschalter.

Eine baukulturelle Endzeitvision oder ein Paradies an Transparenz, in dem Bauen für alle Beteiligten endlich kalkulierbar erscheint? Auch wenn heute manches darauf hindeutet, daß dieses Szenario nicht ganz absurd ist, ist der Zug der Zeit noch nicht endgültig zur Banalisierung des Architektenberufs abgefahren. Zur Grobkorrektur wären einige Maßnahmen besonders wirksam: die weithin verlorengegangene Garantie ei- ner fairen materiellen Bewertung der Architektenarbeit nach Qualitätsmaßstäben und die allgemeine Vertiefung der Einsicht, daß ein gutes Bauwerk primär räumliche Wirkungen entfalten muß.

Zentral, weil sie viele Mängel der Konzeptionsphase von Architektur gleichzeitig löst, ist die Forderung nach dem starken Bauherrn als Partner des Architekten. Gesucht sind Persönlichkeiten, große Körperschaften und Unternehmen entbehren sie oft schmerzlich, die in der Lage sind, Nutzerwünsche präzis zu artikulieren. Der Bauherr soll die Kosten gegen die räumlichen Gewinne abwägen, den Mehrwert der Architektur erkennen und glaubhaft vertreten können.

Ein guter Bauherr muß lernwillig und bereit sein, seinen Erkenntnisprozeß mitzuteilen und den Architekten damit zu fordern. Nicht zuletzt ist er von der Gewißheit durchdrungen, daß sein Wirken Teil einer unverzichtbaren Kulturtechnik ist, die die Gestalt unserer Städte und Landschaften bestimmt. Gute Bauherrn und -frauen sind daher aufgeklärte, unternehmerisch denkende, offensiv agierende Menschen mit einem gefestigten kulturellen Horizont - und dementsprechend rar. Weltläufigkeit hilft dem Bauherrn, Wissen nützt ihm, Bildung ist ihm unersetzlich. Eine Vorbereitung auf die Bauherrnrolle, verwandt mit der des mündigen Konsumenten, ist einer der Ansprüche, die die Architektenschaft in das Bildungswesen setzt.

Alfons Maderna ist einer dieser raren Bauherrn. Sein Haus, ein 1996 in der südlichen Vorstadt von St. Pölten fertiggestellter Wohn-, Büro- und Geschäftsbau, ist über die neue Hauptstadt hinaus vorbildlich. Daß die vor kurzem tagende Jury des renommierten Bauherrnpreises der Zentralvereinigung der Architekten Österreichs dieses Objekt in seiner Bedeutung nicht erkannt hat, ist bedauerlich, zumal schwächere Bauten ausgezeichnet wurden.

Im abwechslungsreich strukturierten Wohnquartier um die Pfarre St. Josef besetzt das Maderna-Haus wirksam die Ecke einer nachrangigen Straßenkreuzung und tritt mit dem gegenüber stehenden Wohnhochhaus in stadträumliche Konkurrenz. Aus baurechtlichen Gründen, um eine sinnvolle Ausnützung der Liegenschaft sicherzustellen, konnte nur ein Umbau des ehedem zur Pfarre gehörenden, 1926 mit hölzerner Kuppel errichteten Veranstaltungssaales erwogen werden. Madernas Eltern hatten, in der Nähe ansässig, den Saal gekauft und bis 1967 als größtes Lichtspieltheater Niederösterreichs erfolgreich betrieben.

Mit dem Kinosterben kommt ein Lebensmittelmarkt in den Saal und würde weiter Mieter sein, wenn nicht die Freude an der Architektur den Unternehmer und Kunstfreund zum Bauherrn gemacht hätte. Das Altobjekt wäre mit vertretbarem Reparaturaufwand weiter vermietbar gewesen, aber es hätte keine moderne Architektur, keine Neuschöpfung eines öffentlichen Raumes ergeben, jedenfalls nicht die vom Bauherrn intendierte, wenn auch ohne rasche Renditeerwartung konzipierte Geldanlage. Architektur wird hier als Wertschöpfung verstanden, im materiellen und ideellen Sinn. Wäre diese Einsicht weiter verbreitet, stünde es nicht nur um die niederösterreichische Architektur besser.

Da die Wahrung aller Rechtsansprüche an diesem Bauplatz nur mehr einen kleinen Neubau zugelassen hätte, mußte er als Umbau unter Wahrung einiger Fundamente und Mauerteile vorgenommen werden. Die Eingangssituation der erdgeschoßigen Geschäftsfläche repetiert jene des Kinos, mancher tragende Pfeiler ist geradezu rekonstruiert, um in den Genuß der alten Baulinien zu kommen. Der Baukörper ist somit in Grund- und Aufriß eine ausgereizte Maximalfigur, der aber trotzdem keine spekulativen Motive anzumerken sind. Im Gegenteil: Selten hat ein Bauherr in der Provinz so dezidiert gegen das Stadtländliche, also gegen eine rasche Marktakzeptanz und gegen den Populargeschmack angebaut.

Adolph H. Kelz, ein in Graz ausgebildeter und wirkender Baukünstler, hat in Maderna ein kongeniales Visavis gefunden. Der Bauherr hat sich seinen Architekten über eine Feldstudie der Grazer Situation erarbeitet, denn er wollte keinen der ihm gut bekannten Wiener Architekten einbeziehen. Kelz erscheint Maderna durch seine Fähigkeit prädestiniert, komplexe Funktionen und Baumassen zu einer schlüssigen Figur zu modellieren, Materialien sinnlich auszukosten, mit Licht und Schatten zu spielen, ein Konzept bis ins letzte Detail unerbittlich zu verfolgen, dem Schwierigkeitsgrad der Aufgabe einen ebensolchen der Lösung entgegenzusetzen.

Der Bau stellt sich sehr selbstbewußt als trickreich geglätteter, ruhiger, aber in seiner Fremdheit spannungsgeladener Block mit fünfzig Metern Länge, vierzehn Metern Tiefe und drei Geschoßen dar. Er besetzt das Eck ostentativ, radikalisiert es mit einer vorgezogenen Wand und einem Kragdach. In Fortschreibung der gegebenen Baulinien nehmen die vier Fassaden zum Stadtraum unterschiedlich Stellung. Nach Osten, am Entree zum Erdgeschoßlokal, offeriert Kelz eine bergende, auch einladende Geste. Die großzügige Verglasung der beiden Obergeschoße ist durch ein feststehendes Lamellensystem gegliedert. Die kongruenten Neigungen - aufgehend, zugehend - jeweils zweier, stählerner Flügel wollen das Thema der verlorenen Kinoprojektion mit dem des Tageslichteinfalls verbinden.

Die sehr präzis konstruierte, bräunlich-changierende Haut aus eloxierten Aluminium-Tafeln überzieht die Schmalseiten und die Längsfassade. Die Verglasungen sind bündig in diesen Metallvorhang eingesetzt, sodaß sich, vor allem im Gegenlicht, eine entmaterialisierende Reflexion, eine teilweise Auslöschung der Baumasse ergibt. Das stehende Glasfeld des im Drittelpunkt der Baukörperlänge eingeschnittenen Stiegenhauses und die durch vorgelegte Parapetverglasungen zusammengefaßten Bandfenster wachsen je nach Tageslicht zu einer veränderlich durchsichtigen Kreuzfigur zusammen.

Gegen Norden überfängt Titan-Zink-Blech in Bahnen Wand und Dach, faßt diese von Dachflächenfenstern bestimmte, im Querschnitt aus dem Lichteinfall für die Nachbarn abgeleitete Fassade in aller Strenge zusammen. Die von Kelz präzis gesetzten Zäsuren sind Markenzeichen seiner Architektur. In ihnen erweist sich Sorgfalt und Esprit gleichermaßen. Denn sind die Ränder eines Bauteils, einer architektonischen Wirkungseinheit, scharf berandet, kommen deren Mitten besser zur Geltung, etwa durch den edelstählernen Sockel. Das mit Sperrholz ausgekleidete Stiegenhaus mit freistehendem Betontreppenturm führt die Separation der räumlichen Elemente, auch die Verflechtung von Innen und Außen zu einem virtuosen Höhepunkt.

Die feinen, mühevoll realisierten Details in einem dichten Ganzen sind letztlich die Entsprechung der klaren Intention und des hohen Engagements des Bauherrn, eine dauerhaft repräsentative Stadtplastik ins Werk zu setzen. Nur in einer symbiotischen Beziehung zwischen Architekt und Bauherr geht eine solch heikle Saat auf dürftigem Boden prächtig auf.

13. Dezember 1997 Spectrum

Katharsis eines Warenhauses

Ein wertvolles, aber durch respektlosen Gebrauch banalisiertes Zeugnis des Wiederaufbaus: das Warenhaus „Steffl“. Das Hauptwerk des heuer verstorbenen Architekten Carl Appel darf jedoch auf einen baldigen Wiederbelebungsversuch hoffen.

Das von Otto Wagner errichtete Warenhaus Neumann (1895/1896) in der Kärntner Straße 19 trägt am Parapet des vierten Obergeschoßes die schlicht gehaltene, aber unmißverständliche Aufschrift Metropolitan Clothing Palace. Im Wien um 1900 hat die Kärntner Straße einen solch metropolitanen Flair, daß eine englische, mit dem Begriff Palast operierende Selbstdefinition eines Geschäftes für Herrenkonfektion nicht überheblich wirkt.

Vor das Erdgeschoß und den ersten Stock setzt Otto Wagner leicht konstruierte Glasvorhänge, die als Auslagen dienen und den Passanten tiefe Blicke in den Verkaufsraum erlauben. Transparenz und Leichtigkeit markieren einerseits Wagners grundlegende Distanz zu den baukünstlerischen Beschwernissen des Historismus, andererseits den Bedeutungswandel der Kärntner Straße vom mittelalterlichen Heeres-, Pilger- und Handelsweg zur elegantesten Geschäftsstrecke Wiens.

Noch während der Weltausstellung von 1873 ist die Kärntner Straße nur etwa neun Meter breit und wird durch die hohe Verkehrsbelastung als gefährlicher Engpaß empfunden. Eine Verschiebung der westlichen Baulinie ermöglicht nahezu eine Verdoppelung der Straßenbreite, eine nach heutigen Kriterien des Denkmal- und Ensembleschutzes unfaßbar radikale Option, die auch prompt Serienabbrüche nach sich zieht. Die neue Kärntner Straße wird zu einer komfortablen Hauptachse für den Fußgänger- und Fahrverkehr.

Im April 1945 versinkt nicht nur die Wagnersche Definition einer urbanen Vitrine für Industrieprodukte in der Kriegsasche, sondern auch der ständisch geprägte Gebrauch der Kärntner Straße verschwindet. Die Alltagsrituale des Sehens und Gesehenwerdens, des Einkaufens als Akt gesellschaftlicher Repräsentation gehen mit den Menschen unwiederbringlich verloren. Die Zeit des Wiederaufbaus und der anschließende Wohlstand scheinen zwar neuerlich Voraussetzungen für eine Aneignung der Kärntner Straße als elitärer Kommerzmeile zu bieten. Aber die neuen sozialen Verhältnisse, die gewandelten kulturellen Verhaltensmuster, die Zunahme des PKW-Verkehrs, die Teilhabe Österreichs an der westlichen Konsumwelt schließen eine neue Erfolgsgeschichte der Kärntner Straße in Analogie zur alten aus.

Der Weg zur Internationalisierung und Popularisierung, auch zur Nivellierung ist vorgezeichnet. Mit der im Zuge des U-Bahn-Baus 1974 erfolgten Umgestaltung der Kärntner Straße zur Fußgängerzone werden diese Entwicklungen beschleunigt. Das Zentrum ist für Bewohner mancher Außenbezirke nun so leicht erreichbar wie ihr gewohntes Wohnumfeld. Die egalitäre Gestaltung der verkehrsberuhigten Kärntner Straße bestärkt diese Randschichten im unbefangenen Zugriff auf zentrale Räume und Einrichtungen, der vermaßte Städtetourismus tut ein übriges zur „Demokratisierung“ des Stadtraums.

Am jungen Ende dieser Entwicklung kann sich zwar die Innere Stadt als vielfältiger gewachsenes funktionales Bündel gegenüber den synthetischen Shopping-Malls an der Peripherie wieder besser behaupten, aber die Aura der Kärntner Straße ist endgültig dahin, weil die kommerziellen Eliten bereits neues Konsumverhalten an anderen, wenn auch nahen Orten ausgeprägt haben. Das von Carl Appel entworfene und unter seiner Leitung 1949 bis 1950 errichtete Warenhaus Neumann beschwört seinerzeit zwar noch einmal die gutbürgerliche Kärntner Straße, die Vermassung von Angebot und Nachfrage an diesem Ort ist aber nicht aufzuhalten gewesen.

Schreiende Billigangebote, jahrelange Leerstände und zerstörende Umbauten belegen, daß sich ohne strategischen Marketingansatz, der Objekt und Lage innig einbezieht, keine sinnvolle Überlebensstrategie entwickeln läßt. Der noch 1993 um 150 Millionen (!) Schilling abgeschlossene Umbau des „Steffl“ dokumentiert bis heute die peinliche Fehleinschätzung des Konsum-Managements die architektonischen Potentiale Appels betreffend: Anstatt dessen Konzept wieder verstärkt herauszuarbeiten, wird mit billiger Camouflage weiter in Richtung Belang- und Gesichtslosigkeit gegengesteuert. Erst für jetzt zeichnet sich unter den neuen Eigentümern ein intelligenterer Umgang mit den unstreitigen architektonischen Restqualitäten des „Steffl“ ab.

Carl Appel (1911 bis 1997) scheint 1949 die Aufgabe, wieder ein Warenhaus Neumann am Ort des Wagnerschen Baus zu errichten, auf den Leib geschneidert. Der noch nicht Vierzigjährige ist bei Kriegsende auf der Höhe seiner fachlichen Kompetenz, er kann fast auf ein Jahrzehnt baulicher Praxis, auch während des Ständestaats und des Nationalsozialismus, verweisen. Die Vertreibung des Geistigen hinterläßt zahlreiche Fehlstellen in der architektonischen und städtebaulichen Kompetenz Österreichs, wodurch ein gesellschaftlich gut verankerter Tatmensch wie Appel noch besser zur Geltung kommt. Seine Ausbildung ist fundiert: Nach einer Tischlerlehre und Architekturstudien an der Kunstgewerbeschule und an der Akademie der bildenden Künste arbeitet er schon als Student an eigenen Projekten. Sein Büro arbeitet professionell und rasch.

Die Kontinuität seiner Beschäftigung, das nie unterschrittene Mindestmaß an Qualität weisen ihn im Rückblick als einen der wirkungsvollsten Architekten der Zweiten Republik aus. Eine kürzlich von der Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten in Wien veranstaltete Ausstellung hat die Hauptwerke, neben dem „Steffl“ etwa das Kaufhaus Philip Haas (mit Max Fellerer und Eugen Wörle), die Verwaltungsgebäude der Steyr-Daimler-Puch AG (abgebrochen), der OMV und der Kammer der gewerblichen Wirtschaft, die Leykam AG, den Opernringhof oder das Hotel Intercontinental, wieder in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt. Damit beginnt ein wichtiger Weg zur Neubewertung der Wiener Architektur der fünfziger und sechziger Jahre, die langsam in den Rang der Schutzwürdigkeit hineinwächst.

Viele von den etwa 150 Bauten Appels sind zwar bis heute präsent, seine umfangreiche Gesamtleistung, seine damalige Wirkung sind es nicht. Für die österreichische Architekturgeschichte gilt er nicht als Vorkämpfer einer neuen Baukunst, sondern als ein planerisch und politisch hochaktiver, technisch und organisatorisch kreativer Hauptakteur der Wiederaufbauära, der eine gemäßigt moderne Baukultur, besonders in Industrie, Handel und Dienstleistung, etabliert hat.

Motoren seiner Entwurfsentscheidungen sind technische und funktionale Neuerungen, sein Credo ist es, deren Machbarkeit auszuloten, ohne die stilistisch abgesicherte Praxis der Moderne der Zwischenkriegszeit in Richtung eines Experiments zu verlassen. Gestalterische Wagnisse wären auch mit Appels hohem Realisierungstempo nicht vereinbar gewesen. Mit dem Ende der Fortschrittseuphorie in den siebziger Jahren verblaßt auch Appels Überzeugungskraft, die aus der Gewißheit gespeist war, daß das nach dem Krieg begonnene Aufbauwerk unbegrenzt fortführbar ist.

Appels Entwürfe, seine prägnanten städtebaulichen Grund- muster und eleganten Interieurs entsprechen damals dem Wunsch der Österreicher nach einer geordneten, bürgerlich bestimmten Welt. So kündet auch die Außenerscheinung des „Steffl“ von einem - maßvollen - baukörperlichen Wagnis: Appel schafft eine Zäsur in der sonst eher homogenen Fassadenflucht, indem er die Schauseite leicht einschwingt, dadurch einladend, neuartig, sachlich wirken läßt.

Die beiden ersten Obergeschoße des „Steffl“ kragen leicht aus, sind in Naturstein gerahmt und wirken wie werbende Leuchtschirme, gerade bei Nacht und aus der Entfernung. Darüber bilden sich die Verkaufsräume in Bandfenstern ab. Die Verkaufsgeschoße, etwa 20 auf 80 Meter groß, kommen wegen der Pilzdecke ohne Unterzüge aus; der Innenraum kann ohne Eingriffe in die tragende Struktur umgenutzt werden.

Das von Appel komplett entworfene Mobiliar ist längst verloren, es zielte auf eine die gehobene Konfektionsware einschließende, ruhige Gesamtwirkung eines noblen Salons ab. Auch wenn heute die Uhren des Marktes anders gehen, der architektonische Ansatz Appels, dem sehr schmalen Haus ein ausdrucksstarkes Gesicht zu geben und die innere Bespielbarkeit von Zwangspunkten möglichst zu befreien, ist nach wie vor tragfähig.

Appels Raumgerüst wird demnächst nach dem Entwurf von Matthäus Jiszda wiederbelebt und großzügig erweitert. Der Eingangsbereich zieht sich dann wieder passagenartig in die Tiefe des Hauses, die Vorderfassade wird in den Originalzustand versetzt, aber mit einem signalhaft auskragenden, gläsern-schrägen Liftturm im Sinne neuer Konkurrenzverhältnisse und Sehgewohnheiten deftiger akzentuiert. Immerhin läßt der bevorstehende Eingriff vermuten, daß hier endlich das Warenhaus - wie bei Carl Appel - als Ort gehobenen Konsums mit den Konnotationen qualitätsbewußt, maßvoll und dauerhaft verstanden, aber auch als mit der Stadt kommunizierendes Gefäß und somit als Teil ihrer Kultur verräumlicht wird.

18. Oktober 1997 Spectrum

Wider den Waschzwang des Tals

Sie wurde im Jahre 1868 in einer Höhe von 2081 Metern errichtet: die Stüdlhütte an der Südflanke der Glocknergruppe. Mit ihr beginnt die Geschichte der Schutzhütten, mit ihrem Neubau durch Albin Glaser tritt diese in eine neue Phase.

Der biologisch unterforderte Mensch arrangiert freiwillig, künstlich und absichtlich Notwendigkeiten höherer Art, indem er aus freien Stücken von sich etwas fordert, sich etwas versagt, auf etwas verzichtet. Inmitten des Wohlstands sorgt er für Situationen des Notstands; mitten in einer Überflußgesellschaft beginnt er, Inseln der Askese aufzuschütten - und genau darin sehe ich die Funktion, um nicht zu sagen die Mission des Sports im allgemeinen und des Alpinismus im besonderen: Sie sind die moderne, die säkulare Form der Askese."

Daß gerade Viktor E. Frankl, als Sinnsucher und Seelenarzt unvergeßlich, Beweggründe des Bergsteigers benennen kann, ist keine Überraschung. Er hat zeitlebens seine „Inseln der Askese“ gesucht, er hat die Spannung zwischen Stadtzivilisation und Bergwelt, zwischen dauerndem Überfluß und seltenem Mangel für sich urbar gemacht.

Frankl erkor sich - für einen Forscher und Autor aus der Stadt folgerichtig - einen Denkraum am Berg, eine Inspirationsstube auf der Rax aus, um produktiven Mangel zu erfahren. Dabei werden ihm jene fundamentalen Widersprüche offenbar geworden sein, die den bürgerlichen Alpinismus seit jeher angreifbar machen: Jede Erfahrung von Unberührtheit ist mit einer unauslöschlichen Berührung verbunden, temporärer Komfortverzicht wird durch infrastrukturelle Vorsorgen am Berg und im Tal erträglich gemacht.

Die in den Alpen errichteten Schutzhütten sind Gradmesser für die Intensität der Wertschätzung der Bergwelt durch die Stadtwelt. Die Initiatoren der ersten notdürftigen Hüttenbauten um 1800 kommen aus Adel und Bürgertum und leben traditionell weit von den Gipfeln entfernt in Fabriken, Klöstern und Palästen.

Ab den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts sind es die neugegründeten alpinen Vereine, die Wegenetze und Unterkünfte errichten. Als Johann Stüdl, ein deutscher Kaufmann aus Prag, mit alpinistischem Faible, großem Vermögen und Organisationstalent ausgestattet, 1867 erstmals nach Kals kommt, um den Großglockner zu besteigen, existiert zwar bereits seit fünf Jahren der Österreichische Alpenverein, aber die Südseite des Glocknermassivs ist noch nicht erschlossen.

Bis dahin liegt das Schwergewicht der Glocknerbesteigungen auf der längeren Route von Heiligenblut, die aber wegen Mißständen im Führerwesen und bei der Beherbergung nicht den besten Ruf genießt. Der ÖAV kann sich nicht zur Unterstützung einer Hütte am Fuß des 1864 erstbegangenen Neuen Kalser Weges, des später nach Stüdl benannten schönsten Glocknergrats, entschließen. Von der Kalser Bevölkerung und ihrem Wunsch nach einer dauerhaften Hütte unter der bestechend schönen Südwand angetan, entschließt sich Stüdl, den Bau aus eigenen Mitteln zu finanzieren. - 1868 errichten einige Kalser Bergführer jene spartanische Urhütte auf der 2801 Meter hoch gelegenen Fanatscharte, die als die eigentliche Mutter aller Alpenvereinshütten gilt. Zwei Räume unter einem Pultdach stehen auf der ersten Stüdlhütte anfangs kostenlos zur Verfügung: ein Wohnzimmer mit gut ausgestatteter Kochgelegenheit, umlaufenden Bänken und Klapptischen, ein Schlafraum mit strohbelegten Pritschen für zwölf Personen - ein Standard für die Aneignung der Bergwildnis ist geboren.

Doch keine zwei Jahrzehnte später gilt der primitive Charakter nicht mehr als zeitgemäß. Statt der Strohs kommen in den Lagern Matratzen zum Einsatz, Einzel- und Doppelzimmer werden angeboten, der Standard der Verpflegung wird angehoben. Obwohl diese Entwicklung von der Zufluchtsstätte zum Berggasthof in den Vereinen kontrovers diskutiert wird und die Sektionen dadurch zu Tourismusunternehmen mutieren, expandieren die gutgemeinten Ansprüche weiter; in den sechziger Jahren gelten Materialseilbahn, Zentralheizung und Bad als vorbildlich. Erst 1977 beschließen die Alpenvereine Deutschlands, Österreichs und Südtirols ein Grundsatzprogramm zum Schutz einer intakten Alpennatur.

Die konkreten Maßnahmen für das Hüttenwesen darin erteilen der Alpenvereinshütte mit Hotelstandard eine Absage, nur mehr die „notwendigen Bedürfnisse der Bergsteiger“ sind zu befriedigen. Da zuletzt kein Neubau einer Hütte in den Ostalpen notwendig war, kommt nun der neuen Stüdlhütte als erstem Beleg für die Durchsetzbarkeit des Grundsatzprogramms große Aufmerksamkeit zu. In den nächsten Jahren sind zahlreiche Hütten nicht mehr sanierbar. Vertreter einer radikalen Renaturierung der Alpen fordern den ersatzlosen Abbruch.

Realistischer, weil der Besinnung auf die nahen Rekreationsressourcen im eigenen Land dienlich sind funktional optimierte, von falschen Traditionen bereinigte, aber zeitgemäß gestaltete, effizient betriebene Berghütten. Nicht zuletzt würde den alpinen Vereinen eine Neupositionierung über gelungene Bauten gut anstehen, denn kaum ein Sektor des Sports hat binnen zweier Jahrzehnte derartige Facetten (Sportklettern, Snowboarding, Paragliding, Höhenbergsteigen et cetera) hinzugewonnen.

Der bayrische Architekt Albin Glaser hat für die von 1994 bis 1996 um etwa 26 Millionen Schilling günstig errichtete Stüdlhütte ein architektonisch und bautechnisch gleichermaßen tragfähiges Konzept entwickelt. Schlechte Fundierungsverhältnisse im Dauerfrostboden, das Fehlen einer leistungsfähigen Materialseilbahn und die kurzen Bauperioden von Juni bis September haben nur einen leichten Holzskelettbau sinnvoll erscheinen lassen.

Glaser hat die logistisch diffizile Aufgabe mit Vorfertigung der tragenden und bekleidenden Wand-, Decken- und Fassadenteile im Tal, mit Hubschraubertransport und Endmontage auf der präzis vorbereiteten Bodenplatte gemeistert. - Bei einem Bauwerk in dieser Extremlage und im Kern eines Nationalparks gewinnen Überlegungen zur Umweltverträglichkeit bedeutenden Einfluß auf die Gestalt. Alle Aufenthaltsräume sind zur Sonne orientiert, während die Nebenzonen im Nordosten liegen. Der Eingang an der dem Sattel zugewandten Schmalseite führt in einen geraden Gang, an dem im Erdgeschoß Gastraum und Küche liegen, sich in den Obergeschoßen einerseits die Schlafräume mit jeweils 16 Lagern, andererseits die Sanitärräume reihen. Die Treppen fassen die Erschließung zu einem dreigeschoßigen, durch seine Größe sowie seine Materialisierung in unbehandeltem Sperr- und Massivholz stimmigen Aufenthaltsbereich zusammen.

Der Wärmeverlust ist durch die gekrümmte Minimaloberfläche und die hohe Dämmung dem Stand der Technik entsprechend gering, der solare Energieeintrag durch die großen, verschattbaren Verglasungen, die transparenten Wärmedämmelemente und die Photovoltaikplatten optimal. Für Behaglichkeit sind also alle Voraussetzungen gegeben, aber da die Hütte auf eilige Tagesgäste und robuste Bergsteiger zugeschnitten ist, wird auf Duschen verzichtet. Besuchern stehen nur Waschräume mit drei Grad kaltem Wasser zur Verfügung.

Trotz der örtlichen Wasserknappheit ist der Verzicht auf Warmwasser in einem ansonsten haustechnisch vollständig durchkalkulierten Bau keine Frage der technischen Machbarkeit, sondern der Ideologie. Die Anspruchslosigkeit zum Programm zu erheben, den verweichlichenden Waschzwang der Täler zur hochalpinen Kneippschen Anwendung zu erhöhen mag erzieherisch wertvoll sein, mutet aber doktrinär, wie ein vorkämpferischer Versuch zu alpiner Korrektheit an. Dieser wäre gerade in einem bewirtschafteten Neubau eingedenk der Zustände in vielen Hütten und Biwaks erträglich, wenn er auch gestalterisch durchgehalten würde.

Aber die Härte und konsequente Einsicht, die diesen Bau sonst konzeptiv überzeugend prägen und die dem Gast auch abverlangt werden, finden sich in einigen wichtigen Aspekten nicht. Das außen und innen häufig auftretende Blau als kühler Akzent wirkt in Gletschernähe tautologisch und entbehrlich. Und die eigens für den Gastraum tätige Innenarchitektin hat sich Glasers Armutsgelübde vollends entwunden: Schlecht rustizierende Möbel mit textilornamentierten Glockenleuchten wollen an die Ära der speckigen Lederhosen und rotkarierten Hemden anknüpfen.

Die Alpinisten tragen freilich längst Kleider aus hochfunktionellen Kunststoffolien und Eisgeräte aus Titan. Was auf einer „Insel der Askese“ notfalls an Umgangsformen unverzichtbar ist, wird sich erweisen, aber ein architektonisches Reinheitsgebot läßt sich immer noch durchsetzen.

6. September 1997 Spectrum

Der Zeit den Unruhepuls fühlen

Ambitiöse Unternehmenskultur, weltläufige Technophilie, offene Büroorganisation: Mit dem Vorarlberger Medienhaus in Schwarzach bei Dornbirn schuf Ernst Giselbrecht einen „Arbeitsplatz“, der mit dem rasanten Wandel auf dem Informationssektor Schritt hält.

Das abendliche Kunstlichtspiel in der Rheintalweite bei Dornbirn gibt gerade aus der Distanz Rätsel auf: Ein lotrechtes Konstrukt, hoch wie zehn Wohngeschoße, sich als leuchtende Linie einerseits in stufenlos verändernder Farbe, andererseits in kaltem Weiß darbietend, von einem grellen Blinklicht bekrönt. Eine fernwirksame Navigationshilfe oder ein städtebauliches Signal? Ein Informationsträger einer öffentlichen Institution oder gar ein vielschichtiges Kunstwerk eines Privaten? Wer näher kommt, erkennt: Diese Stele hat von allem etwas; sie markiert einen besonderen Ort, sie ist symptomatisch für dessen Nutzung, ein technisches Werk voller Raffinesse, sie ist ein Objekt von Gottfried Bechtold.

Der bewährte Kunstkonzeptverdichter und Feinwahrnehmungstrainer hat seit längerem ein unerreichbares Ziel: „Meine Idealvorstellung wäre eigentlich, daß ich einmal ein vollkommen unabgeschlossenes, endloses Kunstwerk herstellen könnte, das also gleichermaßen immer wieder in Frage stellt und immer wieder Fragen beantwortet.“ Bechtolds Turm kommt dem Ideal vom systemkritischen Selbstläufer nahe. Zudem läßt er sich auf eine Vermittlungsmethode ein, in deren aktionistischer Intensität Architektur kaum mithalten kann und will. Bechtold setzt seine Struktur komplementär zur Architektur ein - zu beiderseitigem Gewinn.

Die Sehnsucht nach einer dauerhaften Struktur, in der sich Figur und Form, Bild und Botschaft dann durch den Gebrauch unablässig abwechselnd einstellen, kennen auch viele Architekten. Der Bau, den sie sich wünschen, ist von Dauer, das Leben darin ist flüchtig. Die Nutzungen sind temporär, aber gut gefaßt, klar geordnet, aber nicht beengt. Architektur ist der Rahmen für das Eigentliche, wichtiger Hintergrund.

Auch eine Zeitung ist eine solche, periodisch genutzte Hintergrundstruktur, in die sich alle Ereignisse systematisch einlagern lassen. Gerade die sich sekündlich erweiternden Informationsangebote im Internet basieren auf ausgeklügelt stabilen Systemen, in denen das inkonsistente Datenmaterial noch zur nutzbringenden Nachricht reifen kann. Gottfried Bechtolds automatische Anzeigevorrichtung will eine rationale Struktur vorstellen, in die die Meldungslage eingespeist werden kann. Das Ergebnis ist eine Nachrichtenskulptur, eine symbolische Verfremung in Echtzeit.

Die Zufälligkeit der Meldungsfolge der Austria Presse Agentur wird durch die Computersteuerung in einen Weltlagebericht, in bestimmte Lichtfarben übersetzt. Steuerungsparameter im unendlichen Nachrichtenfluß sind die Priorität der Meldungen, das zuständige Ressort der Redaktion, die zur Meldung passenden Schlagwörter und deren Verknüpfung. Gewissermaßen können gute und schlechte Meldungen im Durchschnitt herausgefiltert werden, eine dem Wetterbericht ähnliche, Myriaden von Ereignissen bindende Übersicht entsteht. Der Objektivität dieses Befundes steht das Blitzlicht an der Turmspitze gegenüber, das im Rhythmus von Bechtolds Herzschlag aufleuchtet.

Die Lichtsäule ist ein Datentransformator und ein Bewußtseinsgenerator, damit ein treffliches Sinnbild dessen, was eine Zeitungsredaktion, ein Online-Dienst, ein Medienunternehmen leistet. Ohne einen unmittelbaren Nutzen seiner Setzung zu beabsichtigen, legt Gottfried Bechtold nahe, daß „Kunst eine bestimmte Form von Leben, bestimmte Form von Dokument über dieses Leben, über bestimmtes Leben ist“.

Neuerlich erweist sich eine Bechtoldsche Lichtarbeit als kongenial zu einem Raumkonzept von Ernst Giselbrecht. Wie schon in der Höheren Technischen Lehranstalt Kaindorf, wo Bechtold den Aktivitätszustand des Schulbetriebs über ein turmartiges Farblichtsignal am Vorplatz moduliert, kann ein leiser Nebenton, ein Lichtreflex, das große Ganze charakterisieren. Bei dem Unternehmen kann man tatsächlich von einem Ganzen sprechen.

Das Vorarlberger Medienhaus hat nicht nur über seine Tageszeitungen eine dominante Position im Ländle, neuerdings entwickelt sich auch am rapid expandierenden Sektor der Online-Information in Österreich und im angrenzenden Ausland eine Marktführerschaft. Eugen A. Ruß ist seit den späten achtziger Jahren treibende Kraft des Unternehmens auf dem Weg vom regionalen Zeitungsverlag zum globalen Informationsanbieter. Neben seinem unübersehbaren Geschick, den Unruhepuls der Zeit zu fühlen und daraus kommerzielle Chancen aufkommender Informationsbedürfnisse abzuleiten, fühlt er sich auch zur bei Unternehmern leider selten ausgeprägten Rolle des Bauherrn berufen.

Erste Frucht architektonischer Auseinandersetzung war das 1994 fertiggestellte Druckereizentrum im Industriezentrum Schwarzach-Nord; zwei Jahre später folgte das als betriebliche Einheit geplante Medienhaus, beides aus der entwerferischen Hand des in Dornbirn 1951 geborenen, in Graz ausgebildeten, an großen Bauten bereits erfolgreichen Architekten Ernst Giselbrecht. Mit dem für ein in Wandel stehendes Unternehmen folgerichtigen Weggang von der Landeshauptstadt in die typische Rheintalperipherie schaffte sich Ruß Freiraum für die Expansion, aber auch für eine Neupositionierung seines Unternehmens. Konnotiert der Stammsitz noch Traditionspflege, Wertkonservativismus und Bürgerstolz, so spricht der neue Komplex von Fortschrittsglaube, Veränderungsfreude und weltläufiger Technophilie.

Giselbrecht erfüllt mit dem 110 Meter langen Bau in seiner technoiden Handschrift aktuelle Erwartungen in der Pflege der Unternehmensidentität; mit seinem weit auskragendem, bergenden Dach, mit den weißen, fein detaillierten Aluminiumfassaden und den großzügigen, intelligent beschatteten und öffenbaren Fensterflächen wird zeitgemäße Modernität angedeutet. Überzeugend ist, daß sich Giselbrecht nicht mit konventionellen Büroorganisationsmustern zufrieden gibt, er faßt das Haus vielmehr als durchorganisierten Apparat, eigentlich als einen einheitlichen „Arbeitsplatz“ auf, der einer neuartigen Strukturierung und bedarf.

Daher werden über die an der Eingangsseite überzogenen Ansprüche hochbautechnischer Repräsentation hinaus differenzierte Ansätze einer neuen Bürolandschaft verwirklicht. Zum einen beeindruckt den Besucher die Hierarchielosigkeit des dreigeschoßigen Bauwerks. Hat man einmal die genau inszenierte Choreographie des Eingangs und des Stiegenhauses hinter sich gelassen, taucht man in eine ansprechend homogene Welt ein. Das Beanspruchen von möglichst vielen Fensterachsen als Beweis der eigenen Postion erübrigt sich hier ebenso wie der funktionsabhängige Drang „nach oben“.

Der Unternehmer ist in seinem Firmensitz ohne sachdienlichen Hinweis kaum aufzuspüren. Einerseits weil er bestenfalls einen festen Besprechungstisch und ein Team von engen Mitarbeitern hat, aber kein markantes Chefbüro mit hervorstechender Möblierung im obersten Geschoß, andererseits weil er sich, wie viele Beschäftigte seines Unternehmens, der nomadisierenden Daseinsform mit funkunterstütztem Laptop und Mobiltelephon unterzieht.

In den Redaktionen soll das Abstecken privater Reviere unterbleiben, die „eigenen“ Schreibtische sind zugunsten von „vergesellschafteten“ Arbeitsplätzen zurückgedrängt. Zum Normarbeitsplatz, einem Tisch, bringt man seinen Roll-Container und sein Abschirm-Beleuchtungs-Element mit und dockt an der Energiesäule an. Naturgemäß dient eine solche temporäre Verortung nicht jeder Arbeit, nicht jeder kann die notwendige Konzentration in jedem Umfeld finden. Immerhin erlaubt die heutige Informationstechik, sich für eine diffizile Arbeit untertags nach Hause zurückzuziehen und trotzdem virtuell im Geschäft zu sein.

Die räumliche Konsequenz dieser Organisationsform liegt in der Auflösung der gewohnten Dreigliedrigkeit eines effizienten Bürogrundrisses. Der Mittelgang ist nicht mehr Restmenge des nutzbaren Raumes, sondern durch die Verglasung der meisten Innenwände Teil eines zusammenhängend wahrnehmbaren Ganzen. Wenn sich eine ambitiöse Unternehmenskultur, ein kooperativer Führungsstil, ein offener, reagibler Betrieb verräumlichen läßt, dann ist von Gieselbrecht eine entwicklungsfähige Option aufgezeigt worden.

Ein Medienhaus muß Zeichen setzen, wenn es seiner halböffentlichen Rolle, seiner eigentlich staatstragenden Bedeutung gerecht werden will. Nach innen, um den Nachrichtenproduzenten eine hochkonzentrierte Wahrnehmung ihrer Verantwortung nahezulegen. Nach außen, um der Gesellschaft zu zeigen, daß Medienunternehmen bereit sind, als Partner im politischen Kräftemessen endlich auch räumlich identifizierbare Konturen zu entfalten.

1. August 1997 Spectrum

Sonne und Marmormond

Warum nur Kochhauben für Restaurants? Würden Maurerkellen für die Raumkultur vergeben - das von Werner Larch und Claudia König gestaltete „Dennstett“ in der Wiener Josefstadt hätte gute Chancen auf die Höchstbewertung.

Im Kaffeehaus sitzen die Leute, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen", sinnierte Alfred Polgar seinerzeit über die unverzichtbare Wiener Institution. Er deckte damit deren ambivalente Existenz zwischen Denknische und Seelenbalkon, Geschäftsplatz und Kurzentrum auf.

Die kokette Konfrontation von Privatheit und Öffentlichkeit, die ein gutes Café oder Restaurant vorrangig ausmacht, ist tragendes Element einer Stadtkultur. Sie prägt die Stadt und die Menschen, sie beeinflußt kollektive Umgangsformen und individuelle Lebensweisen. Sie funktioniert zumindest auf zwei Ebenen: einerseits auf der räumlich-formalen, andererseits auf der sprachlich-kommunikativen. Ein gastliches Lokal ist die Verlängerung des Wohnzimmers und die Verkürzung des Straßenlebens, es ermöglicht besondere Verfeinerungen der verbalen und nonverbalen Kommunikation.

Die „Gesellschaft“, die man braucht, um effektiv allein, spezifisch und individuell sein zu können, ist nicht zuletzt die eines bestimmten Raumes, eines Ambientes, das Prämissen der Begegnung vorgibt. Auf einer Bühne agiert der Mensch im Vordergrund, aber das Ganze des Theaters bestimmt die Wirkung einer Aufführung, lockt oder hemmt den Besucher. Art und Form des Lokals bedingen die soziologische Schichtung und das ökonomische Potential der Gästeschar.

Ein kluger Cafetier oder Wirt verläßt sich nicht auf die Qualität seiner Speisen und Getränke allein, sondern es gilt, auch in Fragen des Standorts, der Architektur, des Personals, des Service, der Preise besser als durchschnittlich zu entscheiden. Die Kunst des Gastronomen besteht wohl darin, ein Image zu komponieren und dieses dann dauerhaft zu bedienen.

Die Vielzahl ernsthafter gastronomischer Dienstleistungen in Wien erschwert die Übersicht. Wünscht sich der Gast freilich auch eine den Puls der Zeit tangierende Raumgestaltung, wird die Auswahl bedeutend schmäler. Leider finden gerade die höchstrangigen Kochdarbietungen vor beschämend teuren, von den Ansprüchen an Speisen und Getränke weit entfernten Kulissen statt. Nur wenige Unternehmer sehen die Notwendigkeit, ihre Präsentation mit gegenwärtiger Raumkultur aufzuwerten. Nur wenige Gastrokritiker sind fähig, gute Architektur von Camouflage zu unterscheiden, und bereit, darüber zu informieren. Die Vergabe von symbolischen Maurerkellen - neben den Kochhauben - läßt in der Gourmetpublizistik noch auf sich warten. Und die Architekturführer haben sich noch nicht auf die Beurteilung von Menüfolgen eingelassen.

Die Familie Dennstedt, Eigentümer und Betreiber des neuen Lokals, verfolgt dagegen von Anfang an eine Gesamtstrategie. Raum und Bewirtung sollen wie aus einem Guß wirken. Im „Dennstedt“ ist dabei eine beachtliche, wenn auch immer noch steigerungsfähige Stimmigkeit erreicht. Die Raumfühligen unter den Wiener Nacht- und Tagschwärmern verfügen somit über einen Stützpunkt in einem gastro-architektonisch bisher unauffälligen Teil der Josefstadt, der mit „gutbürgerlich“ umschrieben werden kann.

In Sichtweite ist die Nutzung der Erdgeschoßzonen bescheiden. Das angrenzende „Haus des Buches“ samt dem „Adolf- Schärf-Heim/Hotel“ ist eine für die sechziger Jahre typische, rigide Figur in Opposition gegen die alte Struktur. Die Ecke des Blocks wird ausgespart, an die benachbarten Bauten wird undifferenziert angeschlossen. Mit diesem Ensemble werden bereits errungene Qualitäten des Ortes weggegeben, ohne überzeugende beifügen zu können.

Das früher hier befindliche Stadttheater wäre ein besserer Nachbar für das „Dennstedt“ gewesen. Immerhin ist die Laudongasse eine geschlossen wirkende, bekannte Ausfallstraße zweiter Ordnung mit Straßenbahntrasse. Die Chance, sich hier langfristig durch Mundpropaganda als eine erste Adresse in Wien zu positionieren, ist hier eher gegeben, als durch Laufkundschaft rasch zum Mittelpunkt im Quartier zu werden.

Claudia König und Werner Larch, aus Vorarlberg stammend, in Wien ausgebildet und arbeitend, auch schon an mehreren realisierten Projekten erfahren, nutzen das Potential des Ecklokals trefflich. Um die fast widersprüchlichen Voraussetzungen für kulinarischen Genuß im Restaurant mit denen für den alltäglichen Umgang im Café und an der Bar zu vereinen, setzen sie auf einen großzügige Halle, die in fließend ineinander übergehende funktionale Zonen gegliedert ist. - Das Mietwohnhaus an der Ecke Laudon- und Daungasse, ein um 1905 errichteter, für diese Zeit technisch beeindruckender Stahlbetonbau mit vier Stöcken, bietet im Erdgeschoß einen stützenarmen Raum, dessen Qualitäten zuvor durch die massiven Ausfachungen im Skelett nicht erkennbar sind. Das vorher darin befindliche Rotlichtlokal war zuvor mehr auf hermetische Abschließung, denn auf Öffnung zur Straße bedacht.

Die tragende Struktur ist nun herausgeschält, um den größten Freiheitsgrad für die Möblierung und die Installationen zu gewinnen. Bei annähernd fünf Metern Raumhöhe ergibt sich durch die Freilegung ein lichtdurchfluteter Saal, in dessen rückwärtigem Teil ein Zwischengeschoß die Nebenräume und die Haustechnik aufnimmt.

Der Hauptraum ist zweischiffig und winkelförmig, von den großen Hubfenstern und dem durch sie eindringenden Straßenleben bestimmt. Der ursprünglich über Eck gelegte Eingang erfolgt nun im zweiten Wandfeld an der Laudongasse, sodaß das Innere dort betreten werden kann, wo die Zonierung eine Zäsur zwischen „livingroom“ und Restaurant nahelegt. - Von der Straße betrachtet, gibt sich das Lokal minimalistisch. Dunkle Metallprofile fassen die großflächige Hubverglasung, steht sie offen, verschränken sich privater und öffentlicher Raum. Nachts überstrahlt das interne Lichtklima den Gehsteig.

Aus dem Windfang austretend, fällt der Blick auf die in die Tiefe des Raumes leitende Bar; auch von dort zurückblickend ergibt sich durch die spitzen Winkel zwischen Theke und Mittelstützen beziehungsweise Außenwand eine beeindruckende Perspektive. Die mit 25 Metern erhebliche Längserstreckung des mit differenziert gewählten Tischen und Sesseln bestückten Café- und Restaurantbereiches verfehlt ihre Wirkung auch bei gutem Besuch nicht.

Der klaren Grundkonfiguration der möglichst neutral gehaltenen „Schachtel“ mit Ein- und Aussicht überlagern Larch/König zwei konzeptive Schichten: zum einen die materiale Einheit von Boden und Decke, zum anderen die Polarität von Innen- und Außenfassade, eigentlich von Kunst- und Naturlicht.

Das Bekenntnis zum vorgefundenen Raum, zu einer Gesamtfigur, die nach dem komplementären Prinzip von tragendem Skelett und nichttragender Füllung überzeugend und übersichtlich ausgelegt ist, wird verstärkt durch die Gleichheit der beiden horizontalen Raumabschlüsse.

Bestimmend sind die Parketten aus rötlichem Tropenholz auf dem Boden und an der Decke; sie verfestigen den kompakten Eindruck und gestatten, sich auf die anderen Oberflächen, auf die Fugen, Verschnitte, Zäsuren einzulassen. Der Plafond ist von Leuchten freigehalten - ein seltenes, puristisches Entwurfsergebnis bei einer abgehängten Decke - und ist somit ein Spiegelbild der Gehfläche.

Die Einheitlichkeit des warm anmutenden Holzes überspielt die Fülle der Nutzungen und die geometrischen Zwänge mit Selbstverständlichkeit, die bewußt nach Nutzungssituationen variierte Möblierung wächst zusammen. Es ist evident, daß die Entwerfer versuchen, wenige Grundideen konsequent und ostentativ umzusetzen und die unvermeidlichen Detailprobleme gestalterisch abzumagern. Konstitutiv für die innenräumliche Präsenz des „Dennstedt“ ist der Umgang mit Licht. Tag- und Nachtwirkungen werden klar unterschieden.

Verwirklicht sich in Behandlung von Boden und Decke Disziplin, Konsequenz, Ruhe, Statisches, so vermitteln uns der hinterleuchtete Steinvorhang und die Außenfensterfolge samt Raffstores Verspieltheit, Sinnlichkeit, Wechsel, Dynamisches.

Im tageszeitlichen Wechsel ändert das Licht seine Dominanz und der Raum seine Richtung: Tagsüber ist er von der durch die großen Verglasungen eindringenden Stadt bestimmt, abends vom luziden Vorhang aus italienischem, mit berückender Zeichnung die Aufmerksamkeit auf sich ziehendem Marmor.

Die in den scharfen Kontrasten des Sonnenlichts dargestellten, von dunklem Stahl gerahmten Wechselfälle der Straße und das feinadrige, mondmilchige Ornament des Steins stellen sich als bestimmende Hintergründe ein - gewissermaßen stahlgefaßte Sonne und Marmormond am Firmament der gehobenen Unterhaltung. Sie polen die räumliche Orientierung stetig und in allen Gradationen zwischen Tages- und Kunstlicht um, erwecken die ansonsten leblose Hülle.

Diese kleine Realie der Stadtkultur ist ein urbaner Prospekt, auf dem Stadt oder Architektur überraschend akzentuiert hervortreten können. Man kann einen solchen Raum nach einem Tageseindruck beurteilen. Diesen sollte man nicht vor dem Abend loben, denn er steigert sich erst dann zu seiner Hochform. Dann ist man - auch allein - in bester Gesellschaft.

24. Mai 1997 Spectrum

Wie Wasser, Feuer, Licht

Stadttechnik in Wien: jeder nutzt sie, aber keiner will sie sehen.Mit dem Fernwärmewerk Süd von Martin Kohlbauer haben die Heizbetriebe Wien eine markante Gegenposition bezogen. Entstanden ist eine Schaustück von Rang.

Mechanisierung ist ein Agens wie Wasser, Feuer und Licht. Es ist eine blinde Kraft, an sich richtungslos, ohne positives oder negatives Vorzeichen. Wie bei Naturgewalten hängt alles davon ab, wie der Mensch sie nutzbar macht und wie er sich gegen sie schützt. Daß der Mensch die Mechanisierung aus sich heraus geschaffen hat, verstärkt ihre Gefährlichkeit, denn unkontrollierbarer als die Naturgewalten wirkt sie von innen heraus auf die Sinne und die geistige Struktur ihrer Urheber." Sigfried Giedion erkennt 1948, daß die Mechanisierung des Alltags Gewinn und Verlust bedeuten kann.

Sie dämpft die Gewalten der Natur, sie befreit den Menschen von hygienischem Notstand und existentieller Bedrohung, aber sie (ver)bindet und reglementiert damit auch, was sich zuvor autark entwickeln konnte. Die moderne Großstadt, stets ein fragmentarisches, hybrides Gemenge von Bauten, wird erst durch die industriell betriebene Mechanisierung zu einer funktionstüchtigen Gesamtfigur. Städtebau ist festgemacht an den Hauptorganen der Stadt.

Die Modernität einer Stadt konstituiert sich geradezu durch den Grad ihrer technischen Ausrüstung. Der kontrollierte Umgang mit Müll und Abwasser, mit Trinkwasser, Gas, Elektrizität und Fernwärme gehört zu jenen kommunalen Angeboten, an denen eine fortschrittliche Stadt gemessen wird.

In Wien wird an die Stadttechnik eine hohe Erwartung geknüpft. Jeder nutzt sie, aber keiner will sie sehen. Dem Wunsch des Architekten, ein Anzeichen, einen symbolhaften Stellvertreter der technischen Infrastruktur zu setzen, läuft die Erwartung nach Auslöschung zuwider. Die Funktionsweise der Ver- und Entsorgungssysteme interessiert nur wenige, die ausformulierte Gestalt der Stadttechnik stellt außerhalb der Fachwelt nur ausnahmsweise ein Thema dar. Der unsichtbare Apparat ist der beliebteste, denn Großtechnik hat nicht das beste Image. Sie gilt in ihrer industriellen Anmutung als Fremdkörper im Stadtraum.

Eine architektonische Darstellung des Wiener Gemeinwesens über die Ver- und Entsorgungssysteme ist in der jüngeren Vergangenheit nicht zu erkennen. Kommunalpolitik und Magistrat verwenden sich erst in den neunziger Jahren dafür, die Identitäten dieser Systeme zu konkretisieren. Dabei werden zwei widersprüchliche Strategien offenbar. Die eine, manifestiert durch die von Friedensreich Hundertwasser 1991 umgebaute Müllverbrennungsanlage Spittelau (Original von Josef Becvar, 1976), blendet den signalhaft situierten, funktional umstrittenen Bau durch eine bunte Bekleidung aus dem Problembewußtsein der Wiener aus. Durch die Vorspiegelung thematischer Affinitäten zur Natur und die Verschleierung des Verbrennungsprozesses vermeint man, das Werk „umweltverträglicher“ wirken zu lassen. Ein vom verbrannten Müll ablenkender Überraschungseffekt ist der Flächenkunst Hundertwassers nicht abzusprechen, auch wenn die Architekturkritik an dieser megabunten Entgleisung bestenfalls die populistische Tourismusstimulation als ernsthaftes Argument gelten läßt. Für die Wiener, die ständig mit dieser dreisten Aufdoppelung konfrontiert sind, dürfte die „Farbglasur“ rascher an Strahlkraft verlieren, als es die Größe der Investition erhoffen läßt. Wenn sich dieser Gag auf seine dürftige Substanz reduziert hat, wird die Gestaltungsantwort auf die Einhausungsfrage offener sein denn je.

Mit dem Fernwärmewerk Süd von Martin Kohlbauer haben sich die Heizbetriebe Wien kürzlich allerdings auch eine markante Gegenstrategie zugetraut. Als Ergebnis eines Gutachterverfahrens bezieht es unter den benachbarten Gewerbe- und Industriebauten unmißverständlich Stellung als kultivierter Bestandteil der Stadttechnik, als einsamer Außenposten eines zeitgemäßen Stadt(selbst)verständnisses. Der Standort an der Südperipherie, am Rande des Wiener Beckens, eröffnet viele landschaftliche Fernwirkungen und wenige städtebauliche Nahbezüge.

Die aus einer metallenen Haut gebildete Tonne konnotiert eindeutig Technik und Industrie, Sparsamkeit und Kompetenz, aber auch Ruhe und Stabilität. Diese Architektur versucht keine Fragen aufzuwerfen, sondern dem Betrachterinteresse gleich mit klaren Antworten entgegenzukommen. Wer Augen hat, Baukörper zu lesen, der wird die Schlitze für die Zuluft und die Abluftkamine erkennen, der wird die zwei Abschnitte mit den beiden Kesseln von jenem mit den Zonen für Pumpen, Trafos und Steuerung unterscheiden können. Die Vertikalerschließung zeichnet sich als Turm ab, und das Innere zeigt sich durch das transparent gehaltene Erdgeschoß auch von außen. Wer das Glück hat, das Kesselhaus betreten zu dürfen, wird zugestehen müssen, daß der Maschinenbau, sofern er - wie hier - einfachen, aber konsequenten gestalterischen Richtlinien unterworfen ist, hohen ästhetischen Reiz entfaltet.

Unter der weiten Halbtonne aus Trapezblech, die von schlichten Stahlbögen getragen wird, türmen sich die Kessel in einem Geschoß unter und in sieben Geschoßen über der Erde. So komplex eine ausgereifte Anlage dieser Art heute auch ausgelegt sein möge, der sie bergende Raum ist übersichtlich, beeindruckend in seinen Tiefenwirkungen. Die Schulungs-, Büro- und Sozialräume auf den Geschoßen verblassen gegen die etwa 23 Meter hohe Halle.

Die anerkennenswerte Leistung dieses Entwurfs besteht sowohl in der Relativierung der zum Zeitpunkt des Vorentwurfs feststehenden maschinellen Ausstattung im Sinne einer überzeugenden Reduktion des umbauten Raumes und der Bauhöhe als auch in der Disziplinierung der einer solchen Realisierung innewohnenden Eigendynamiken maschinen- und hochbaulicher Art. Der auf das Aluminium und seine Eigenfarbe abgestellte Materialkanon wird konsequent durchgehalten. Die die Blechhaut durchstoßenden Öffnungen sind straff geordnet, zu Gruppen zusammengefaßt und so positioniert, daß jede Ansicht aufgeräumt wirkt.

Wer die Zufallsfiguren üblicher Industriebauten kennt - und in der Region Wien-Süd muß nicht lange nach einem schlechten Beispiel gesucht werden - , der wird am Fernwärmewerk die Eindeutigkeit der großen Form, ihre Identifizierbarkeit unter den meist als Kuben angelegten Heizwerken schätzen. Da die Wiener Industrie-Baukultur mehr von Brüchen als von kontinuierlicher Entwicklung gekennzeichnet ist, kommt diesem Bau von Martin Kohlbauer für die neunziger Jahre Signalwirkung zu.

Fast in kompensatorischer Eindeutigkeit reagiert Kohlbauer auf die Versuche der letzten Jahrzehnte, Stadttechnik in Wien zum Verschwinden zu bringen. Mit der Technik als Ausdrucksmittel weiß er sich aber als legitimer Interpret seines Lehrers Gustav Peichl, der etwa mit der Phosphat-Eliminationsanlage in Berlin-Tegel (1979 bis 85) eine der überzeugendsten „mitteilsamen“ Deutungen von Stadttechnik für die österreichische Gegenwartsarchitektur geliefert hat. Neben der Negation der Technik, wie bei Hundertwasser, und der Literarisierung der Funktion, wie bei Peichl und Kohlbauer, ist die Mystifikation der dritte Weg einer Gestaltfindung in der Stadttechnik.

Marie-Claude Bétrix und Eraldo Consolascio beschreiten ihn mit dem Heizkraftwerk Nord (1989 bis 95) in der Stadt Salzburg. Wenn auch evident ist, daß Bauten der Stadttechnik schon per se Symbolgehalt haben, erscheint die weitere Verschlüsselung geeignet, dem Technischen eine Vieldeutigkeit ohne historisierendes Etikett abzugewinnen. Ihr Bau - der wie ein Campanile zur Kirche stehende Schlot und ein plastisch durchkomponiertes Heizhaus - ist keine Beschreibung oder Erklärung, schon gar keine Bebilderung der Funktion, eher ein Ausblendungsversuch mit Hilfe falsch gestreuter Assoziationsketten. Der Betrachter wird am Salzburger Heizwerk Nord über den Zusammenhang von Funktion und Form mit Bedacht im unklaren gelassen, in Wien wird er mit Absicht aufgeklärt.

Martin Kohlbauers Auffassung von Industriearchitektur appelliert durch eine allgemeinverständliche, technisch basierte Zeichensprache an den Sehsinn. Das Heizwerk Süd erfüllt damit den in Wien noch allzu selten erfüllten Wunsch, in einem Industriebau die Anzeichen technischer Kompetenz öffentlichkeitswirksam wiederzugeben. Eine entwerferische Antithese, die Stadttechnik mit virtuosen, aber gerade noch dechiffrierbaren Verschlüsselungen zum Verschwinden zu zwingen, ohne in einen scheingrünen Ökologismus zu verfallen, steht noch aus.

5. April 1997 Spectrum

Kompetenzzentrum für Kühe

Einer Lustenauer Landwirtschaft räumt Roland Gnaiger weitreichende Raumoptionen ein: Der Hof ist nicht bloß Produktionsstätte und Lebensmitte, sondern auch alternativer Handelsplatz für ökologische Ware und Information.

Zwischen Feldkirch und Bregenz gehen die meisten Ortschaften längst in einer lockeren Bandstadt auf. Die suburbane Siedlungsemulsion des Vorarlberger Unterlandes kann einerseits als raumplanerisch irreversible Verlustzone gesehen werden, mit Feldern und Naturschutzgebieten als letzten Resten der alten Riedlandschaft. Andererseits ist sie auch als Initialstadium eines zukünftigen Agglomerationsmodells deutbar, in dem Land und Stadt nicht mehr Anfangs- und Endzustände zivilisatorischen Strebens sind, sondern eine stabile Koexistenz unter Wahrung bestehender Kompetenzen und Infrastrukturen, aber auch unter Ausschöpfung aller neuen Techniken eingehen.

Andrea Branzi, über Italien hinaus wirksamer Architekt und Vordenker, hält auf der Suche nach einer intelligenten Raumorganisation der Zukunft ein „Modell schwacher Urbanisation“ unter dem Namen „Agronica“ für sinnvoll, um ein komplementäres Gefüge von Ruralem und Urbanem zu erreichen. In der abgestimmten Ergänzung von Bauer und Städter liegt die Chance, Traditionen der agrarischen Landnahme zu sichern und die Stadt als alleinigen Träger des Fortschritts abzulösen. Städtische Nutzungen diffundieren in das Land und machen es zu einem neuen Ganzen - der die Region erfassenden „Megastadt“.

In Lustenau gibt es ein unabhängig von dieser Vision entstandenes, aber für die Durchdringung der Sphären symptomatisches Exempel: den Aussiedlerhof der alteingesessenen Familie Vetter im weitläufigen Ried, keine 15 Fahrminuten vom Zentrum Dornbirns, in Hörweite der Autobahn. Annemarie und Hubert Vetter wirtschaften seit langem organisch-biologisch, ihre Produkte sind bekannt, allein das gebaute Umfeld schränkte ihre Dynamik so sehr ein, daß sie sich zur Errichtung eines neuen Hofes außerhalb der Stadt entschlossen.

Der Bauer ist ein offensiver Zeitgenosse mit Durchblick im Förderdschungel der Europäischen Union und mit politischem Engagement in der ökologisch orientierten Verkaufsgenossenschaft „Ernte - für das Leben“. Die Bäuerin ist Mutter von sechs Kindern und ein Ruhepol im ununterbrochen laufenden Getriebe der Familie beziehungsweise des nun mit 30 Hektar relativ guten Weide- und Ackerlandes nahversorgten Unternehmens.

Ein solcher Betrieb sollte dann die besten Ertragschancen haben, wenn er natürliche Produkte herstellt, diese frischen Erträge möglichst selbst veredelt und ab Hof verkauft. Der Zwischenhandel ist ausgeschaltet, der Kunde muß die Lebensmittel direkt beim Hersteller oder seinen bäuerlichen Vertriebspartnern abholen. Die Güte der Ware ist hoch, die Preise liegen höher als in den Supermärkten, sind aber dem Gebotenen angemessen. Dieses Preisniveau ist Voraussetzung für die Umsetzung des Konzepts der neuen, in ökologischen Kreisläufen und nicht in mengenmaximierten Ernteerträgen denkenden Landwirtschaft.

Als weitere reale Marktchance zeigt sich das Bedürfnis des bodenentwöhnten Stadtmenschen, mit dem „Griff in die Erde“ Naturverbundenheit zurückzugewinnen. Der Bauernhof ist nicht nur ein Ort des Handels mit Lebensmitteln, sondern auch mit theoretischem Wissen, praktischen Fähigkeiten und erholsamen Erlebnissen. Der Transfer wird dann funktionieren, wenn hochprofessionelle Einsichten vermittelt werden, das rurale Differenzerlebnis für temporäre Stadtaussteiger zum Genuß wird. Der Bauernhof ist Kompetenzzentrum für Mensch, Tier, Pflanze.

Der Übergang von Information und Ware muß getrennt ablaufen, um effizient zu sein. Beim Kauf der wohlschmeckenden Karotten, für die die Familie Vetter über die Landesgrenzen hinaus bekannt ist, wird man nicht die Grundlagen des Gemüseanbaus erwerben können, also zudem ein einschlägiges Seminar aus dem Kursprogramm über den organisch-biologischen Landbau buchen müssen. In der Vetterschen Vision ist der Bauernhof ein gestalteter Lebensraum für Mensch und Tier, aber auch ein Vermittlungsraum für Wort und Ware, ein Kompetenzzentrum für den zeitgemäßen Landgebrauch in der Stadt.

Die Erkenntnis, daß eine fortschrittliche unternehmerische Ambition einer architektonischen Entsprechung bedarf, um gut vermittelbar zu sein, hat sich in Industrie und Gewerbe bisher eher selten durchgesetzt. In der österreichischen Landwirtschaft sind seit Jahrzehnten ernsthafte gestalterische Versuche, dem Problem des Vollerwerbsbauernhofes beizukommen, mit Ausnahme der wenigen Arbeiten von Franz Riepl, unbekannt. Obwohl ein ausgeklügeltes, institutionalisiertes Beratungssystem für diese Bauaufgabe allein schon wegen der Tierhaltung existiert, erheben sich die zahlreichen Neubauten nie über das unbeholfene, auf Kaschierung abzielende Wiederholen von Bauelementen aus der längst toten, anonymen Bautradition.

Landwirtschaftsarchitektur ist bisher selbst in der Dichte der Vorarlberger Baukultur nicht realisierbar gewesen. Es ist der Familie Vetter hoch anzurechnen, daß sie sich, von der Landwirtschaftskammer gut beraten, auf die Rolle eines auf konzeptiver Ebene mitgestaltenden Bauherrn eingelassen hat. Schon die Wahl des in Bregenz arbeitenden Architekten Roland Gnaiger beweist Spürsinn für die richtige Lösung. Gnaiger, Jahrgang 1951, ist eine der profilierten Persönlichkeiten in der Vorarlberger Gegenwartsarchitektur. Nach seiner Schule in Warth (1991 bis 1992) gelingt ihm nun mit dem Vetterhof (1992 bis 1996) wieder eine weithin gültige Deutung eines vernachlässigten Bautyps.

Die spürbare Ausgesetztheit und die geringe Vorbestimmtheit des Bauplatzes lassen die von Gnaiger gewählte Großform des Dreiseithofes logisch erscheinen. Der Baukörper ist zweigeschoßig und stellt sich in der Außenansicht bei einem Grundrißmaß von 30 auf 72 Meter als lagerhaft, industriell diszipliniert, der Weite der Ebene gewachsen dar. Die holzverschalten Trakte umschließen den wind- und lärmgeschützten Hofraum, der klar strukturiert, aber ebenso betont schlicht und funktionsorientiert wirkt.

An allen Fassaden wird die Absicht des Architekten deutlich, die komplexe Überlagerung der Arbeitsvorgänge unter einer Gestalt zu subsumieren und auf jede regionalistische Anbiederung zu verzichten. Den besten bekannten Bauernhäusern, etwa denen des Bregenzer Waldes, ist der Vetterhof insofern verwandt, als er nicht mehr und nicht weniger als seine Zwecke mit hoher Effizienz räumlich umsetzt. Die manchmal rauhe Ästhetik dieses Baus beruht auf der gelungenen Raumorganisation und dem wohlkalkulierten Materialeinsatz.

Man betritt am Nordwest-Eck über eine Veranda das Verkaufslager und den Seminar- und Speisebereich. Die mit Lehm verputzten Wände machen das halböffentliche Zentrum des Hauses trotz seiner Größe und Multifunktionalität wohnlich. Im Obergeschoß liegen die Wohnungen für zwei Betreiberfamilien, die Praktikanten und die Gäste. Die überdimensionale „Stube“ des Hauses dient hier nicht mehr primär dem Bauern, sondern dem Gast und der Kommunikation mit der Außenwelt.

Im Vergleich zur innovativen Organisation und baulichen Umsetzung der Tier- und Lagerhaltung wirken die Verkaufs-, Bewirtungs- und Wohnbereiche simpel. Der nicht nur für Laien überraschendste Raum ist der nicht überdachte, aber durch die anliegenden Längstrakte windgeschützte Freilaufstall. Wer gewohnt ist, Kühe in einem warmen Stall angekettet zu sehen, wird angesichts der ganzjährig im Freien stehenden Tiere schockiert sein und sich fragen, ob das denn der letzte Stand artgerechter Tierhaltung sein kann.

Aber der gedeckte Liegebereich der Rinder, die Lauf- und Freßzonen sind präzis differenziert. Der Fortschritt bei der Ausformung der Lebensräume der Tiere, aber auch in der Rationalisierung der Futteranlieferung und der Milchgewinnung ist anzuerkennen. Der kreisrunde Turm, in den die Kühe einzeln eintreten, um maschinell in bequemer Greifhöhe des stehenden Bauern gemolken zu werden, ist das architektonische Symbol einer überzeugenden betrieblichen Reform.

Nicht zuletzt ist das Verhalten der Tiere so friedfertig, wie man es selten sieht. Den Kühen müssen die Hörner nicht mehr beschnitten werden, die Kälber kommen ohne Geburtshilfe zur Welt, selbst die Familienbeziehungen unter den Tieren sind wieder in Gelassenheit möglich.

Dieses Projekt hat für den Bauherrn und die genehmigenden Instanzen ein hohes Maß an Streß erzeugt - das Resultat wirkt befreiend. Wenn Architektur überhaupt befriedend in der Arbeits- und Konsumwelt wirken kann, dann hat sie hier in konzeptiver Eleganz und gestalterischer Schlüssigkeit einen Standard begründet, wie LandStadt-Wirtschaft künftig räumlich aufzufassen sein wird.

7. Dezember 1996 Spectrum

Das Sinnliche des Sachlichen

Die Volks- und Hauptschule von Dieter Henke und Marta Schreieck in Wien-Simmering setzt markante Standards: Attraktivität und Funktion unter einem Dach.

Warum soll das Projekt der Moderne gescheitert sein, wenn der Stil nicht haltbar ist? Adorno selbst hat doch gemeint, man könne über die Sachlichkeit hinaus, und zwar indem man ,noch sachlicher‘ sei. ,Noch sachlicher‘ sein kann nur heißen: den komplexen Sachzusammenhängen, den Verästelungen der Gedankenreihe nachzugehen, statt eine flache Disziplin durchzuhalten. ,Noch sachlicher‘ sein heißt aber auch - Adorno fordert es ausdrücklich -, dem,Konsumierenden‘ - also dem Benützer - und seinen (wenn auch ,falschen‘) Bedürfnissen zum Recht zu verhelfen, den Widerspruch zwischen Rationalität und Humanität aufzulösen."

Hermann Czech hat kürzlich bei der Präsentation seiner neu edierten Schriften die 1963 in Wien formulierte Gedankenperspektive Theodor W. Adornos lesend ins Gedächtnis gerufen, nach der der Funktionalismus als „unverlierbare historische Stufe der Architektur“ durch Versachlichung eine damals wie heute nicht selbstverständliche Entwicklungschance hat.

Die Moderne der Architektur hat als „Bauwirtschaftsfunktionalismus“ bis in die siebziger Jahre eine böse Spur in den Städten und den Köpfen hinterlassen, deren Tiefe einige exaltierte Umwege zur Befreiung nötig gemacht hat. Auch wenn die formale Ebene der Postmoderne noch immer der gestalterische Standard bei indolenten Bauträgern ist, die Vordenker der Architektur befassen sich längst damit, das „Projekt der Moderne“ wiederzubeleben.

Daß dabei gerade Hermann Czech mit seiner „Selbstkritik“ die Fahne der Moderne hochhält, mag angesichts seiner Wiener Bauten, die allesamt keine stilistische, sondern eine gedankliche Nähe zur modernen Architektur erkennen lassen, überraschen.

Gerade der konkrete Fall „Schule“ in Wien, an dem sich kulturelle und soziale Strebung einer (Stadt-)Gesellschaft messen lassen, zeigt, wie selten Logik und Moral den Schulbau zum Akt der Aufklärung machen. Die Schule von Dieter Henke und Marta Schreieck am Leberberg im elften Wiener Bezirk ist der Beweis dafür, daß moderne Architektur heute nicht in einer bloßen Formkontinuität, bezogen auf Überväter wie Gropius oder Mies van der Rohe, wurzeln kann, sondern nur in einer Reformkontinuität, die von der Romantik ausgeht.

Die Moral des Baus von Henke/ Schreieck: die immanenten Logiken des Orts, des Ganztagsschulbetriebs, des kindlichen Daseins zu verstehen und zum Besseren wenden zu können.

Was äußerlich unzweifelhaft als architektonischer Höhepunkt einer zweifelhaft detaillierten Quartierkonzeption, eines in Dichte und gestalterischer Instrumentierung überzogenen Stadtteils wirkt, ist innerlich ein weit über den lokalen Wirkungskreis der Schule hinaus bedeutsamer Werkraum für moderne Menschen. Die Doppelschule in der Svetelskygasse ist ein Bildungsbau, der stillen Anschauungsunterricht in Architektur erteilt. Sie hebt sich nicht nur durch ihre Größe (13 Volksschul-, zwölf Hauptschul- und zwölf Tagesschulklassen, eine Dreifachturnhalle) von der Mehrzahl der Realisierungen im „Schulbauprogramm 2000“ ab, sondern auch durch ihren typologischen Gehalt, die architektonische Konsequenz und die städtebauliche Einbettung.

Von Stadtrat Hannes Swoboda als eines der Kernanliegen seiner Amtszeit, gleichermaßen von seinem hohen sozialen und stadtplanerischen Impetus getragen, tituliert, bleibt die qualitative Leistung des Schulbauprogramms doch deutlich hinter der quantitativen zurück. So vorbildlich es in der Festschreibung der Ganztagsbetreuung, der Integration von Behinderten, der Ausstattung der Sonderunterrichtsbereiche ist, so beliebig bleiben die gestalterischen Mindeststandards. Banale Stangenware kommt ebenso zum Einsatz wie manche baukünstlerische Pretiose, ohne daß versucht wird, einer breiteren Öffentlichkeit die Vorzüge und Nachteile der divergenten Lösungen zu erklären.

Die Frage nach dem Schultyp der Zukunft wurde bei der allzu rasch eingeleiteten Bauoffensive gar nicht erst aufgeworfen. Riskantere Visionen von einer Schule, die gleichzeitig Lernort für Kinder oder Erwachsene und stadtteilbezogenes Kulturzentrum, vielleicht sogar Teil einer viel weiter gehenden Funktionsballung mit Kommerz, Kult und Verwaltung ist, waren bisher nicht umzusetzen.

Wenn also Henke/Schreieck dem Raum- und Funktionsprogramm ein Maximum an Attraktivität abgewinnen, dann bleibt trotzdem offen, was sie erreicht hätten, wenn der Bauplatz größer und generelle Fernziele des Schulbaus deutlicher gewesen wären, ohne das Spezielle der Schulraumorganisation bis ins Detail festzuschreiben. Das Architektenduo hat für den Leberberg eine „strukturelle Hierarchie“ von Räumen entworfen, die gewährleistet, daß für die etwa 750 Schüler eindeutige Orte der Individualität und Gemeinschaft mit übersichtlichen Verknüpfungen entstehen.

Schon mit der glasgedeckten Rampe zum Eingang im ersten Obergeschoß wird klargestellt, daß es sich um ein öffentliches Bauwerk handelt, um eine zentrale Anlage, die sich anbietet, für den Bezirk über die Schulnutzung hinaus Aufgaben zu übernehmen. Emporgehend gewinnt man nicht bloß einen Überblick über die teils noch offene Stadtlandschaft, sondern auch Einblick in die Innenräume.

Das zweiseitig verglaste zentrale Bindeglied der beiden Schulen ist einerseits Pausenhalle und beherbergt die Bibliothek; andererseits vermittelt es den Einstieg in zwei Gangsysteme, die die nach Norden orientierten Bereiche für Sonderunterricht und Verwaltung erschließen. Die Blickachsen sind in den Gängen offen, sodaß sich die Erschließungswege optisch im Freien fortsetzen.

Rechtwinkelig nach Süden schließen sich vier Pavillons mit je drei Klassen und einem Integrationsraum an. Diese Räume öffnen sich zum Park und zu den Halbhöfen, fassen aber einen Erschließungsbereich ein, der mehr ist als ein Gang. Jener im Zuschnitt einer Klasse ähnliche Bewegungsraum ist gleichzeitig ein Aufenthaltsraum.

Durch die reichliche Belichtung dieser Zonen über die Fassade oder deren direkte Öffnung über Balkone in die tieferliegende Pausenhalle entstehen auch für Kinder überschaubare Rückzugsnischen. Diese Anordnung von vier Unterrichtsräumen um einen mehrfach nutzbaren Zugangsbereich ist eine typologische Innovation, die das „Schul-bauprogramm 2000“ ansonsten nicht kennt. Henke/Schreieck weisen dem Gang somit eine neue Qualität zu, fügen die angrenzenden Klassen zu einer Nachbarschaft, in der sich jeweils ein Jahrgang zusammenfinden wird.

Noch markanter ist das reformatorische Bestreben der Architekten in der von ihnen entwickelten Standardklasse, die entweder einseitig oder zweiseitig belichtet ist. Besonders letztere, über Eck zum Stadtgrün geöffnete Raumfigur kann als beste Ausprägung eines Unterrichtsraums gelten, den das Schulbauprogramm in seinen ersten fünf Jahren hervorgebracht hat.

Selbst für Kinder ist der Blick über das - nur 60 Zentimeter hohe - Parapett gut möglich. Die Außenwände sind darüber gänzlich verglast, zu einem großen Teil mit feststehenden Scheiben, die von schmalen Profilen gehalten werden. Die Belüftung ist durch einige wenige Flügel sichergestellt, die Behaglichkeit im Sommer durch einen außenliegenden Sonnenschutz.

Die Gesamtwirkung: ein Klassenraum von hoher Transparenz und Klarheit, perfekt belichtet und daher in seiner Möblierbarkeit nicht präjudiziert, allen jetzigen und zukünftigen Vermittlungsformen gewachsen. Die Einbauschränke verstärken in ihrer asketischen Machart noch die Anmutung, die sich so mancher Architekt von seinem Wohn- oder Arbeitsraum wünschen würde.

Henke/Schreiecks Definition eines Klassenraums, wie auch der vorgelagerten Zugangszone, verschiebt die bisherigen Maßstäbe des Schulbaus ein wenig, aber merklich nach oben. Die disziplinierte Materialität der Schule, von den Eigenfarben der Baustoffe getragen und von wenigen Farbakzenten betont, unterstützt den zeitlosen Ausdruck zusätzlich.

Auf dem durch den Ganztagsbetrieb angezettelten Weg vom monofunktionalen Schulbau zum mehrfach nutzbaren Tageswohnhaus für Kinder und zum Ertüchtigungsort für Erwachsene ist man durch dieses Konzept ein Stück weitergekommen. Die Frage, wie weit eine Architektur ihrer Zeit vorauseilen kann, um noch genutzt werden zu können, stellt sich kurz nach der Inbetriebnahme nicht mehr. Kinder und Lehrer haben die Optionen dieses Baus verstanden und interpretieren ihn bereits mehr oder weniger respektvoll.

Ob die Stadtpolitik und die kommunale Beamtenschaft bereit sind, die Errungenschaften des Baus von Henke/Schreieck als solche wahrzunehmen und darauf aufbauende Innovationen für einen Ort zuzulassen, der Kinder länger beherbergt, als ein Arbeitstag dauert, bleibt aber noch abzuwarten.

21. September 1996 Spectrum

Die Einkreisung des Nutzens

Stadtplanerische Weitsicht, verschlüßelte Botschaften: Bei der Neugestaltung des Wiener Gaußplatzes wurde auf marktschreierische Aussagen verzichtet.

Es ist eine jener mit zynischen Aspekten behafteten Paradoxien, wie sie am häufigsten im Vorfeld von Wahlen aufbrechen: Einer der Wiener Spitzenkandidaten antwortet auf die Frage nach dem „mißlungensten und änderungswürdigsten Ort Wiens“ mit einem Besuch des kürzlich neugestalteten Gaußplatzes. Er meint angesichts eines noch nicht fertiggestellten Ballspielkäfigs ein liberalistisches Bekenntnis gegen Behördenwillkür ablegen zu können: „Wem so etwas einfällt, der kann keine Kinder haben. Das zeigt, wie von Behörden mit Menschen umgegangen wird. Man hält sich an alle Vorschriften, die emotionale Kompetenz fehlt aber.“

Diese Abfuhr, ausgesprochen an einem Ort, dem wie kaum einem öffentlichen Raum in Wien alle Facetten planerischer Ambition zuteil geworden sind, an dem sich wie kaum anderswo Argumente und Emotionen der Bürger entzündet haben und von dem Rückwirkungen auf Behörden ausgegangen sind, weist auf fehlende Wahrnehmungsfähigkeit eines Politikers hin. Der Gaußplatz hat diese Bewertung nicht verdient, das macht jede kritisch geschriebene Projektgeschichte klar. Der Kardinal- Rauscher-Platz wäre dagegen ein greller Fixstarter für dieses abwertende Prädikat.

Am neuen Gaußplatz fehlen marktschreierische Aussagen. Seine Botschaften sind verschlüsselter, abstrakter, nichtsdestoweniger erkennbar. Qualität enthüllt sich nicht jedem sofort: „Design ist unsichtbar.“ Die Dinge des täglichen Gebrauchs stellen sich, wenn sie unmittelbare Nutzwerte entfalten, nicht als Stimmungsmacher, sondern als Dienstbarkeiten dar. Die urbane „Benutzeroberfläche“ ist am Gaußplatz geordnet, neue Nutzungsmuster sind abgesteckt. Teile dieser Muster sind alt, andere nach einer Aufwertung wieder wahrnehmbar, weitere gänzlich neu.

Die widerspruchsfreie Inkorporation banaler Vorgaben in das neue Konzept, wie etwa der Bedürfnisanstalt in die Pergola, belegt die formale Resistenz der Installation. Sie wird nicht jedem gleich zu Gesicht stehen, aber sie wird in ihrer Aneigenbarkeit beweisen, daß sie intelligent ausgelegt ist. Sie ist durchdacht, aber hat Reserven für die Interpretation; sie ist konsequent gestaltet, aber räumt sekundären Nachrüstungen eine Chance ein; sie ist in manchem Glanzlicht dominant, aber respektiert den Bestand.

Planer und Bürger haben, unterstützt von Behörden und Politikern, beharrlich auf die latenten räumlichen Optionen des Gaußplatzes gesetzt. Sie haben das Nützliche „eingekreist“, es letztlich dort gefunden, wo es seit langem liegt: im Wechselspiel eines unvollständigen Oktogons von (klein)bürgerlichen Wohnbauten mit dem exzentrisch eingelagerten Kreisverkehr.

Im 17. Jahrhundert beginnt sich eine merkwürdige Kreuzungsgeometrie am Rande des Augartens, eines damals noch ungestalteten, kaiserlichen Jagdgebiets, abzuzeichnen. 1861 entwirft Ludwig Förster den für Wien ungewöhnlichen Sternplatz. Die Fronten der seit den frühen siebziger Jahren entstandenen Bauten zeichnen den Stern aber nicht nach, sondern sind so zurückgenommen, daß sich ein unregelmäßiges Polygon mit acht einmündenden Straßen ergibt. Diese erste Bebauung ist mit einer Ausnahme noch heute erhalten. Der Gaußplatz ist wegen seines geringeren Verkehrsaufkommens in Ost-West-Richtung mehr ein Architekturplatz - mit Spiel-, Erholungs- und Kommunikationszonen - denn ein klassischer Verkehrsplatz.

Das Quartier um den Gaußplatz, die Kanalbrigittenau, war seit jeher als preiswertes Wohngebiet von uneinheitlichen Bewohnergruppen geprägt. Auch heute ist spürbar, daß hier sozial schwächere In- und Ausländer unterkommen. Der Gaußplatz ist ein Sammelbecken für Kinder und Jugendliche, es gibt eine Reihe einfacherer Gaststätten und Läden - der Platz lebt und hat beste Chancen, nach der sozialen Befriedung durch den Umbau auf Dauer eine attraktive Quartiermitte abzugeben.

Mit den Entwicklungschancen ist es aber nicht immer zum besten gestanden: Seit Mitte der siebziger Jahre folgte ein Umbauprojekt dem anderen. Dynamik kommt erst auf, als sich die städtische Gebietsbetreuung ein Pilotprojekt zumutet, um dem Gaußplatz in einem kooperativen Verfahren mit den Bewohnern eine neue Gestalt zu geben. Die auch für das anerkannt hohe Niveau der Wiener Stadterneuerung beispielhafte Initiative mündet im November 1990 in den „Arbeitskreis Gaußplatz“, der Informations- und Koordinationsaufgaben wahrnimmt.

Uschi Reisinger und Dieter Schreiber wachsen mit der Leitung des Arbeitskreises aus der angestammten Rolle als Gebietsbetreuer in jene lokaler Projekt- und Kulturmanager. Man übertreibt nicht, wenn man in diesem Team die ausschlaggebende Triebkraft sieht, die das über Jahre immer wieder an der Kippe stehende Projekt des Gaußplatz-Umbaues auf den Weg bringt. Die Bürgerbeteiligung gipfelt in der Bewertung der Projekte aus einem von der Stadt Wien ausgelobten Gutachterverfahren. Luigi Blau, Andreas Brandolini, Rudolf Guttmann und Franz Kuzmich stellen sich im März 1992 einer Fachjury wie dem Arbeitskreis.

Franz Kuzmich, Maria Auböck und Werner Rosinak gehen mit dem klaren Konzept eines in drei lineare Zonen gegliederten Platzes als Sieger hervor. Ihr Entwurf besticht durch die mutige Sperre der Oberen Donaustraße und das damit einhergehende Verschwinden des nicht nur von Fahrschülern gefürchteten Kreisverkehrs. Die Mutprobe, den Platz an die Donaukanallände anzunabeln, will der Bezirk nicht bestehen, sodaß 1993 dem ausgezeichneten Projekt eine Revision nahegelegt wird. Franz Kuzmich verzichtet auf die weitere Beauftragung.

Andreas Brandolini, aus Sachsen gebürtiger Architekt und Professor für Design, weckt mit seinem Vorschlag einer gestalterischen Überhöhung der für obsolet gehaltenen Kreisgeometrie und der asketischen Möblierung des Platzes großes Interesse. Der Kreisverkehr ist damals negativ besetzt und durch die geplante Sperre der Oberen Donaustraße nicht mehr spruchreif. Die politische Wiedergeburt des Kreises stellt zwei Jahre nach dem Gutachten diese Entscheidung auf den Kopf und bringt Brandolini mit seinen Wiener Partnern Heinz Lindner und Hilmar Bauer ins Spiel.

So bietet sich nun trotz medialer Unkenrufe - vom „Teufelskreis“ und „Swobodrom“ ist die Rede - ein aufgeräumtes Stadtgefäß mit vier raumbildenden und -trennenden Elementen. Da sind: erstens der nachts strahlende, tagsüber metallisch glänzende Stahlring als Zentrum des Kreisverkehrs und des gesamten Platzes; zweitens die langgestreckte Stahlpergola, die die Verkehrsflächen von Spiel- und Ruhezonen trennt; drittens der Spielkäfig in der Verlängerung der stillgelegten Treustraße; viertens die zylindrischen Rankgerüste, die den nördlichen und östlichen Platzrändern zu räumlicher Eigenart verhelfen.

Der urbanistische Ansatz, die irreguläre Geometrie durch den präzisierten Kreis(verkehr) zu schönen und erfaßbar zu machen, geht auf. Die Gleichbehandlung aller Nutzungen steigert den Wert des Platzes deutlich: Jede Nutzung kann für sich bestehen. Die Kindern testen den Ballkäfig auf Schußfestigkeit, die Jugendlichen gehen ungestört auf Distanz, die Alten haben ihre Ruhenischen, nur die Automobilisten haben die zur Bevorrangung der Straßenbahn installierte Sparampel noch nicht verinnerlicht. Die Materialisierung der Pergolen und Rankgerüste ist in ihrer Askese vorbildlich und bringt die an alle Sinne appellierende Bepflanzung (Lavendel, Wein, Salbei, Minze und Johannisbeere) und die als Solitäre herausgearbeiteten alten Bäume noch besser zur Geltung. Die Schiefermauern schneiden klare Bezirke aus dem Planum und separieren im Verein mit den Bodenbelägen (wassergebundener Sand, Betonsteine, Asphalt) widersprüchliche Verwendungen. Die „Rathauspark“-Laternen und die wiederentdeckten Peitschenleuchten lassen ironisch die sechziger Jahre anklingen. Und all das soll bar jeder „emotionalen Kompetenz“ sein?

13. Juli 1996 Spectrum

Warte für eine Stadtbeschau

Hektischer Verkehr kennzeichnet den Übergang vom neunten zum 19. Wiener Gemeindebezirk. Dort, wo ehedem das Café Grillparzer beheimatet war, haben Ifsits, Ganahl und Larch einen alten Standort wiederbelebt: „Blaustern“ - ein weltoffenes Wiener Wohnzimmer.

Die Zeiten, da eine Hochschule in Wien sich noch für den Welthandel schlechthin zuständig nennen konnte und ihren Raumbedarf mit ernsterer Architektur aus-drücken wollte, liegen lange zurück. Carl Appel vollendete 1957 sein schlicht gestaltetes, heute wieder angenehm berührendes Auditorium maximum für die Welthändler. Die achtziger Jahre bescherten der Grenzregion zwischen neuntem und 19. Wiener Gemeindebezirk dagegen Zeichen latenter Provinzialität: die plump-biedere Wirtschaftsuniversität, das tatmotivstrotzende Polizeihauptquartier, das rohzuckerübergossene Fernheizwerk - zusammen schlechthin das Bermudadreieck der Wiener Stadtentwicklung im Bann von Otto Wagners Stadtbahnsystem.

Damit ist das Spektrum baulicher Sensationen in dieser Schlüsselzone der mentalen Landkarte Wiens abgesteckt: Am Übergang vom Alsergrund nach Döbling treffen schroffe Gegensätze aufeinander, verbinden sich zu einem nicht reizarmen Raumamalgam. Otto Wagners Brücke über die Nußdorfer Straße ist eine markante Torsituation und macht diese frequentierte Gürtelkreuzung zu einem Orientierungspunkt auf dem Weg vom Stadtzentrum in den Wienerwald. Der Gürtel als Stadtautobahn und Laufsteg des Rotlichtgewerbes ist eine Wiener Sondersituation und ein Problemfall mit jahrzehntelang erfolgloser Reformgeschichte. Die Hochbahn Wagners ist ein leistungsfähiger Beitrag zu Funktion und Ästhetik der modernen Großstadt.

Jeder angrenzende Straßenraum hat hier seine charakteristische Perspektive. Der Währinger Gürtel führt gnadenlos auf Hundertwassers Heizzwiebel zu und endet als unscheinbarer Seitenast an den Stadtbahnbögen. Die Heiligenstädter Straße setzt den Gürtel fort und mündet in eine geradezu japaneske Verschlingung von hochliegenden Verkehrswegen. Der Liechtenwerder Platz ist der Beweis, daß mit dem einst hochgeschätzten städtebaulichen Element Stadtplatz kein klares Gefäß, sondern auch eine diffuse Gegend gemeint sein kann, in der sich neben Autos nur Studenten und zum Verkehrsamt beorderte Versicherungsvertreter bewegen müssen. In dieser merkwürdigen Collage von Altem und Neuem, von Gelungenem und Entgleistem, von hektischen Verkehrsbändern und unauffälligem Wohnquartier steht ein Mietwohnhaus der Gründerzeit, den meisten erinnerlich durch das dort vormals beheimatete Café Grillparzer.

Zuletzt war dieses traditionelle Kaffeehaus heruntergekommen. Das Portal wurde in den fünfziger Jahren von seinen Bossen befreit, belanglos war auch das Innere. Sepp Fischer und Andrea Lechnitz ließen sich als neue Eigentümer und bereits erfolgreiche Gastronomie- Anbieter von diesen Widrigkeiten nicht täuschen. Der Standort macht einen radikalen Umbau zu einem Schaufenster und einer Rückzugsnische für eine sich als schick einschätzende Stadtjugend plausibel.

In einem geladenen Wettbewerb lotet die Bauherrschaft 1994 aus, wie groß der Spielraum architektonischer Ansätze sein kann. Angestrebt wird ein Mischtyp von Café und Restaurant, sozusagen eine Kombination von Wohn- und Eßzimmer für jene, die nicht zu Hause bleiben, nicht auf der Straße und trotzdem im Mittelpunkt des Geschehens sein wollen. Integriert in den Gastraum sollte eine Kaffeerösterei sein, woraus sich auch der Name „Blaustern“, ein Verweis auf die Kennzeichnung einer südamerikanischen Bohnenqualität, ableitet.

Walter Ifsits, Hanno Ganahl und Werner Larch kommen mit ihrem bisher größten Bau, dem Golfhotel in Ebreichsdorf, als Referenz ins Rennen. Ihr Vorschlag einer Ausschälung der tragenden Mittelmauer zugunsten eines winkelförmigen, holzbekleideten Großraums setzt sich gegen die einschlägig erfahrenen Teams Driendl & Steixner sowie Eichinger oder Knechtl durch. Erste Skizzen und Modelle zeigen einen durch den Abbruch der Fensterparapette an der Schauseite entgrenzten Raum, der die Grenzen zwischen Lokal und öffentlichem Gut verwischen will. Mit Rietveld- Sesseln möbliert, kündigt sich zumindest ein kühles, strikt neomodernes Ambiente an.

Die Realisierung ist mehrschichtiger ausgefallen, wenn auch nicht ganz ausgereift in der Wahl der Materialien. Das Kunstlicht unterstützt die funktionale Zonierung und verdeutlicht das Bekleidungsprinzip. Die verglasten Wandpfeiler holen den Straßenbetrieb in das Innere und replizieren das Verkehrsgeschehen. Die Möblierung mit quadratischen Tischen und den wiederentdeckten Sesseln Roland Rainers ist stimmig, weil sie nicht ostentativ Designobjekte präsentieren will, sondern sich zweckdienlich dem Gesamteindruck unterordnet.

In den durch große Fenster perforierten Raum, in dem die Logik des mit zwei Stützen unterfangenen, statischen Systems keine Rolle mehr spielt, werden ein Vorhang und ein Deckel aus Sperrholz eingehängt. Die Fugen rhythmisieren den Raum, ordnen ihn, fassen seine Irregularitäten zusammen. Ifsits, Ga-nahl und Larch intendieren in dem gemeinsam mit Claudia König und Christian Matt realisierten Gastraum keine sterile, sondern eine sinnliche Stimmung, die mit dem Attribut sachlich gut zu umschreiben ist. Die moderierte Sinnlichkeit deutet auf eine Ambivalenz des Ansatzes hin, auf ein „Sowohl-als- auch“, das freilich nicht jenen Grad an Mehrfachkodierung erreicht, den Hermann Czechs gereifte Café-Schöpfungen in aller Gelassenheit vorstellen können.

Alles in allem eine überzeugende Belebung eines alten Standortes, eingedenk der Totgeburten in den Cafés Sperl und Landtmann. Das Café Stein, die Restaurants Kiang, Wrenkh und Scala oder die Bar KIX haben den Wiener Boden zur Befreiung von mächtigen Ausstattungstraditionen bereitet. Ifsits ist Wiener, Ganahl und Larch stammen aus Vorarlberg; dementsprechend sind sie eher der Deutschschweizer Gestaltungsszene verbunden. So wundert es nicht, wenn das „Blaustern“ nicht nur Wiener Erfahrungen verarbeitet, sondern das Restaurant „vinikus“ von Annette Gigon und Mike Guyer in Davos als Bezugsebene gilt. Kompromißlose Materialstringenz und gelegentlich zu ernste Formdisziplin, die selbst der Deutschschweizer Einfachheit zum Problem zu werden droht, sind im „Blaustern“ wiederzuerkennen. Mögen materiale Wahlverwandtschaften mit den Vorläufern in Wien existieren, der Unterschied liegt im absichtsvollen Verzicht auf literarische Elemente. Wenn ein Kernsatz von Walter Ifsits zum gestalterischen Umfeld lautet: „Wir hassen die Mode, wir suchen das Understatement, die Reduktion auf das Wesentliche“, dann muß man konstatieren, daß dieses Credo zwar oft zitiert wird, nichtsdestoweniger aber weitgehend umgesetzt ist. Der Lage und Machart des „Blaustern“ entsprechend, ist der Zuspruch im ersten Halbjahr nach der Eröffnung hoch; der wirtschaftliche Erfolg der Investition ist absehbar.

Die von den Architekten ersehnte Homogenität in der Einfachheit, die sich in manchem Moment nicht ganz einstellen will, beweist nur, daß es sich eben doch um eine Erstbegehung des schmalen Grates zwischen Anspruch und Baubarkeit handelt. Beste Architektur enthält stets die Komponenten Imagination und Erfahrung. Mit diesem Bau erreicht die architektonische Kultivierung der Wiener Gastronomie - von der Mitte ausgehend - den Gürtel. Um als weltoffener Westwiener im öffentlichen Wohnzimmer seine Sprech- oder Lesestunden, seine Rendezvous und Observierungen abzuhalten, müßte nicht mehr weiter stadteinwärts gefahren werden. Ob sich risikofreudige Unternehmer zu analogen Aktionen hinreißen lassen, bleibt abzuwarten.

Vielleicht werden statt radialer Pirschgänge auf die ultimative Kaffeehausschöpfung bald tangentiale in Mode kommen. „Der Gürtel geht auf“, könnte der neue Lockruf der sich entfaltenden Stadtzone sein. Daß die verruchtesten Quartiere einer Stadt gute Optionen auf neue Attraktivität bieten können, sofern ihnen kollektive Bewußtseinsverschiebungen zugute kommen, ist bekannt.

Wenn früher Bankstellen die Cafés aufgesogen haben, so ist zu prognostizieren, daß das absehbare Filialsterben bei den Großinstituten dem Kaffeehaus neue Raumreserven eröffnet. Die der virtuellen Kommunikation vor der Workstation überdrüssigen Telearbeiter werden sich nach dem Eintauchen in die analoge Stadt sehnen, nach der Warte für die Stadtbeschau. Hierarchielose, halböffentliche Räume wie das „Blaustern“ werden sich rascher weiterentwickeln als der private (Wohn-)Raum, der einer Neutralisierung der Nutzungsmuster bedürfte. Das Café kann ein Rückzugsnische werden, während sich der Wohnraum in die digitale Welt entgrenzt.

16. März 1996 Spectrum

Konvex-konkav unterm Kapf

Freunde hinfälliger Starrheit auf der einen, Gegner auffälliger Elastizität auf der anderen Seite: Passanten und Pedanten ereifern sich über die alte und die neue „Vereinigungsbrücke“ in Feldkirch. Protokoll einer Erregung.

Eine kraftvolle Stahlbetonschließe in steiniger Stadtschlucht: Die „Vereinigungsbrücke“ (1927/28 errichtet und nach dem 1925 erfolgten Zusammenschluß der Gemeinden Altenstadt, Feldkirch, Tisis und Tosters benannt) bildet eine der landschaftlich hervorragenden Konstellationen von Großfeldkirch, bei denen das Menschenwerk übergangslos die Bergwelt tangiert.

Einerseits ist das Zentrum von steilen, oft felsigen Bergrücken gefaßt, andererseits ufern die Ränder in das ebene Rheintal aus. Der Kern Feldkirchs ist dort entstanden, wo das längliche Stadtbecken von der Ill durchschnitten wird. Der Fluß konnte dem Gestein zwei mächtige Einschnitte abringen, die nun wie Portale den Übergang vom Stadtgefäß zur Umlandebene markieren.

Eines der beiden „Tore“, das gegen Nordwest orientierte, wird von der Betonbogenbrücke überspannt, die nun als Symbol der Stadtwerdung und Naturbeherrschung verinnerlicht ist, aber ihre technischen Dienste nicht mehr erbringt. Martin Häusle und sein Team haben diese unverwechselbare Verschneidung von verkehrstechnischen Notwendigkeiten, Bauingenieurkönnen und Felswänden um einen zeitgemäßen Aspekt bereichert. Seit 1995 gibt es eine neue „Kapfbrücke“, benannt nach dem angrenzenden Margarethenkapf, der schroffen Endformation des Blasenberges.

Im Zuge eines erst zu errichtenden Tunnels durch den Ardetzenberg bedurfte die nach Liechtenstein und in die Schweiz führende Bangser Landesstraße einer neuen Flußquerung. Nahe der jetzt nur mehr Fußgängern und Radfahrern vorbehaltenen alten Brücke quert ein dreiteiliges Tragwerk das meist dürftig durchflossene Bett der Ill, mit drei Nebentragwerken wird der benachbarte Werkskanal überspannt.

Der Brückendiskurs ist seit der Verkehrsübergabe in doppelter Hinsicht brisant. Zum einen sträubt sich ein Teil der Öffentlichkeit gegen den von der Stadt aus wirtschaftlichen Überlegungen präferierten Abbruch der alten „Vereinigungsbrücke“, zum anderen hat die Nutzung der neuen manchen Passanten zu Protesten über die Neigung und die Beweglichkeit der Gehsteige veranlaßt.

In diesem Zusammenhang sehen sich die Konstrukteure in einer Fachdiskussion mit dem Prüfstatiker und der Landesverwaltung. Das Schwingungsproblem an der innovativen Konstruktion ist kaum mit einer Standardlösung zu behandeln. Der bedenkliche Zustand der Fahrbahnplatte in der Bogenbrücke ist seit 1990 durch ein Gutachten bekannt. Seitdem ist sie nur mehr beschränkt belastbar, nach der Stillegung stehen jetzt endgültig die Entscheidun-gen über die weitere Behand-lung des Altbaus an.

Engagierte Bürger - ein Komitee um Gerold Hirn hält gar eine Verglasung der Brücke als Tanzlokal für erstrebenswert - formieren sich für den Erhalt. Die Stadtverwaltung ist bemüht, eine argumentierbare Vorgangsweise mit dem Ziel eines neuen, leichten Steges für Fußgänger und Radfahrer zu entwickeln. Das Bundesdenkmalamt konkretisiert auf Wunsch des Landes die Denkmalwerte.

Die Diskussion in der Bevölkerung führt zu einer Neupositionierung der „Vereinigungsbrücke“. Ihr wachsen angesichts des drohenden Verlustes wieder Sympathie- und Denkmalwerte zu, die sich seit Jahrzehnten abgenützt hatten. Hohe städtebauliche Signifikanz stand nie in Zweifel. Es tut sich jene argumentative Schere auf, die immer klafft, wenn Ingenieurbauten ihre Lebensdauer erreichen, alte Nutzungen obsolet sind. Die Denkmalwerte geraten in den Kontext politischer Machbarkeiten. Das korrodierte Bewehrungseisen ist zu heiß, als daß man es unüberlegt in die Hand nehmen kann. Angesichts des dramatischen Verfalls bedeutet jede Lösung für die alte „Kapfbrücke“ einen denkmalpflegerischen Kompromiß, der mit dramatischen Substanzverlusten verbunden sein muß.

Käme das Denkmalamt zu der Auffassung, daß dieses Objekt künstlerisch, lokalhistorisch und baukulturell unverzichtbar ist, dann bedeutet das eine vollständige Sanierung der Fahrbahnplatte, da diese früher oder später auch unter dem Eigengewicht versagen wird. Sowohl der von Manfred Wicke vorgeschlagene vollständige Ersatz der Platte wie auch deren Unterstützung durch eine von den intakten Bögen abgehängte Stahl-Beton- Verbundkonstruktion nach dem Konzept von Martin Häusle und Eugen Schuler stellen einen gravierenden Eingriff dar.

In beiden Fällen wird aber ein konstruktives Konzept eines Stahlbetonbaus perpetuiert, das als ingenieurgeschichtlich bemerkenswert, aber nicht (mehr) als materialgerecht gesehen werden kann. Beton ist in Zuggliedern ohne Vorspannung, die die sich unter der Belastung einstellenden Risse überdrückt, nicht sinnvoll eingesetzt.

Reine Zugelemente in Stahlbeton, wie sie hier den Bogen mit der Fahrbahnplatte verbinden, sind als Kuriosum zu werten, das im Kontext der zwanziger Jahre erklärbar ist, als Fachwerke in Stahlbeton aufgekommen sind. Die baustatische Analogie zu tradierten Systemen des Holz- und Stahlbaus hat auch seinerzeit die Verwendung von Fachwerken in Stahlbeton erstrebenswert gemacht.

Materialgerecht, logisch und im Grundsatz einfach ist das System, das Martin Häusle mit den Architekten Götz Stöckmann und Gabriela Seifert beziehungsweise den Bauingenieuren Klaus Bollinger und Paul Frick seit 1993 entwickelt hat. Das Haupttragwerk besteht aus einer Verbundkonstruktion, in der der Beton als Obergurt die Druckkräfte und ein räumliches Stahlfachwerk unterhalb die Zugkräfte aufnehmen. Die Fahrbahnplatte ist stärker als üblich gewölbt, sodaß sich dem Autofahrer die Querung als flache Schwelle mitteilt.

Soweit ist der Bau in seiner Eleganz und Dimensionierung unbestritten. Die Nutzerkritik zielt auf die Neigung und das Schwingungsverhalten jener Spannbänder aus ein Zentimeter starkem Stahl, die die beiden Geh- und Fahrsteige seitlich der Fahrbahn tragen.

Da die Brücke insgesamt kurz und relativ breit ist, haben sich die Gestalter entschlossen, das selten angewandte Prinzip eines freihängenden Bandes anzuwenden, das sich gegen die aufsteigende Fahrbahn nach unten wölbt. Es sucht sich selbst seine optimale Form, reagiert aber auf Lastfälle sofort spürbar. Um Mißbräuche durch mutwilliges Aufschaukeln zu unterbinden, waren Bremselemente vorgesehen, die aber der Behörde und dem Prüfingenieur nicht als hinreichend erschienen.

Nun sind statt dessen hydraulische Konstrukte von fragwürdiger Detaildurchbildung installiert. Gegen den Willen und die gestalterische Intention der Konstrukteure hat die Behörde diese(n) Dämpfer eingesetzt, um vor allem die öffentliche Erregung ob einer technisch scheinbar nicht ausgereiften Konstruktion zu mindern. Der Verdacht war unbegründet und hätte sich bei einem so repräsentativen Bauwerk im Konsensweg ausräumen lassen sollen.

Der Ingenieurdisput um ein Gefährdungspotential für den Spannbandpassanten belegt deutlich, wie durch eine reagible Konstruktion einige Nutzer überfordert werden. Vor allem wenn die Bauwerksantwort überraschend durch örtliche Verformung oder fortgesetztes Schwingen auftritt, kann bei einer seit langem auf monolithische Starre ausgerichteten Erwartungshaltung Irritation auftreten.

Dies ist naturgemäß nicht die Absicht der Erfinder, die auf eine Steigerung der dritten Dimension, also der räumlichen Wahrnehmbarkeit der Flußquerung, abzielt. Das parallele Spiel von konkaven und konvexen, von beweglichen und starren Verkehrsflächen ist eine außer-ordentliche, ingeniöse Leistung mit architektonischem Gehalt und verräumlichendem Charakter. Eigenschaften, die man auch dem alten Bogen am Kapf zusprechen kann. Aber deren Wirkungen sind jahrzehntelang im Unterbewußten abgelagert, das Neue ist noch mühsam anzueignen.

Die Freunde hinfälliger Starrheit wie die Gegner auffälliger Elastizität sollten sich am Weg zu ihrem Urteil die Sicht Auguste Perrets einprägen: „Technik, ständige Huldigung an die Natur, Hauptnahrung der Imagination, wahre Quelle der Inspiration, von allen Gebeten das wirksamste, Muttersprache jedes Schöpfers. Technik, dichterisch gesprochen, führt uns zur Architektur.“

13. Januar 1996 Spectrum

Im Kreis der kecken Kinder

Die Wiener Vorstadtjugend braucht keine stupid argumentierten Serienschulen, sondern stupend konzipierte Lernorte. Martin Kohlbauer weist mit seiner Hauptschule in Wien-Aspern einen Weg.

Der architektonische Charakter unserer Schulbauten sollte klar in seiner Gliederung, verständlich und naturverbunden sein. Eine richtige Gruppierung der Baukörper, Hof- und Gartenräume, die einem organischen Gefüge der inneren Anlage entsprechen muß, soll abwechslungsreiche Raumerlebnisse vermitteln und durch den sinnvollen, in der Aufgabe der einzelnen Räume liegenden Gegensatz von innen und außen, hoch und niedrig, eng und weit spannungsvolle Wirkungen erzielen. Die Schule, die bedeutsamste Welt des Kindes, in der es die entscheidendste Phase seiner Entwicklung durchlebt, soll in ihrer architektonischen Durchbildung einen würdigen, ja sogar gelegentlich feierlichen Charakter haben."

Was wie ein Ordnungsruf im jüngst von der Stadtpolitik losgetretenen Methodenstreit um mehr Sparsamkeit im Wiener Pflichtschulbau klingt, ist eine Reminiszenz aus der Zeit des Wiederaufbaus. Franz Schuster, gebürtiger Wiener, Schüler und Mitarbeiter von Heinrich Tessenow, zuletzt Leiter einer Meisterklasse für Architektur an der Hochschule für angewandte Kunst, veröffentlichte 1950 dieses Credo unter dem Titel „Schulen - Die Welt der Kinder“. Schuster appellierte an Erzieher und Gestalter, „vorurteilslos neue Wege zu gehen, um unserer Jugend jene Bildungsstätte zu geben, die sie befähigt, die in ihr schlummernden Kräfte auf das Beste zu entwickeln“.

Worüber längst gesichertes Wissen herrscht, um das muß nun von der Architekturkritik wieder polemisierend gerungen werden. Die Feststellung, daß durch den Schulbau Bildungsarbeit zu leisten und der gestaltete Raum in einer kulturell fortschrittlichen Gesellschaft als pädagogisches Instrument anzuerkennen ist, wirkt angesichts der jüngsten Leistungen im „Schulbauprogramm 2000“ fast trivial. Nach ersten standortbestimmenden Bauten, die solitäre Erfolge kommunaler Praxis mit belebender Dauerwirkung darstellen, soll nun wieder die Normalität einkehren.

Wenn Schuster der Schule einen „würdigen, gelegentlich feierlichen Charakter“ zubilligt, spricht er die Stellvertreterrolle an, die ihr als Bauwerk in der Stadt zukommt und die nun mit Nachdruck einzufordern ist. Die Schule steht für die Bedeutung des Kindes in der Bevölkerungspyramide, für die Wertschätzung der Bildung in der Gesellschaft, für die Darstellbarkeit eines humanistischen Anspruchs im utilitaristischen Umfeld heutiger Stadtentwicklung. Das Schulhaus ist mehr als eine Ansammlung von Klassenräumen; es ist eine zarte Zentrumsbildung imSiedlungsgeflecht.

Martin Kohlbauer hat mit Hannes Rohacek an der Eibengasse in WienAspern einen Bau verwirklicht, der neben den internen Notwendigkeiten genau diese repräsentative Rolle übernehmen kann, weil er ein urbanistisches Selbstbewußtsein entwickelt und von einer eindeutigen Haltung getragen ist. Kohlbauer, Jahrgang 1956, ist ein für Wiener Verhältnisse junger Architekt, der mit dieser Schule sein erstes Bauwerk eigenverantwortlich errichtet hat. Er stammt aus Wien und ist Absolvent der Akademie der bildenden Künste. An der Meisterschule von Gustav Peichl hat er eine entscheidende Prägung erfahren. Sein Projekt ging 1992 als Sieger aus einem bundesweit offenen Wettbewerb der Stadt Wien hervor.

Der Entwurf ist weitgehend ident mit dem Realisierungsprojekt: ein in weißem Putz gehaltener Quader mit kreisrundem Hof, abgerückt von der Langobardenstraße, angeschmiegt an die sich in den neuen Stadtteil, die „Erzherzog-Karl-Stadt“ , entwickelnde Eibengasse. Diese endet noch in rohem Baugelände mit dem typischen offenen Flachlandcharakter der Wiener Nordperipherie. Die ersten angrenzenden Wohnbauten nach dem städtebaulichen Leitbild von Peichl und Kohlbauer werden bereits errichtet und lassen eine vielfältige Wohnungstypologie mit wohldimensionierten Stadträumen erwarten.

Als kompakter, dreigeschoßiger Baukörper, der alle Nutzungen einer Ganztagsschule - von den Klassenräumen bis zu den für Gäste offenen Turnsälen - aufnimmt, setzt er sich deutlich von der noch ungeprägten Umgebung ab und ist doch so dimensioniert, daß er einen städtebaulichen Anknüpfungspunkt für einen sehr homogenen Stadtteil abgibt. Es ist ein selbstbewußter, nach seinen Ansätzen in der klassisch genannten Moderne wurzelnder Bau.

1926 publizierten Le Corbusier und Pierre Jeanneret ihre „Fünf Punkte zu einer Neuen Architektur“ . Unter den Titeln „Die Säulen“ , „Die Dachgärten“ , „Der freie Grundriß“ , „Das lange Fenster“ und „Die freie Fassade“ leiteten sie aus dem damaligen Stand der Technik konstruktive und gestalterische Innovationen ab, die in den folgenden Jahrzehnten die architektonische Moderne bestimmen sollten. Kohlbauers Credo wird vom Glauben an die Entwicklungsfähigkeit dieser „zeitlosen Moderne“ getragen.

Folgerichtig bringt er an der Gartenseite der Schule den modernen Habitus deutlich zur Geltung. Den fünf Corbusierschen Postulaten folgend, instrumentiert er die drei Geschoße unterschiedlich: Das Erdgeschoß kommt an der Südseite ohne massiven Wandschirm aus, es stützt sich auf Stahlbeton- „ Säulen“ und hat eine „befreite Fassade“. Im ersten Obergeschoß wendet Kohlbauer das „lange Fenster“ an; der Dachgarten bildet die oberste Ebene. Der „freie Grundriß“ tritt an verschiedenen Stellen im Erdgeschoß auf.

So erzeugt die Moderne der zwanziger Jahre, die selbst auf ältere Erkenntnisse zurückgreift, längst wieder eine Tradition, die sich fortpflanzt. Es ist bemerkenswert, mit welcher Gelassenheit Kohlbauer diese Bezüge aufnimmt, mit eigenen Sichtweisen verbindet und den Restriktionen der Bauaufgabe anpaßt. Pragmatismus und Stilwille sind in seiner rationalistischen Architektur nicht unbedingt ein Gegensatzpaar. Der Entwurf ist klug, weil sich Kohlbauer die Latte der Machbarkeit technologisch und typologisch gerade so hoch legt, daß er sie bei seinem Erstling auch überspringen kann.

Indem er mit einem klaren Volumen und einer bekannten Erschließungssystematik operiert, beides gekonnt interpretiert und mit den entscheidenden Raumattraktionen versetzt, gelingt ihm eine Innen- und Außenraumfigur hoher Einprägsamkeit und Überschaubarkeit.

Überzeugend ist die Art, wie er die beiden Erschließungsgänge an den kreisrunden Pausenhof bindet und einen zentralen Außen- und Innenraum entste-hen läßt. Dieser zentrale Ring-raum bietet Übersichtlichkeit, Vielfalt in den Lichtqualitäten, Angemessenheit in den Materialien und Gewißheit über den ei-genen Standort, die Tageszeit, das Wetter. Nicht zuletzt ist er ein unendlicher Bewegungs-raumfür den Abbau beim Sitzen aufgestauter Schülerenergien.

Hier darf im Kreis gelaufen werden, hier steht eine fast asketische Disziplin der Innengestaltung nicht in bremsendem Widerspruch zu keckem Kindergehabe, sondern ist diesem ein fördernder Hintergrund; hier hat die Schule ihr funktionales Herz und ihre räumliche Attraktion. Die doppelzylindrische, zweigeschoßige Bibliothek ist ebenso auf der Seite der außerordentlichen Raumgewinne zu verbuchen wie das für Pause und Unterricht nutzbare Flachdach. Auch eine sparsame Schularchitektur kann hohen Raumertrag einbringen, wenn die Planung qualifiziert ist; die präliminierten Baukosten wurden bei dieser Schule deutlich unterschritten. Einfachheit ist ein Zeichen von Reife und gekonnt verarbeiteter Komplexität, nicht Ausdruck billig replizierter Simplizität.

Der Bau ist nicht monumental oder maßstabssprengend, er atmet den Geist von Disziplin und Sparsamkeit, freilich antithetisch durchströmt von Gesten der Großzügigkeit und Gestaltungsfreude. Sein Konzept ist nicht revolutionär, es ist auch kein in allen räumlichen Vorsorgen ausgewogenes Werk - aber es ist eine evolutionär wertvolle Markierung. Raumprogrammatische, typologische und schulpädagogische Innovationen stehen nämlich nicht an der Wurzel des jüngsten Schulbauprogramms, sind jetzt aber umso dringlicher, als der politische Ruf nach Effizienz im Schulwesen unüberhörbar kulturell retardierende Blüten treibt. Franz Schuster konnte eine Schule wie diese schon 1950 imaginieren. Martin Kohlbauer hat mit konventionellen konstruktiven Mitteln bewiesen, daß funktionale Angemessenheit und gestalterischer Anspruch in der Schularchitektur kein Widerspruch sind, daß eine öffentliche Schule ohne architektonische Zuspitzung eine sündteure Verfehlung des Themas abgäbe. Sein wettbewerbsgeprüfter Ansatz, klare Raumfolgen mit kalkuliert einfachen Mitteln in klassisch-moderner Manier zu erstellen, wird manch einem - den fliegenden Puls der Zeit tastenden - Architekten traditionalistisch anmuten. Die Avantgardistenschelte durch die Siegelbewahrer ist sowieso immer angesagt.