Artikel
Wider die Stadt als Maschine
Der Mensch und die Welt der Technik
Seit dem 19. Jahrhundert wird die Stadt als technischer Apparat propagiert. Aber wollen wir wirklich alles sichtbar präsentieren, was zum Funktionieren unserer gebauten Umwelt erforderlich ist?
13. Dezember 2015 - Vittorio Magnago Lampugnani
Die architektonische Moderne hat ihre Anhänger und auch uns glauben gemacht, die Technik sei nicht nur die wichtigste künstlerische Inspiration, sondern auch die neue Lebenswelt der Menschen. Die Häuser sollten Wohnmaschinen sein, serienmässig aus industriell gefertigten Teilen zusammengefügt und hochinstalliert, die Schlafzimmer den Abteilen der Eisenbahnschlafwagen nachempfunden, die Küchen Laboratorien mit metallisch glitzernden Maschinen, abwaschbaren Möbeln und gläsernen Messbehältern. Walter Gropius dozierte 1926 in seiner Funktion als Gründungsdirektor des Staatlichen Bauhauses in Weimar: «Nur durch dauernde Berührung mit der fortschreitenden Technik, mit der Erfindung neuer Materialien und neuer Konstruktionen gewinnt das gestaltende Individuum die Fähigkeit, die Gegenstände in lebendige Beziehung zur Überlieferung zu bringen und daraus die neue Werkgesinnung zu entwickeln.»
Haus und Automobil
Wenige Stimmen erhoben sich gegen dieses ebenso beharrliche wie leichtfertige Dogma; darunter jene von Kurt Schwitters. Er mokierte sich über die mit Abstandhaltern sichtbar befestigten Stromleitungen, mit denen Adolf Rading die Wände seiner Musterwohnung in der Stuttgarter Weissenhofsiedlung 1927 überzog.
Lieblingsobjekt dieses neuen Kultes war das Automobil. Bereits Filippo Tommaso Marinetti hatte 1909 im Manifest des Futurismus befunden, ein «Rennwagen, dessen Karosserie grosse Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen (. . .), ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint», sei «schöner als die Nike von Samothrake». Le Corbusier, der eines seiner frühen prototypischen Häuser Maison Citrohan nannte, «pour ne pas dire Citroën», wünschte sich Wohnungen, die genauso maschinell hergestellt sein sollten wie Automobile. Diesem Wunsch, der abwechselnd wirtschaftlich, sozial oder ästhetisch begründet wurde, schlossen sich ganze Heerscharen von Architekten an. Sie ahnten nicht, welche Desaster sich die damals vergleichsweise neue Erfindung zuschulden kommen lassen würde, sobald sie zum Massenprodukt geriet; und sie übersahen nicht nur, dass eine Wohnung nicht mit 180 Kilometern pro Stunde zu fahren braucht, sondern auch, dass selbst die rasantesten Boliden dort, wo der Mensch mit ihnen in Körperkontakt tritt, weiche Ledersessel, händeschmeichelnde Lenkräder und holzgetäfelte Armaturenbretter aufweisen.
Das Verhältnis unserer Gesellschaft zum Automobil ist gebrochen oder zumindest rissig geworden, aber der Mythos des seriell und maschinell produzierten Hauses lebt fort. Jene, die ihm huldigen, ernähren sich gesund mit biologisch-dynamisch oder kontrolliert biologisch angebauten oder hergestellten Lebensmitteln, speisen gepflegt in persönlich geführten Restaurants, auf deren handgeschriebenen Speisekarten die Herkunft der Zutaten deklariert ist, kleiden sich in Naturgewebe oder in massgeschneiderte Anzüge und wohnen in sorgfältig restaurierten, gemütlichen Altbauten. Theoretischer Anspruch und Lebenswirklichkeit klaffen auseinander.
Es gilt, den Ersteren zu differenzieren. Wir müssen einsehen, dass die Technik ein unabdingbarer Teil unserer Welt geworden ist, der unser Leben in vielerlei Hinsicht erleichtert und angenehmer macht: Wir werden nicht auf sie verzichten, sondern sie wird weiterhin an Bedeutung und Präsenz gewinnen. Aber wir müssen auch einsehen, dass die Welt der Technik und jene des Menschen zwei unterschiedliche Welten sind und dass die Letztere, so einfach sie auch erscheinen mag, in Wahrheit die ungleich anspruchsvollere und komplexere ist. Sie verlangt nicht nach Apparaten, sondern nach Gegenständen; und zwar nach Gegenständen, die sich mit unseren Körpern und unseren Seelen vertragen. Sie verlangt nicht oder nur in Ausnahmen nach der Kühle von Bauten, die Fabriken und Laboratorien nachempfunden sind, sondern nach Behaglichkeit, Geborgenheit und Wärme.
Die Stadt als Apparat
Das trifft für unsere Gebrauchsgegenstände zu, deren zunehmend komplizierte Mechanismen und undurchsichtige elektronische Schaltungen in freundlichen Gehäusen verborgen werden, die man nicht nur gern anschaut, sondern die auch gut in der Hand liegen und sich angenehm anfühlen. Das gilt für unsere öffentlichen Gebäude, unsere Büros und unsere Wohnungen, deren ausgeklügelte Tragstrukturen und aufwendige Haustechnik nach den programmatisch exhibitionistischen Exzessen des New Brutalism möglichst weit in den Hintergrund treten, um klaren, einfachen Räumen und natürlichen Materialien den Vorrang zu geben. Und das trifft, nicht zuletzt und vielleicht in besonderem Masse, auf unsere Städte zu.
Sämtliche Versuche, die gesamte Stadt als veritablen Apparat zu begreifen und zu konstruieren, sind bezeichnenderweise auf dem Papier geblieben. Le Corbusier verwandte zwar den Maschinenbegriff als Metapher, setzte ihn aber in seinen Projekten nie wortgetreu um. Die Visionen der sowjetischen Avantgarde, von Anton Lawinskis mehrgeschossiger «Stadt auf Stossdämpfern» von 1921 – bei der die Bauten auf Stahlfederstützen ruhen sollten, damit die Vibrationen des unter ihr hindurchflutenden Verkehrs sich nicht auf sie übertrugen – bis zu Georgi Krutikows «Fliegenden Städten» von 1928, bei denen Einpersonenkabinen Verkehrsmittel und Wohnraum zugleich waren und die Menschen von der Erde zu raumschiffartigen Wohngebilden transportieren sollten, waren nicht mehr als virtuose ideologische Übungen, künstlerische Darstellungen des jungen sozialistischen Staates. Und die Plug-in-Städte der englischen Gruppe Archigram, die in den 1960er Jahren das Thema der Maschinenmetapher wieder aufgriff, materialisierten sich lediglich in einnehmenden farbenfrohen Tableaus, die den Einzug der Pop-Art in die Architektur feierten.
Doch auch früher schon leistete die Stadt Widerstand gegen die allzu burschikos auf sie einstürmende Technik. Waren ihre ersten grossmassstäblichen Leitungen, die antiken römischen Aquädukte, noch oberirdisch (allerdings mit Bogenreihen monumentalisiert), kamen sie bald auf den Boden und dann darunter. Im 19. Jahrhundert wurden die neuen Strassen grosser Städte wie Paris oder Barcelona in einem Zug mit ihrer unterirdischen Infrastruktur gebaut: Frischwasser, Abwasser, Gas und später Elektrizität wurden unsichtbar geführt. In Berlin überdeckte man die Leitungen sogar mit grossen Granitplatten, die zu Gestaltelementen der Bürgersteige gerieten und zu Inspektionszwecken leicht entfernt werden konnten. Auch die modernen öffentlichen Transportmittel, Stadtbahn und Tram, wurden nur in einer ersten Phase mitten auf den Strassen oder offen durch die Stadt geführt: Die 1863 eröffnete Londoner Untergrundbahn leitete eine neue Ära der unter dem Boden geführten Schienen ein, auf denen später auch Züge und Trambahnen fuhren.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts dachte der französische Architekt und Ingenieur Auguste Perret diese Entwicklung konsequent zu Ende und schlug vor, die gesamte Stadt auf eine Betonplatte zu stellen, die sechs Meter über dem gewachsenen Boden verlaufen sollte und unter welcher sämtliche technischen Infrastrukturen der Stadt mitsamt den Erschliessungsstrassen Platz finden sollten. Auch wenn sich der Vorschlag in seiner Radikalität als zu aufwendig herausstellte (und tatsächlich nie umgesetzt wurde), weist er doch in eine Zukunft, an der wir arbeiten können und sollten. Rohre, Ventile, Hähne, Kabel und Hochleitungen tragen nicht zur Wohnlichkeit der Stadt bei und sollten nach Möglichkeit verhüllt werden.
Freilich gibt es technische städtische Einrichtungen, die zwingend im Stadtraum aufgestellt werden müssen: Brunnen, Lampen, Signale, Kameras. Diejenigen, die bereits im 19. Jahrhundert auftraten, wurden liebevoll, zuweilen auch überschwänglich gestaltet und als Möblierungen deklariert. So befremdlich Terminologie und Ästhetik heute wirken mögen: Sie stehen für den Willen, die Objekte aus ihrer technischen Welt herauszulösen und sie für Bürger annehmbar zu machen. Diese Aufgabe haben wir nach wie vor, und wenn einerseits die Stadt nicht mit Kitsch zugemüllt werden darf, sollte sie andererseits auch nicht mit nackten technischen Geräten verunstaltet werden.
Physische Bedrohung
Die technischen Geräte indessen, die in unseren Städten am deutlichsten präsent sind, sind die motorisierten Fahrzeuge. Stadtbahnen und Strassenbahnen lassen sich dort, wo sie nicht unterirdisch geführt werden, meist gut ästhetisch integrieren (wenn sie nicht gerade wie Raumschiffe gestaltet sind) und so führen, dass sie Fussgänger und Fahrradfahrer nicht gefährden. Lastwagen und Busse sind problematischer, weil sie auf den städtischen Strassen schon aufgrund ihrer Grösse eine sowohl psychologische als auch real physische Bedrohung darstellen: Der Zugang sollte ihnen so restriktiv wie möglich gewährt werden. Gleiches gilt für das Automobil.
Es ist zwar kleiner, wendiger und in der Regel freundlicher, aber harmlos deswegen noch lange nicht. Nicht nur, dass es in seiner grossen Anzahl sowohl fahrend als auch stehend eine aufdringliche Präsenz im Stadtraum bildet: Es verlangt zudem zahllose Eingriffe in die Stadt, von den Kurvenradien von Strassen und Bürgersteigen bis zur Beschaffenheit der Fahrbahnen, von den Fussgängerübergängen bis zu den Verkehrskreiseln. Solcherlei Eingriffe verunzieren den städtischen Raum und machen ihn für den Fussgänger tendenziell ungeeignet. Sie müssen auf das Minimum reduziert werden; und wenn auf sie partout nicht verzichtet werden kann, sollten sie so gestaltet werden, dass sie die urbane Aufenthaltsqualität nicht beeinträchtigen. Mit anderen Worten: dass sie eher der Welt des Menschen angehören als jener der Technik.
Geometrie der Stadtstruktur
Konkret und beispielhaft: Die Geometrie der Stadtstruktur sollte nicht verschliffen und verunklärt werden, nur damit man besser und schneller um die Kurve fahren kann. Der Asphalt, gegen den als solchen nichts einzuwenden ist, sollte nicht Steinpflasterungen und Chaussierungen verdrängen, nur weil diese für die Automobile wenig geeignet sind. Menschen haben den Wunsch, schöne warme Materialien zu sehen und zu berühren. Feuerverzinkte Stahl-Leitplanken mit harschen Verschraubungen und scharfen Kanten haben in der Stadt nichts zu suchen und auch nicht Automobile, die so schnell fahren, dass sie diese erforderlich machen; und wenn es Poller braucht, sollten diese möglichst unaufdringlich und elegant sein.
Auch aus der Stadt ist die Technik nicht wegzudenken, im Gegenteil: Sie ist eine Voraussetzung für eine moderne, gut funktionierende Stadt. Aber die Stadt sollte so angelegt und gestaltet sein, dass sie eine Welt der Menschen schafft und nicht der Technik. Schliesslich sind es die Menschen, die sich in der Stadt wohl fühlen und in ihr gut, produktiv und vergnüglich leben sollen.
Haus und Automobil
Wenige Stimmen erhoben sich gegen dieses ebenso beharrliche wie leichtfertige Dogma; darunter jene von Kurt Schwitters. Er mokierte sich über die mit Abstandhaltern sichtbar befestigten Stromleitungen, mit denen Adolf Rading die Wände seiner Musterwohnung in der Stuttgarter Weissenhofsiedlung 1927 überzog.
Lieblingsobjekt dieses neuen Kultes war das Automobil. Bereits Filippo Tommaso Marinetti hatte 1909 im Manifest des Futurismus befunden, ein «Rennwagen, dessen Karosserie grosse Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen (. . .), ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint», sei «schöner als die Nike von Samothrake». Le Corbusier, der eines seiner frühen prototypischen Häuser Maison Citrohan nannte, «pour ne pas dire Citroën», wünschte sich Wohnungen, die genauso maschinell hergestellt sein sollten wie Automobile. Diesem Wunsch, der abwechselnd wirtschaftlich, sozial oder ästhetisch begründet wurde, schlossen sich ganze Heerscharen von Architekten an. Sie ahnten nicht, welche Desaster sich die damals vergleichsweise neue Erfindung zuschulden kommen lassen würde, sobald sie zum Massenprodukt geriet; und sie übersahen nicht nur, dass eine Wohnung nicht mit 180 Kilometern pro Stunde zu fahren braucht, sondern auch, dass selbst die rasantesten Boliden dort, wo der Mensch mit ihnen in Körperkontakt tritt, weiche Ledersessel, händeschmeichelnde Lenkräder und holzgetäfelte Armaturenbretter aufweisen.
Das Verhältnis unserer Gesellschaft zum Automobil ist gebrochen oder zumindest rissig geworden, aber der Mythos des seriell und maschinell produzierten Hauses lebt fort. Jene, die ihm huldigen, ernähren sich gesund mit biologisch-dynamisch oder kontrolliert biologisch angebauten oder hergestellten Lebensmitteln, speisen gepflegt in persönlich geführten Restaurants, auf deren handgeschriebenen Speisekarten die Herkunft der Zutaten deklariert ist, kleiden sich in Naturgewebe oder in massgeschneiderte Anzüge und wohnen in sorgfältig restaurierten, gemütlichen Altbauten. Theoretischer Anspruch und Lebenswirklichkeit klaffen auseinander.
Es gilt, den Ersteren zu differenzieren. Wir müssen einsehen, dass die Technik ein unabdingbarer Teil unserer Welt geworden ist, der unser Leben in vielerlei Hinsicht erleichtert und angenehmer macht: Wir werden nicht auf sie verzichten, sondern sie wird weiterhin an Bedeutung und Präsenz gewinnen. Aber wir müssen auch einsehen, dass die Welt der Technik und jene des Menschen zwei unterschiedliche Welten sind und dass die Letztere, so einfach sie auch erscheinen mag, in Wahrheit die ungleich anspruchsvollere und komplexere ist. Sie verlangt nicht nach Apparaten, sondern nach Gegenständen; und zwar nach Gegenständen, die sich mit unseren Körpern und unseren Seelen vertragen. Sie verlangt nicht oder nur in Ausnahmen nach der Kühle von Bauten, die Fabriken und Laboratorien nachempfunden sind, sondern nach Behaglichkeit, Geborgenheit und Wärme.
Die Stadt als Apparat
Das trifft für unsere Gebrauchsgegenstände zu, deren zunehmend komplizierte Mechanismen und undurchsichtige elektronische Schaltungen in freundlichen Gehäusen verborgen werden, die man nicht nur gern anschaut, sondern die auch gut in der Hand liegen und sich angenehm anfühlen. Das gilt für unsere öffentlichen Gebäude, unsere Büros und unsere Wohnungen, deren ausgeklügelte Tragstrukturen und aufwendige Haustechnik nach den programmatisch exhibitionistischen Exzessen des New Brutalism möglichst weit in den Hintergrund treten, um klaren, einfachen Räumen und natürlichen Materialien den Vorrang zu geben. Und das trifft, nicht zuletzt und vielleicht in besonderem Masse, auf unsere Städte zu.
Sämtliche Versuche, die gesamte Stadt als veritablen Apparat zu begreifen und zu konstruieren, sind bezeichnenderweise auf dem Papier geblieben. Le Corbusier verwandte zwar den Maschinenbegriff als Metapher, setzte ihn aber in seinen Projekten nie wortgetreu um. Die Visionen der sowjetischen Avantgarde, von Anton Lawinskis mehrgeschossiger «Stadt auf Stossdämpfern» von 1921 – bei der die Bauten auf Stahlfederstützen ruhen sollten, damit die Vibrationen des unter ihr hindurchflutenden Verkehrs sich nicht auf sie übertrugen – bis zu Georgi Krutikows «Fliegenden Städten» von 1928, bei denen Einpersonenkabinen Verkehrsmittel und Wohnraum zugleich waren und die Menschen von der Erde zu raumschiffartigen Wohngebilden transportieren sollten, waren nicht mehr als virtuose ideologische Übungen, künstlerische Darstellungen des jungen sozialistischen Staates. Und die Plug-in-Städte der englischen Gruppe Archigram, die in den 1960er Jahren das Thema der Maschinenmetapher wieder aufgriff, materialisierten sich lediglich in einnehmenden farbenfrohen Tableaus, die den Einzug der Pop-Art in die Architektur feierten.
Doch auch früher schon leistete die Stadt Widerstand gegen die allzu burschikos auf sie einstürmende Technik. Waren ihre ersten grossmassstäblichen Leitungen, die antiken römischen Aquädukte, noch oberirdisch (allerdings mit Bogenreihen monumentalisiert), kamen sie bald auf den Boden und dann darunter. Im 19. Jahrhundert wurden die neuen Strassen grosser Städte wie Paris oder Barcelona in einem Zug mit ihrer unterirdischen Infrastruktur gebaut: Frischwasser, Abwasser, Gas und später Elektrizität wurden unsichtbar geführt. In Berlin überdeckte man die Leitungen sogar mit grossen Granitplatten, die zu Gestaltelementen der Bürgersteige gerieten und zu Inspektionszwecken leicht entfernt werden konnten. Auch die modernen öffentlichen Transportmittel, Stadtbahn und Tram, wurden nur in einer ersten Phase mitten auf den Strassen oder offen durch die Stadt geführt: Die 1863 eröffnete Londoner Untergrundbahn leitete eine neue Ära der unter dem Boden geführten Schienen ein, auf denen später auch Züge und Trambahnen fuhren.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts dachte der französische Architekt und Ingenieur Auguste Perret diese Entwicklung konsequent zu Ende und schlug vor, die gesamte Stadt auf eine Betonplatte zu stellen, die sechs Meter über dem gewachsenen Boden verlaufen sollte und unter welcher sämtliche technischen Infrastrukturen der Stadt mitsamt den Erschliessungsstrassen Platz finden sollten. Auch wenn sich der Vorschlag in seiner Radikalität als zu aufwendig herausstellte (und tatsächlich nie umgesetzt wurde), weist er doch in eine Zukunft, an der wir arbeiten können und sollten. Rohre, Ventile, Hähne, Kabel und Hochleitungen tragen nicht zur Wohnlichkeit der Stadt bei und sollten nach Möglichkeit verhüllt werden.
Freilich gibt es technische städtische Einrichtungen, die zwingend im Stadtraum aufgestellt werden müssen: Brunnen, Lampen, Signale, Kameras. Diejenigen, die bereits im 19. Jahrhundert auftraten, wurden liebevoll, zuweilen auch überschwänglich gestaltet und als Möblierungen deklariert. So befremdlich Terminologie und Ästhetik heute wirken mögen: Sie stehen für den Willen, die Objekte aus ihrer technischen Welt herauszulösen und sie für Bürger annehmbar zu machen. Diese Aufgabe haben wir nach wie vor, und wenn einerseits die Stadt nicht mit Kitsch zugemüllt werden darf, sollte sie andererseits auch nicht mit nackten technischen Geräten verunstaltet werden.
Physische Bedrohung
Die technischen Geräte indessen, die in unseren Städten am deutlichsten präsent sind, sind die motorisierten Fahrzeuge. Stadtbahnen und Strassenbahnen lassen sich dort, wo sie nicht unterirdisch geführt werden, meist gut ästhetisch integrieren (wenn sie nicht gerade wie Raumschiffe gestaltet sind) und so führen, dass sie Fussgänger und Fahrradfahrer nicht gefährden. Lastwagen und Busse sind problematischer, weil sie auf den städtischen Strassen schon aufgrund ihrer Grösse eine sowohl psychologische als auch real physische Bedrohung darstellen: Der Zugang sollte ihnen so restriktiv wie möglich gewährt werden. Gleiches gilt für das Automobil.
Es ist zwar kleiner, wendiger und in der Regel freundlicher, aber harmlos deswegen noch lange nicht. Nicht nur, dass es in seiner grossen Anzahl sowohl fahrend als auch stehend eine aufdringliche Präsenz im Stadtraum bildet: Es verlangt zudem zahllose Eingriffe in die Stadt, von den Kurvenradien von Strassen und Bürgersteigen bis zur Beschaffenheit der Fahrbahnen, von den Fussgängerübergängen bis zu den Verkehrskreiseln. Solcherlei Eingriffe verunzieren den städtischen Raum und machen ihn für den Fussgänger tendenziell ungeeignet. Sie müssen auf das Minimum reduziert werden; und wenn auf sie partout nicht verzichtet werden kann, sollten sie so gestaltet werden, dass sie die urbane Aufenthaltsqualität nicht beeinträchtigen. Mit anderen Worten: dass sie eher der Welt des Menschen angehören als jener der Technik.
Geometrie der Stadtstruktur
Konkret und beispielhaft: Die Geometrie der Stadtstruktur sollte nicht verschliffen und verunklärt werden, nur damit man besser und schneller um die Kurve fahren kann. Der Asphalt, gegen den als solchen nichts einzuwenden ist, sollte nicht Steinpflasterungen und Chaussierungen verdrängen, nur weil diese für die Automobile wenig geeignet sind. Menschen haben den Wunsch, schöne warme Materialien zu sehen und zu berühren. Feuerverzinkte Stahl-Leitplanken mit harschen Verschraubungen und scharfen Kanten haben in der Stadt nichts zu suchen und auch nicht Automobile, die so schnell fahren, dass sie diese erforderlich machen; und wenn es Poller braucht, sollten diese möglichst unaufdringlich und elegant sein.
Auch aus der Stadt ist die Technik nicht wegzudenken, im Gegenteil: Sie ist eine Voraussetzung für eine moderne, gut funktionierende Stadt. Aber die Stadt sollte so angelegt und gestaltet sein, dass sie eine Welt der Menschen schafft und nicht der Technik. Schliesslich sind es die Menschen, die sich in der Stadt wohl fühlen und in ihr gut, produktiv und vergnüglich leben sollen.
[ Prof. Dr. Vittorio Magnago Lampugnani lehrt Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich und ist Architekt in Mailand. Sein neuestes Buch «radikal normal» ist vor wenigen Wochen im NZZ-Verlag erschienen. ]
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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