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Bahnhof sucht Stadt
Dieses Wochenende geht Wiens Hauptbahnhof in Vollbetrieb. Während die Stadt damit verkehrstechnisch im 21. Jahrhundert angekommen ist, kann davon städtebaulich in den Neubauvierteln rundherum keine Rede sein.
11. Dezember 2015 - Reinhard Seiß
Mit der aktuellen Fahrplanumstellung läuft auch der Fernverkehr der Österreichischen Bundesbahnen von und nach dem Westen über den Wiener Hauptbahnhof. Der neue Durchgangsbahnhof unweit des früheren Süd- und Ostbahnhofs beendet die Ära der Wiener Kopfbahnhöfe und somit auch das Dasein der Stadt als Prellbock im mitteleuropäischen Schienennetz. Feierlich eröffnet worden ist das „Jahrhundertprojekt“ schon im Oktober vergangenen Jahres, als die 20.000 Quadratmeter große Shopping Mall in der „Bahnhof City“ von niemand Geringerem als dem österreichischen Bundespräsidenten und dem Wiener Bürgermeister dem Volk übergeben wurde.
Dass die höchsten Repräsentanten des Staats und der Stadt für ein Einkaufszentrum Pate stehen, wirft nicht nur ein bezeichnendes Licht auf das Niveau der heimischen Politik, es verdeutlicht auch die heutige Dominanz der Funktion Handel über jene des Reisens in den einstigen „Kathedralen des Verkehrs“. Auf Repräsentation zielten die Bahnhofarchitekten Theo Hotz, Ernst Hoffmann und Albert Wimmer aber vermutlich gar nicht ab. Ihr Zweckbau wird, wenn das gesamte Bahnhofsviertel einmal fertig ist, einer der unscheinbarsten Bauten hier sein. Denn das Gros seiner Nutzflächen liegt unterhalb der Bahnhofshalle und der in Hochlage errichteten Bahnsteige: Rund 90 Läden für Handel, Dienstleistungen und Gastronomie bilden das Herz des Hauptbahnhofs. Und jene, die sich dem Stationsgebäude über den nördlichen Bahnhofsvorplatz nähern, informiert eine vor dem Haupteingang prominent postierte Stele mit den Logos ausgewählter Handelsketten, was sie im Inneren erwartet.
Der Platz selbst ist für heimische Verhältnisse wohltuend zurückhaltend gestaltet: Sitzgelegenheiten, die nicht suggerieren, dass bestimmte Personengruppen unerwünscht wären; etwas Grün – vielleicht eine Spur zu wenig; schlichte Beleuchtungskörper ohne bemühtes künstlerisches Konzept; vor allem aber ein wirklich großzügiger öffentlicher Raum, völlig frei von Autos.
Was dagegen misslang, obwohl die Politik es im Zuge des Bahnhofsneubaus versprochen hatte, ist die Überwindung des daran anschließenden Gürtels als Barriere zwischen dem zehnten und dem vierten Wiener Bezirk. Im Gegenteil: Mit bis zu acht Fahrspuren und zwei Parkspuren sowie vier Tramwaygleisen wirkt das Verkehrsband auf Höhe des Bahnhofs heute noch trennender als vor der Umgestaltung.
Größer waren die Chancen auf einen Impuls infolge der Verlagerung und des Neubaus des Bahnhofs in den unmittelbar angrenzenden Vierteln des zehnten Bezirks. Insbesondere die im Zuge des U-Bahn-Baus Mitte der 1970er zur Fußgängerzone umgestaltete Favoritenstraße hätte eine Aufwertung in ihrem untersten Abschnitt gut vertragen können. Allerdings ließ man die Gelegenheit, den Verkehrsknoten mit der Fußgängerzone zu verknüpfen, unverständlicherweise aus. Der südliche Eingang des Hauptbahnhofs ist zwarnur wenig mehr als einen Steinwurf entfernt, doch reicht die trennende Wirkung des neuen Bahnhofparkplatzes, des angrenzenden Busbahnhofs und der in bester Ingenieursmanier „gestalteten“, bis zu sechsspurigen Sonnwendgasse offenbar aus, dass kaum jemand denWeg in die Fußgängerzone findet. Über mehrere Hundert Meter, bis hinauf zum Keplerplatz, reihen sich Ein-Euro-Läden, Wettlokale, Handy-Shops, Take-away-Küchen, Nagelstudios und zunehmend mehr ungenutzte Erdgeschoßflächen aneinander. Und selbst das Columbus-Center, ein mediokres Einkaufszentrum aus dem Jahr 2005, kämpft mittlerweile mit Leerstand.
Überraschen sollte der Niedergang einer der wichtigsten Geschäftsstraßen Wiens im Rathaus niemanden. Denn von Anbeginn des Bahnhofsprojekts war klar, dass ein 20.000 Quadratmeter großes Shoppingcenter ohne jegliche Rücksichtnahme auf das Umfeld den Todesstoß für den umliegenden kleinstrukturierten Einzelhandel bedeuten würde. Doch lagen dem Masterplan von 2004 für einen neuen Stadtteil auf dem rund 60 Hektar großen Bahnareal keine ernst zu nehmenden urbanistischen Überlegungen zugrunde. Vorrangig war das Bemühen, das zu knappe Budget von Bund, Stadt Wien und Bundesbahnen für die Realisierung des Milliardenprojekts Hauptbahnhof durch einen dreistelligen Millionenbetrag aus der Verwertung der freiwerdenden ÖBB-Flächen aufzubessern.
Aus immobilienwirtschaftlicher Sicht gab es dafür nur eine Strategie: möglichst viel Einzelhandel am Bahnhof selbst, dicht gestaffelte Büro- und Hoteltürme darum herum, Wohnbauten auf den restlichen, schon etwas entlegeneren Grundstücken – und irgendwo am Rand ein Bildungscampus mit Kindergarten und Schulen. Für städtebauliche Qualität sollte ein großer Park inmitten der Wohnbebauung sorgen, der freilich nicht – wie in anderen Städten – von den privaten Entwicklern und Investoren, sondern von der öffentlichen Hand zu finanzieren wäre. Genau dieses Konzept wurde vom Gemeinderat 2006 als Flächenwidmungsplan für das Bahnhofsviertel beschlossen. Die planungspolitischen Parolen von einer Stadt derkurzen Wege, von einer Durchmischung von Wohnen, Arbeiten und Einkaufen waren vergessen. Dabei wäre in diesem Entwicklungsgebiet, das wie kein anderes durch öffentlicheVerkehrsmittel erschlossen, von attraktiven Grünräumen wie dem Belvedere- und dem Schweizergarten umgeben und mit nur zwei Kilometer Entfernung zur Innenstadt geradezu zentral gelegen ist, ein zukunftsweisender, tatsächlich urbaner Stadtteil möglich gewesen: mit einer kleinteiligen, multifunktionalen Struktur, unabhängig vom privaten Pkw, mit üppig durchgrünter Bebauung und vitalen öffentlichen Räumen.
Dass es anders kam, zeigt ein Spaziergang durch den bereits fertiggestellten Teil des westlichen Sonnwendviertels. Das Straßenbild ist durch parkende Autos geprägt – obwohl jeder Bauplatz ohnehin mit zwei bis drei Garagengeschoßen unterkellert ist. Die bis zu elf Etagen hohe Bebauung dient mit wenigen Ausnahmen allein Wohnzwecken. In der Sockelzone herrschen Tiefgaragenein- und -ausfahrten, Haustechnik- und Müllräume vor. Wenn ein Eingangsbereich, ein Fahrradraum oder eine Waschküche einmal zur Straße hin verglast sind, ist das bereits etwas Außergewöhnliches. Einen Bäcker sucht man ebenso vergeblich wie eine Trafik, auch wenn in den drei Baublöcken hier rund 2500 Menschen leben. Ein paar kleine Büros und die Kindergruppen in fürs Wohnen ungeeigneten Erdgeschoßlagen schaffen noch keine Belebung des öffentlichen Raums. Den einzigen Lichtblick stellt bisher ein Café-Restaurant am nordöstlichen Rand der Bebauung dar.
Immerhin investierten einige Bauträger in ein überdurchschnittliches Angebot an Gemeinschaftseinrichtungen: etwa in ein Schwimmbad, das auch für die Bewohner umliegender Bauten benutzbar ist, in eineKletterhalle oder eine große Gemeinschaftsküche. Gleichzeitig aber zielten manche Ideen an den Bedürfnissen der Bewohner und an jedem vernünftigen Maß vorbei – wie jener Jugendclub samt Musikproberaum, der mit viel Aufwand unter die Erde gebracht wurde, um darüber eine Betonlandschaft für Skater zu errichten; Jugendliche wurden bisher nur selten unter oder auf der Rampe gesichtet, beträchtliche Teile der knappen Grünfläche aber irreversibel in Anspruch genommen.
Freiräume sind die wohl größte Schwachstelle im Wiener Wohnbau. Der nördliche der drei Baublöcke im Sonnwendviertel ist ein Paradebeispiel für die Verunstaltung eines gemeinschaftlichen Hofs durch maßstablose Entlüftungen und Belichtungen der darunterliegenden Garagen. Für einen auch nur halbwegs ansehnlichen Baum reicht die dünne Humusschicht über der Tiefgaragendecke nirgends. Ja nicht einmal ein ordentlicher Rasen kann, scheint's, überall gedeihen. Schließlich wurde vor einem Haus ein Teil des Terrains auch noch abgegraben, um in Souterrainlage ein Wohngeschoß mehr herauszuschinden – aus dem man wahlweise auf eine Böschung oder ein Entlüftungsgitter blickt.
Im südlichen Baublock bestimmt das „ModellMietergarten“ den Innenhof: Handtuchgroße Grünflächen wurden, durch Maschendrahtzäune voneinander getrennt, den Erdgeschoßwohnungen zugeschlagen, sodass in der Mitte kaum für mehr als einen Kleinkinderspielplatz und ein paar Bänke Platz blieb. Weder herrscht in den Kleinstgärten auch nur ein Mindestmaß an Privatheit, noch taugt die gemeinschaftliche Restfläche trotz gartenarchitektonischen Tunings als nutzbarer Grünraum für die Bewohner der oberen Geschoße.
Auch in anderen Höfen wurden und werden Landschaftsplaner herangezogen, um die bauwirtschaftliche Geringschätzung des Freiraums zu kaschieren. Brauchbarer werden die knappen Flächen dadurch selten. Selbiges gilt für die Architektur: Manche baukünstlerischen Auffälligkeiten – seien es knallgelbe Fußgängerbrücken, die benachbarte Häuser in zwölf Meter Höhe quer über den Innenhof miteinander verbinden, seien es statisch aufwendige Auskragungen einzelner Gebäudeteile – scheinen um teures Geld vor allem von der Gewöhnlichkeit des Massenwohnbaus ablenken zu wollen.
Für die Beurteilung der städtebaulichen Entwicklung im Büro- und Hotelviertel rings um den Hauptbahnhof, im sogenannten Quartier Belvedere, gibt es ebenfalls einige Anschauungsbeispiele. Die obere Messlatte definiert wohl der kurz vor seiner Eröffnung stehende „Erste Campus“ von Henke Schreieck Architekten. Die vierteilige Anlage bietet nicht nur Arbeitsplätze für 4500 Bankangestellte, der Freiraum, eine Veranstaltungshalle, Cafés, Restaurants oderein Kindergarten stehen auch für Außenstehende offen. Bereits im Vorjahr fertiggestellt wurde der bis zu 88 Meter hohe Büroturm der Architekten Zechner & Zechner mit dem neuen Headquarter der ÖBB. Auf der zum südlichen Bahnhofplatz orientierten Seite umfasst er im Erdgeschoß unter anderem eine Bäckerei und eine Bankfiliale. Auf den anderen beiden Seiten indes verschließt sich der dreieckige Komplex im Sockelbereich auf ganzer Länge gegenüber seinem Umfeld, was den Straßenraum veröden lässt. Und weil sich diese Charakteristikbei den meisten Wiener Hochhäusern der vergangenen 20 Jahre wiederfindet und die Stadtplanung kaum Ambitionen zeigt, auf Verbesserungen zu drängen, dürften im Bahnhofsviertel noch mehr solcher Monolithen entstehen.
Einige sind bereits in Bau. Direkt im Anschluss an den nördlichen Bahnhofsvorplatz errichtet Österreichs größtes privates Immobilienunternehmen bis 2018 drei Bürotürme mit 38, 66 und 88 Metern, die im Sockelbereich durch weitere 5000 Quadratmeter Einzelhandelsfläche verbunden werden. Gleich daneben – wenn auch ohne erkennbaren Zusammenhang – realisiert Österreichs zweitgrößter Baukonzern einen sechsteiligen Komplex, der ebenso Büro- und Handelsflächen bieten sollte. Aufgrund der massiven Übersättigung des Wiener Büromarkts sieht der Entwickler nun allerdings weniger Büroflächen und dafür zwei Hotels sowie einen 60-Meter-Turm mit 135 Wohnungen vor. Dass der Städtebau, der direkt vom Investor stammt und ursprünglich nur den Ansprüchen von Angestellten und Kunden genügen musste, jetzt genauso den Bedürfnissen einer Wohnbevölkerung zu entsprechen hat, veranlasste im Rathaus bis dato niemanden, Änderungen einzufordern.
Aus stadtplanerischer Sicht bedenklich erscheint auch die Verkehrserschließung dieser Baufelder. DasQuartier Belvedere wirdvon einem engmaschigen Netz vierspuriger Straßen durchzogen, wie es sie im inneren Bereich Wiens sonst nur an den Hauptverkehrsrouten gibt. Dort, wo zwei solcher Straßen aufeinandertreffen, ergeben sich Kreuzungsbereiche von einer Weitläufigkeit, die ein Entstehen jedweder Form von Urbanität nur schwer vorstellbar machen.
Zuversicht geben zumindest die Planungen für den noch unbebauten östlichen Teil des Sonnwendviertels. Hier ist für den Autoverkehr lediglich eine zweispurige Straße vorgesehen, die entlang des Bahnviadukts verläuft. Somit wäre der gesamte Bereich bis zum sieben Hektar großen Helmut-Zilk-Park, der 2018 fertiggestellt sein wird, Fußgängern und Radfahrern vorbehalten. Die Garagenplätze will die Stadtplanung um 30 Prozent reduzieren und zumindest im geförderten Wohnbau nicht mehr jedem Gebäude zuordnen, sondern in zwei Sammelgaragen konzentrieren – um den Automatismus, von der Wohnung per Aufzug in die Tiefgarage zu fahren, zu unterbinden. Zudem eröffnet es die Chance, in den Grünhöfen den gewachsenen Boden zu belassen.
Die Bebauung soll merklich kleinteiliger werden als im westlichen Sonnwendviertel, und deutlich lebendigere Erdgeschoße aufweisen. Dazu sollen zehn Wohnbauten als sogenannte Quartiershäuser mit hohen Sockelzonen entstehen, für die schon vor Baubeginn eine fixe, für die Öffentlichkeit attraktive Nutzung feststehen muss. Vier weitere Grundstücke sind für Baugruppenprojekte reserviert, die bisher in Wiens Stadtentwicklungsgebieten die mit Abstand besten Häuser hervorgebracht haben: am Nordbahnhofgelände ebenso wie in der Seestadt Aspern – und auch im westlichen Sonnwendviertel, wo Schindler & Szedenik Architekten einen Mitbestimmungswohnbau realisierten. Können all diese Ziele tatsächlich umgesetzt werden, gäbe es genügend Anwendungsgebiete für die hier gewonnenen Erfahrungen: Westlich der Laxenburger Straße liegt noch ein Bahnareal, das im Zuge des Hauptbahnhofsprojekts frei geworden ist. Auch der Nordwestbahnhof steht noch vor seiner Verbauung – und am Franz-Josefs-Bahnhof ist die städtebauliche Altlast der 1970er noch nicht einmal entsorgt.
Dass die höchsten Repräsentanten des Staats und der Stadt für ein Einkaufszentrum Pate stehen, wirft nicht nur ein bezeichnendes Licht auf das Niveau der heimischen Politik, es verdeutlicht auch die heutige Dominanz der Funktion Handel über jene des Reisens in den einstigen „Kathedralen des Verkehrs“. Auf Repräsentation zielten die Bahnhofarchitekten Theo Hotz, Ernst Hoffmann und Albert Wimmer aber vermutlich gar nicht ab. Ihr Zweckbau wird, wenn das gesamte Bahnhofsviertel einmal fertig ist, einer der unscheinbarsten Bauten hier sein. Denn das Gros seiner Nutzflächen liegt unterhalb der Bahnhofshalle und der in Hochlage errichteten Bahnsteige: Rund 90 Läden für Handel, Dienstleistungen und Gastronomie bilden das Herz des Hauptbahnhofs. Und jene, die sich dem Stationsgebäude über den nördlichen Bahnhofsvorplatz nähern, informiert eine vor dem Haupteingang prominent postierte Stele mit den Logos ausgewählter Handelsketten, was sie im Inneren erwartet.
Der Platz selbst ist für heimische Verhältnisse wohltuend zurückhaltend gestaltet: Sitzgelegenheiten, die nicht suggerieren, dass bestimmte Personengruppen unerwünscht wären; etwas Grün – vielleicht eine Spur zu wenig; schlichte Beleuchtungskörper ohne bemühtes künstlerisches Konzept; vor allem aber ein wirklich großzügiger öffentlicher Raum, völlig frei von Autos.
Was dagegen misslang, obwohl die Politik es im Zuge des Bahnhofsneubaus versprochen hatte, ist die Überwindung des daran anschließenden Gürtels als Barriere zwischen dem zehnten und dem vierten Wiener Bezirk. Im Gegenteil: Mit bis zu acht Fahrspuren und zwei Parkspuren sowie vier Tramwaygleisen wirkt das Verkehrsband auf Höhe des Bahnhofs heute noch trennender als vor der Umgestaltung.
Größer waren die Chancen auf einen Impuls infolge der Verlagerung und des Neubaus des Bahnhofs in den unmittelbar angrenzenden Vierteln des zehnten Bezirks. Insbesondere die im Zuge des U-Bahn-Baus Mitte der 1970er zur Fußgängerzone umgestaltete Favoritenstraße hätte eine Aufwertung in ihrem untersten Abschnitt gut vertragen können. Allerdings ließ man die Gelegenheit, den Verkehrsknoten mit der Fußgängerzone zu verknüpfen, unverständlicherweise aus. Der südliche Eingang des Hauptbahnhofs ist zwarnur wenig mehr als einen Steinwurf entfernt, doch reicht die trennende Wirkung des neuen Bahnhofparkplatzes, des angrenzenden Busbahnhofs und der in bester Ingenieursmanier „gestalteten“, bis zu sechsspurigen Sonnwendgasse offenbar aus, dass kaum jemand denWeg in die Fußgängerzone findet. Über mehrere Hundert Meter, bis hinauf zum Keplerplatz, reihen sich Ein-Euro-Läden, Wettlokale, Handy-Shops, Take-away-Küchen, Nagelstudios und zunehmend mehr ungenutzte Erdgeschoßflächen aneinander. Und selbst das Columbus-Center, ein mediokres Einkaufszentrum aus dem Jahr 2005, kämpft mittlerweile mit Leerstand.
Überraschen sollte der Niedergang einer der wichtigsten Geschäftsstraßen Wiens im Rathaus niemanden. Denn von Anbeginn des Bahnhofsprojekts war klar, dass ein 20.000 Quadratmeter großes Shoppingcenter ohne jegliche Rücksichtnahme auf das Umfeld den Todesstoß für den umliegenden kleinstrukturierten Einzelhandel bedeuten würde. Doch lagen dem Masterplan von 2004 für einen neuen Stadtteil auf dem rund 60 Hektar großen Bahnareal keine ernst zu nehmenden urbanistischen Überlegungen zugrunde. Vorrangig war das Bemühen, das zu knappe Budget von Bund, Stadt Wien und Bundesbahnen für die Realisierung des Milliardenprojekts Hauptbahnhof durch einen dreistelligen Millionenbetrag aus der Verwertung der freiwerdenden ÖBB-Flächen aufzubessern.
Aus immobilienwirtschaftlicher Sicht gab es dafür nur eine Strategie: möglichst viel Einzelhandel am Bahnhof selbst, dicht gestaffelte Büro- und Hoteltürme darum herum, Wohnbauten auf den restlichen, schon etwas entlegeneren Grundstücken – und irgendwo am Rand ein Bildungscampus mit Kindergarten und Schulen. Für städtebauliche Qualität sollte ein großer Park inmitten der Wohnbebauung sorgen, der freilich nicht – wie in anderen Städten – von den privaten Entwicklern und Investoren, sondern von der öffentlichen Hand zu finanzieren wäre. Genau dieses Konzept wurde vom Gemeinderat 2006 als Flächenwidmungsplan für das Bahnhofsviertel beschlossen. Die planungspolitischen Parolen von einer Stadt derkurzen Wege, von einer Durchmischung von Wohnen, Arbeiten und Einkaufen waren vergessen. Dabei wäre in diesem Entwicklungsgebiet, das wie kein anderes durch öffentlicheVerkehrsmittel erschlossen, von attraktiven Grünräumen wie dem Belvedere- und dem Schweizergarten umgeben und mit nur zwei Kilometer Entfernung zur Innenstadt geradezu zentral gelegen ist, ein zukunftsweisender, tatsächlich urbaner Stadtteil möglich gewesen: mit einer kleinteiligen, multifunktionalen Struktur, unabhängig vom privaten Pkw, mit üppig durchgrünter Bebauung und vitalen öffentlichen Räumen.
Dass es anders kam, zeigt ein Spaziergang durch den bereits fertiggestellten Teil des westlichen Sonnwendviertels. Das Straßenbild ist durch parkende Autos geprägt – obwohl jeder Bauplatz ohnehin mit zwei bis drei Garagengeschoßen unterkellert ist. Die bis zu elf Etagen hohe Bebauung dient mit wenigen Ausnahmen allein Wohnzwecken. In der Sockelzone herrschen Tiefgaragenein- und -ausfahrten, Haustechnik- und Müllräume vor. Wenn ein Eingangsbereich, ein Fahrradraum oder eine Waschküche einmal zur Straße hin verglast sind, ist das bereits etwas Außergewöhnliches. Einen Bäcker sucht man ebenso vergeblich wie eine Trafik, auch wenn in den drei Baublöcken hier rund 2500 Menschen leben. Ein paar kleine Büros und die Kindergruppen in fürs Wohnen ungeeigneten Erdgeschoßlagen schaffen noch keine Belebung des öffentlichen Raums. Den einzigen Lichtblick stellt bisher ein Café-Restaurant am nordöstlichen Rand der Bebauung dar.
Immerhin investierten einige Bauträger in ein überdurchschnittliches Angebot an Gemeinschaftseinrichtungen: etwa in ein Schwimmbad, das auch für die Bewohner umliegender Bauten benutzbar ist, in eineKletterhalle oder eine große Gemeinschaftsküche. Gleichzeitig aber zielten manche Ideen an den Bedürfnissen der Bewohner und an jedem vernünftigen Maß vorbei – wie jener Jugendclub samt Musikproberaum, der mit viel Aufwand unter die Erde gebracht wurde, um darüber eine Betonlandschaft für Skater zu errichten; Jugendliche wurden bisher nur selten unter oder auf der Rampe gesichtet, beträchtliche Teile der knappen Grünfläche aber irreversibel in Anspruch genommen.
Freiräume sind die wohl größte Schwachstelle im Wiener Wohnbau. Der nördliche der drei Baublöcke im Sonnwendviertel ist ein Paradebeispiel für die Verunstaltung eines gemeinschaftlichen Hofs durch maßstablose Entlüftungen und Belichtungen der darunterliegenden Garagen. Für einen auch nur halbwegs ansehnlichen Baum reicht die dünne Humusschicht über der Tiefgaragendecke nirgends. Ja nicht einmal ein ordentlicher Rasen kann, scheint's, überall gedeihen. Schließlich wurde vor einem Haus ein Teil des Terrains auch noch abgegraben, um in Souterrainlage ein Wohngeschoß mehr herauszuschinden – aus dem man wahlweise auf eine Böschung oder ein Entlüftungsgitter blickt.
Im südlichen Baublock bestimmt das „ModellMietergarten“ den Innenhof: Handtuchgroße Grünflächen wurden, durch Maschendrahtzäune voneinander getrennt, den Erdgeschoßwohnungen zugeschlagen, sodass in der Mitte kaum für mehr als einen Kleinkinderspielplatz und ein paar Bänke Platz blieb. Weder herrscht in den Kleinstgärten auch nur ein Mindestmaß an Privatheit, noch taugt die gemeinschaftliche Restfläche trotz gartenarchitektonischen Tunings als nutzbarer Grünraum für die Bewohner der oberen Geschoße.
Auch in anderen Höfen wurden und werden Landschaftsplaner herangezogen, um die bauwirtschaftliche Geringschätzung des Freiraums zu kaschieren. Brauchbarer werden die knappen Flächen dadurch selten. Selbiges gilt für die Architektur: Manche baukünstlerischen Auffälligkeiten – seien es knallgelbe Fußgängerbrücken, die benachbarte Häuser in zwölf Meter Höhe quer über den Innenhof miteinander verbinden, seien es statisch aufwendige Auskragungen einzelner Gebäudeteile – scheinen um teures Geld vor allem von der Gewöhnlichkeit des Massenwohnbaus ablenken zu wollen.
Für die Beurteilung der städtebaulichen Entwicklung im Büro- und Hotelviertel rings um den Hauptbahnhof, im sogenannten Quartier Belvedere, gibt es ebenfalls einige Anschauungsbeispiele. Die obere Messlatte definiert wohl der kurz vor seiner Eröffnung stehende „Erste Campus“ von Henke Schreieck Architekten. Die vierteilige Anlage bietet nicht nur Arbeitsplätze für 4500 Bankangestellte, der Freiraum, eine Veranstaltungshalle, Cafés, Restaurants oderein Kindergarten stehen auch für Außenstehende offen. Bereits im Vorjahr fertiggestellt wurde der bis zu 88 Meter hohe Büroturm der Architekten Zechner & Zechner mit dem neuen Headquarter der ÖBB. Auf der zum südlichen Bahnhofplatz orientierten Seite umfasst er im Erdgeschoß unter anderem eine Bäckerei und eine Bankfiliale. Auf den anderen beiden Seiten indes verschließt sich der dreieckige Komplex im Sockelbereich auf ganzer Länge gegenüber seinem Umfeld, was den Straßenraum veröden lässt. Und weil sich diese Charakteristikbei den meisten Wiener Hochhäusern der vergangenen 20 Jahre wiederfindet und die Stadtplanung kaum Ambitionen zeigt, auf Verbesserungen zu drängen, dürften im Bahnhofsviertel noch mehr solcher Monolithen entstehen.
Einige sind bereits in Bau. Direkt im Anschluss an den nördlichen Bahnhofsvorplatz errichtet Österreichs größtes privates Immobilienunternehmen bis 2018 drei Bürotürme mit 38, 66 und 88 Metern, die im Sockelbereich durch weitere 5000 Quadratmeter Einzelhandelsfläche verbunden werden. Gleich daneben – wenn auch ohne erkennbaren Zusammenhang – realisiert Österreichs zweitgrößter Baukonzern einen sechsteiligen Komplex, der ebenso Büro- und Handelsflächen bieten sollte. Aufgrund der massiven Übersättigung des Wiener Büromarkts sieht der Entwickler nun allerdings weniger Büroflächen und dafür zwei Hotels sowie einen 60-Meter-Turm mit 135 Wohnungen vor. Dass der Städtebau, der direkt vom Investor stammt und ursprünglich nur den Ansprüchen von Angestellten und Kunden genügen musste, jetzt genauso den Bedürfnissen einer Wohnbevölkerung zu entsprechen hat, veranlasste im Rathaus bis dato niemanden, Änderungen einzufordern.
Aus stadtplanerischer Sicht bedenklich erscheint auch die Verkehrserschließung dieser Baufelder. DasQuartier Belvedere wirdvon einem engmaschigen Netz vierspuriger Straßen durchzogen, wie es sie im inneren Bereich Wiens sonst nur an den Hauptverkehrsrouten gibt. Dort, wo zwei solcher Straßen aufeinandertreffen, ergeben sich Kreuzungsbereiche von einer Weitläufigkeit, die ein Entstehen jedweder Form von Urbanität nur schwer vorstellbar machen.
Zuversicht geben zumindest die Planungen für den noch unbebauten östlichen Teil des Sonnwendviertels. Hier ist für den Autoverkehr lediglich eine zweispurige Straße vorgesehen, die entlang des Bahnviadukts verläuft. Somit wäre der gesamte Bereich bis zum sieben Hektar großen Helmut-Zilk-Park, der 2018 fertiggestellt sein wird, Fußgängern und Radfahrern vorbehalten. Die Garagenplätze will die Stadtplanung um 30 Prozent reduzieren und zumindest im geförderten Wohnbau nicht mehr jedem Gebäude zuordnen, sondern in zwei Sammelgaragen konzentrieren – um den Automatismus, von der Wohnung per Aufzug in die Tiefgarage zu fahren, zu unterbinden. Zudem eröffnet es die Chance, in den Grünhöfen den gewachsenen Boden zu belassen.
Die Bebauung soll merklich kleinteiliger werden als im westlichen Sonnwendviertel, und deutlich lebendigere Erdgeschoße aufweisen. Dazu sollen zehn Wohnbauten als sogenannte Quartiershäuser mit hohen Sockelzonen entstehen, für die schon vor Baubeginn eine fixe, für die Öffentlichkeit attraktive Nutzung feststehen muss. Vier weitere Grundstücke sind für Baugruppenprojekte reserviert, die bisher in Wiens Stadtentwicklungsgebieten die mit Abstand besten Häuser hervorgebracht haben: am Nordbahnhofgelände ebenso wie in der Seestadt Aspern – und auch im westlichen Sonnwendviertel, wo Schindler & Szedenik Architekten einen Mitbestimmungswohnbau realisierten. Können all diese Ziele tatsächlich umgesetzt werden, gäbe es genügend Anwendungsgebiete für die hier gewonnenen Erfahrungen: Westlich der Laxenburger Straße liegt noch ein Bahnareal, das im Zuge des Hauptbahnhofsprojekts frei geworden ist. Auch der Nordwestbahnhof steht noch vor seiner Verbauung – und am Franz-Josefs-Bahnhof ist die städtebauliche Altlast der 1970er noch nicht einmal entsorgt.
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