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See? Stadt? Möglich!
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Seestadt Aspern, Wiens städtebauliches Prestigeprojekt, ist zu einem Drittel fertig. Klassische Defizite anderer Neubauviertel scheinen zwar überwunden. Doch umso klarer treten grundsätzliche Probleme der Wiener Stadterweiterung zutage. Eine Zwischenbilanz aus Aspern.

20. August 2016 - Reinhard Seiß
Das ist der See?“, hört man immer wieder Besucher verwundert fragen, die an der Endstation der Linie U2 aus der U-Bahn steigen und erstmals auf das vor ihnen liegende Gewässer schauen, das dem neuen Stadtteil seinen Namen gibt. Dafür, dass die Seestadt Aspern von Beginn an vor allem mit der Attraktion „Leben am Wasser“ warb, liegt der erste Anschein des Baggerteichs tatsächlich etwas unter den hochgeschraubten Erwartungen. Zugegeben, andere Stadterweiterungsgebiete haben auch so etwas nicht – und man muss dem See, genauso wie der Stadt, wohl noch etwas Zeit geben, sich zu entwickeln. In manchen Uferzonen wird bestimmt noch üppigeres Grün wachsen. Dort, wo rostige Stahlplanken oder grober Schotter das Wasser vom Land trennen, dürfte der spröde Charakter allerdings bleiben.

Dabei ist der See keineswegs das einzige Alleinstellungsmerkmal Asperns unter den Neubauvierteln Wiens: Sobald man aus dem U-Bahn-Gebäude heraustritt, trifft man auf eine von mehreren Leihrad-Stationen in der Seestadt, wo sogar E-Bikes entnommen werden können. Was durchaus seinen Sinn hat, zumal die Bauten der ersten von drei Entwicklungsetappen doch ein Stück weit weg, am südwestlichen Rand des insgesamt 240 Hektar großen Areals, liegen. Jedenfalls kann das Viertel mit Fug und Recht von sich behaupten, Wiens erster wirklich fahrradfreundlicher Stadtteil zu sein. Aspern, mitgeplanten 20.000 Bewohnern und 20.000 Beschäftigten eines der momentan größten Städtebauprojekte Europas, soll ja eine SmartCity werden – da gehört umweltverträgliche Mobilität einfach dazu. Und auch sonst will man hier, am nordöstlichen Ende Wiens, vieles besser machen als in den übrigen Stadterweiterungsgebieten. Das wäre dann allerdings eine ganze Menge.

Denn ungeachtet aller Verheißungen der verantwortlichen Politiker, Planer und Investoren zeigen die Neubauquartiere der vergangenen 20, 30 Jahre großteils banale Aneinanderreihungen des Immergleichen:ganze Viertel mit ein und derselben Nutzung, abweisende Sockelzonen, autogerechte Straßenräume vor den Wohnblöcken, unbrauchbare Grünräume innerhalb der Wohnblöcke. Auch als Folge dessen, dass sich die Planungspolitik meist nachBeschluss des Bebauungsplans aus der Stadtteilentwicklung zurückzog unddie Realisierung den Bauträgern überließ. Auch als Quittung dafür, dass dieWohnbaupolitik ihre Subventionen von jährlich 300 Millionen Euro kaum an städtebauliche Qualitätsanforderungen knüpfte. – Dass es am früheren Flugfeld Aspern nun anders laufen soll, ist freilich nicht nur der Erkenntnis bisheriger Mittelmäßigkeit, sondern auch einer gewissen Not geschuldet. Denn nachdem die Stadt Wien nach der Ostöffnung das inzwischen wieder landwirtschaftlich genutzte Gelände angekauft hatte, das erwartete Bevölkerungswachstum aber fürs Erste ausgeblieben war, sträubten sich die Wohnbauträger jahrelang, den abgelegenen Standort zu besiedeln.

So sah sich das Rathaus gezwungen, den drohenden Ladenhüter Aspern mit erhöhtem Aufwand zu entwickeln: mit Vorleistungen wie der U-Bahn und dem See samt Park; mit einer mehrheitlich öffentlichen Entwicklungsgesellschaft, der Aspern Development AG, die vom Projektbeginn bis zur geplanten Fertigstellung 2030 die Gesamtverantwortung für das Werden der Satellitenstadt trägt; durch ein Quartiersmanagement zur Unterstützung sozialer Prozesse unter den Bewohnern; oder auch durch die medienwirksame „Eventisierung“ des Standorts.

Ein, zwei Jahre nach Fertigstellung derersten 2900, mehrheitlich geförderten Wohnungen samt Nahversorgung und Schule sowie zweier Gewerbebauten ist der Unterschied zu anderen Neubauvierteln tatsächlich augenfällig. Hier wurde nach langer Zeit wieder einmal Städtebau statt bloß Siedlungsbaubetrieben – in struktureller wie gestalterischer Hinsicht. So sind die Hauptstraßen keine unwirtlichen Verkehrsschneisen, sondern das stadträumliche und kommerzielle Rückgrat der Seestadt. Dies zeigt sich am überzeugendsten in der quer durchs Gebiet laufenden Maria-Tusch-Straße: Der vorstädtische Boulevard bietet auch Autos Platz, ist vor allem aber ein urbaner Freiraum mit Aufenthaltsqualität. Zu beiden Seiten sind die großzügigen Erdgeschoße fast durchgehend von Händlern, Dienstleistern undGastronomen genutzt. Deren Vielfalt ist für Wiener Stadtentwicklungsgebiete völlig unüblich und alles andere als ein Zufall: Im Zuge der Grundstücksvergabe wurde mit den Bauträgern unter anderem dieAusformung der Sockelzonen vertraglich vereinbart. Die Aspern Development AG und ein privater Partner aus dem Einzelhandel bestellten sozusagen maßgeschneiderte Ladenflächen, die sie den Errichtern für mindestens zwölf Jahre abnahmen und, basierend auf ihrem Nahversorgungskonzept, an interessierte Betreiber weitergaben. Dabei richten sich die Mieten nicht nach dem Marktwert der Lokale, sondern danach, was die erwünschten Branchen in der Lage sind zu zahlen.

Auch abseits der Hauptstraßen ist das Bemühen um eine gewisse Nutzungsmischung offensichtlich. Eine Buchhandlung, ein Süßwarengeschäft, eine Computer-Servicestelle oder ein Kosmetiksalon überraschen an unvermuteten Stellen. Und wo die Standorteignung für kommerzielle Zwecke nicht reicht, wurden etliche Erdgeschoße von Wohnbauten durch Kindergruppen, vor allem aber durch „Wien Work“ angemietet: Das gemeinnützige Unternehmen schafft in der Seestadt Jobs für behinderte, chronische kranke oder langzeitarbeitslose Menschen und verteilt seine Arbeitsstätten dezentral über das gesamte Gebiet. Dies belebt ansonsten öde Zonen und bereichert die Nahversorgung um Angebote wie eine Näherei, eine Textilreinigung oder kleine Werkstätten.

Das Gros der Häuser hier genügt nicht einfach sich selbst, sondern trägt zur Ausformung von Straßenräumen bei. Und anstatt wie andernorts beziehungslos nebeneinanderzustehen, bilden viele Objekte wahrnehmbare Quartiere. In deren Mitte finden sich Plätze, die verkehrsfrei gestaltet sind, und an deren Rändern öffentliche Grünräume. Gleichwohl kann die urbane Qualität bei jedem Blick ums Eck wieder abreißen – und das städtebauliche Bemühen durch altbekannte Wiener Schwächen konterkariert werden. Auch in der Seestadt gibt es Seitengassen, die vor allem als Parkspur dienen, mit Häusern, deren Sockelzonen von Garagenausfahrten und Müllräumen bestimmt werden.

Die größten Defizite jedoch zeigen sich in den Innenbereichen der Wohnblöcke – ungeachtet erfreulicher Ausnahmen wie zweier Höfe, die mit Schwimmbädern ausgestattet wurden: Seit Jahren schon ist es in Wiens Städtebau en vogue, die Blockrandbebauung aufzubrechen, um eine höhere Durchlässigkeit zu erzeugen, ohne dass die Vor- und Nachteile je ernsthaft diskutiert wurden. Unbestritten verlieren die Grünhöfe dadurch ihren geschützten Charakter und werden Teil des Stadtraums. Gleichzeitig aberhalten die Bauträger daran fest, die ebenerdigen Wohnungen hofseitig mit Mietergärten oder Terrassen auszustatten, was auch in Aspern zum direkten Aufeinanderprallen privater und faktisch öffentlicher Freiräume führt – mit oft grotesken Abgrenzungsversuchen der Erdgeschoßbewohner gegenüber Einblicken Fremder.

Bei jenen Blöcken, wo sich eine Garage oder ein Supermarkt unter dem offenen Innenhof verbergen, braucht es an den Übergängen zur Straße aufwendige Treppen,Rampen und Böschungen, um den Niveauunterschied zur Straße barrierefrei zu überwinden. Dies kostet nicht nur Geld, sondern auch einen Teil des ohnehin knappen Grüns. Die Gebäudekubaturen, die an den Öffnungen des Blockrands verloren gehen, werden meist durch Verbauung des Blockinneren kompensiert – was einerseits den Grünraum noch weiter be- und zerschneidet und andererseits teils indiskutable Belichtungssituationen zwischen den frei stehenden Baukörpern erzeugt: Manche Asperner schauen von ihren Wohnungen in nur zwei Meter Entfernung den Nachbarn zum Fenster hinein – oder frontal auf eine kahle Wand. Es bleibt der Verdacht, dass die Fragmentierung der Blöcke vor allem dazu dient, für Bauträger dieBebauungsdichte und für Architekten den Gestaltungsspielraum zu erhöhen.

Das Bedürfnis nach Extravaganz ist unter Wiens Baukünstlern zweifellos stark verbreitet, ungeachtet der limitierten Errichtungskosten im geförderten Wohnbau. Auch in Aspern stehen Häuser ohne auch nur eine senkrechte Mauer vom Boden bis zur Traufe. Aufgeständerte Gebäudeteile, unmotivierte Schrägen und massive Auskragungen der oberen Geschoße ergeben in Summe einen höchst unruhigen Stadtraum – und auch nur selten bessere Architektur. Im Gegenteil: Die Vorsprünge und Überhänge beschatten und entwerten die darunterliegenden Stockwerke und machen den Wohnbau in Zeiten schwindender Finanzierbarkeit noch teurer. Ohnehin kleine Balkone werden in ihrer Größe und Nutzbarkeit beschnitten, weil sie trapezförmig avantgardistischer anmuten als rechtwinkelig. Dieselben Architekten, die für den humanen und effizienten Wohnbau der Zwanziger- und Dreißigerjahre schwärmen, missverstehen ihre Aufgabe im heutigen Sozialwohnungsbau teilweise als formales Experiment.

Wie ein solcher Irrtum wirkt zum BeispielAsperns Slim City mit ihren 13 aufs Baufeld gewürfelten, bis zu acht Geschoßen hohen Häusern. Ihre dichte Staffelung scheint die Sonne absichtlich aus vielen Wohnräumen fernhalten zu wollen und wird von den Architekten, kaum nachvollziehbar, als Neuinterpretation der mittelalterlichen italienischen Stadt argumentiert. Der zerstückelte Hofbereichmit seinen engen Durchgängen gibt ein paarschmalwüchsigen BäumenPlatz, ist ansonsten aber asphaltiert – oder in der Sprache der Architekten eben „urban“. Dass die dreieckigen Balkone auf einer Seite – mitunter auch süd- oder westseitig – durch Betonwände vom Außenraum abgeschirmt werden, entbehrt ebenso jeder Sinnhaftigkeit wie die Vollverkleidung der Laubengänge durch spröde Lochbleche: Während diese Form der Außenerschließungbei anderen Wohnbauten attraktive Aufenthalts- und Kommunikationsbereiche mit Pflanzentrögen, Sitzbänken und Spielgerätenschafft, entfalten die Laubengänge der Slim City den Charme von Fluchtwegen. In den Wohnungen selbst sind zahlreiche Fenster in auffallend kleinen Formaten oder unüblich tiefer Position Ausdruck des Gestaltungswillens der Planer, wonach keines der 178 Apartments einem anderen gleichen soll.

Derartige architektonische Allüren stellen nicht zuletzt die städtische Qualitätsprüfung des geförderten Wohnbaus durch namhafte Juroren und Beiräte infrage. Trotz der Ausweitung ihrer Beurteilungskriterien um soziale Aspekte scheint eine eingeschränkte Benutzerfreundlichkeit kein Versagungsgrund für formalistische Entwürfe zu sein, solange diese etwas Neues, noch nie Dagewesenes versprechen. Bewertet wird genauso die Qualität der Freiraumgestaltung – und auch hier zeigt die Seestadt, dass Nutzbarkeit offenbar nicht zu den wichtigsten Kriterien zählt. Kaum ein Innenhof in Aspern findet mit einem ebenen Stück Rasen, ein paar Gartenbeeten und Bäumen das Auslangen. Als ob die scheinbar unvermeidlichen Garagenentlüftungen nicht schon Störfaktor genug wären, modellieren die Landschaftsplaner das Terrain auf engstem Raum durch Böschungen und Hügel, tragen hier Schotter und dort farbiges Granulat auf, strukturieren mit Holzstegen, Felsbrocken oder auch einer Betonkante die ohnehin knappe Fläche – undsollten doch irgendwo ein paar Quadratmeter zusammenhängenden Grüns übrig bleiben, wird eine Reihe Beleuchtungskörper mitten ins Gras gestellt.

Bezeichnenderweise gibt es in der Seestadt einen Block, der auf all diese bau- und gartenkünstlerischen Auffälligkeiten verzichtet, nämlich jenen, wo fünf Baugruppen ihre Vorstellungen eines lebenswerten Wohn- und Freiraums eigenverantwortlich realisierten. Die um einen gemeinsamen, nutzungsoffenen Grünraum herum gruppiertenHäuser zeigen, was auf den anderen Baufeldern ebenfalls möglich und durchaus finanzierbar gewesen wäre: geräumige Terrassen und Balkone; gemeinschaftliche Dachgärten; helle Treppenhäuser, die sogar als Spielzonen dienen; großzügige Gemeinschaftsräume im Keller-, Erd- und Dachgeschoß für Kinder und Jugendliche, für kulturelle, handwerkliche und sportliche Aktivitäten oder auch zum Kochen, Essen und Feiern; Co-Working-Räume; die Durchmischung nicht nur mit Handels- und Dienstleistungsflächen, sondern auch mit Büros. Politik und Verwaltung, viele Bauträger und deren Planer wären gut beraten, von den Bürgern und den für sie tätigen Architekten zu lernen, wie Wohnbau heuteaussehen sollte.

Für eine zeitgemäße Stadtentwicklung in Aspern kommt dem Rathaus freilich noch eine andere Bringschuld zu. Zwar ist es gelungen, in den Straßen der Seestadt die Dominanz des Autos zu brechen. Und auch das Stellplatzangebot für die Bewohner um 30 Prozent zu reduzieren und nicht mehr wohnungsnah unter jedem Gebäude, sondern gebündelt in sieben Sammelgaragen anzuordnen ist ein wichtiger Schritt zur Emanzipation vom Pkw. Doch soll eine leistungsfähige Straße im Norden der Seestadt den Standort ab 2020 direkt mit Wiens Autobahn- und Schnellstraßennetz verbinden und Aspern damit erst recht wieder zu einem Drive-in-Stadtteil machen, U-Bahn hin, Lastenfahrräder her.

Das Geld dafür wäre besser in die Errichtung zweier Tramwaylinien investiert, der Linien 25 und 26, die der Seestadt von Anfang an versprochen wurden, an die mittlerweile aber immer weniger glauben. Asperns Buslinien wiederum, die nur alle 15 bis 20 Minuten verkehren, könnten eine Verdoppelung ihrer Frequenz gut vertragen – ganz abgesehen von Wartehäuschen an den Stationen, die bis heute im Zukunftsstadtteil fehlen. Eine Smart City zu bauen hieße auch, eingefahrene Strukturen zuzerstören, die es mit derGewista einer privaten Außenwerbungsfirma überantworten, ob Fahrgäste beim Warten auf den öffentlichen Verkehr eine Viertelstunde im Regen stehen odernicht – und es den Wiener Linien erlauben, so zu tun, als gehe sie das alles nichts an.

Es liegt also nicht am Wissen oder Können, sondern allein am Wollen aller beteiligten Akteure, ob sie für die noch bevorstehende Entwicklung der Seestadt die richtigen Konsequenzen aus dem bisher Gebautenziehen, um Wiens Stadterweiterungspraxis weiter voranzubringen. Dies wäre vor allem für die dritte und letzte Etappe nördlich des Sees essenziell, wo auch Hochhäuser und eine generell noch dichtere Bebauung vorgesehen sind, zumal Wien bei dieser Maßstäblichkeit – siehe Donau City, siehe Wienerberg City – bis dato nur urbanistische Bauchlandungen hingelegt hat. Zuvor aber will sich die Stadt mit der zweiten Etappe, in der Aspern nach Osten, zur U-Bahn-Endstation hin, wächst, auf der Bauausstellung IBA 2020 als „internationales Kompetenzzentrum für sozialen Wohnbau“ präsentieren.

Der Zeitraum von nur vier Jahren, den das Rathaus dafür eingeplant hat, deutet nicht darauf hin, dass sich Wien in der Tradition der meist auf ein Jahrzehnt anberaumten Internationalen Bauausstellungen ausreichend Zeit nimmt, um gänzlich neue Lösungen in Architektur und Stadtentwicklung zu finden. Vielmehr scheint es, als ob man die Lösungen schon zu kennen glaubt – und meint, sie im nun folgenden Quartier nur in gewohnter Manier umsetzen zu müssen. Doch sind die in der Seestadt erkennbaren Fortschritte beim besten Willen noch nicht so groß, dass sich der Wiener Städtebau bereits darauf ausruhen sollte.

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