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Von In­seln und Iden­ti­täts­pro­ble­men
Der Standard

Stadt­ent­wi­cklung wird in Mai­land von aus­län­di­schen In­ves­to­ren be­trie­ben. Der so­zia­le Wohn­bau bleibt da­bei auf der Stre­cke, ob­wohl der Be­darf da­für groß ist. Auch die Bü­ro­kra­tie ver­hin­dert vie­les. Ein Be­such.

22. Oktober 2016 - Ber­na­det­te Redl
Mit sil­brig glän­zen­der Fass­ade er­hebt sich der Wol­ken­krat­zer vom grau­en Stein­bo­den in den mit Re­gen­wol­ken ver­han­ge­nen Him­mel. Grau in grau ist nicht nur das Wet­ter, son­dern die Farb­ge­bung des gan­zen Are­als rund um das höch­ste Ge­bäu­de Ita­li­ens, den Tor­re Uni­cre­dit in Mai­land. Er bil­det mit an­de­ren Hoch­häus­ern das Zen­trum des Ge­schäfts­vier­tels Por­ta Nuo­va na­he dem Bahn­hof Por­ta Ga­ri­bal­di. Nur der Bo­sco Ver­ti­ca­le passt hier nicht ins Bild: Die Fass­ade der Wohn­tür­me ist mit hun­der­ten Bäu­men und Sträu­chern be­grünt.

Wie passt die­ses kar­ge Are­al, fi­nan­ziert von aus­län­di­schen In­ves­to­ren wie dem Land Ka­tar, in die­se Stadt, die in die­ser Ge­gend vor al­lem durch Ar­bei­ter­woh­nun­gen ge­prägt ist? Die Ant­wort auf die­se Fra­ge kennt auch die Ar­chi­tek­tin Ka­tia Ac­cos­sa­to nicht. Sie ver­folgt die Dis­kuss­io­nen um die Nut­zung des Ge­biets schon seit vie­len Jah­ren, hat in Mai­land stu­diert und kennt die Be­den­ken der Mai­län­der: „Es fällt den Men­schen schwer, ei­nen Dia­log zwi­schen die­sen zwei Rea­li­tä­ten zu fin­den. Die­ses Stadt­ent­wi­cklungs­pro­jekt ist ei­ne In­sel, die ein Iden­ti­täts­pro­blem schafft.“

Ver­las­se­ne Vier­tel

Vier Ki­lo­me­ter west­lich ein ähn­li­ches Bild: Gläs­er­ne Bü­ro­hoch­häu­ser ra­gen in den Him­mel, Lo­gos von Ban­ken und Ver­si­che­run­gen pran­gen auf ih­ren Spit­zen. Auch die­ses Stadt­ent­wi­cklungs­ge­biet mit dem Na­men Ci­ty Li­fe wird von aus­län­di­schen In­ves­to­ren fi­nan­ziert.

Trotz viel­ver­spre­chen­der Na­mens­ge­bung ist hier von Le­ben nicht viel zu se­hen, ob­wohl ne­ben den Bü­ro­tür­men be­reits Grün­an­la­gen mit Spiel­plät­zen und von Zäu­nen um­ge­be­ne Wohn­an­la­gen von Za­ha Ha­did und Da­ni­el Li­be­skind fer­tig­ge­stellt sind. „Bei wei­tem nicht al­le Woh­nun­gen sind ver­kauft, die Kauf­prei­se lie­gen bei 10.000 Eu­ro pro Qua­drat­me­ter“, sagt Ac­cos­sa­to. Auch sie hofft, dass hier mehr los sein wird, wenn erst ein­mal fer­tig­ge­baut ist.

Wo aber le­ben die Mai­län­der, die sich die Ei­gen­tums­woh­nun­gen in den neu­en Stadt­vier­teln nicht leis­ten kön­nen? Wie steht es um den so­zia­len Wohn­bau in der 1,3-Mil­lio­nen-Ein­woh­ner-Stadt? Ant­wor­ten auf die­se Fra­gen woll­te auch ei­ne De­le­ga­ti­on, be­ste­hend aus Ver­tre­tern der ge­mein­nüt­zi­gen Wohn­wirt­schaft und Jour­na­lis­ten aus Ös­ter­reich, bei ei­nem Be­such in Mai­land fin­den.

Der Druck auf dem ita­lie­ni­schen Woh­nungs­markt ist groß, die Im­mo­bi­lien­prei­se sind hoch. 2,5 Mil­lio­nen Woh­nun­gen feh­len, 600.000 Haus­hal­te ha­ben drin­gen­den Be­darf im öf­fent­li­chen und kom­mu­na­len Wohn­sek­tor. Die Kon­se­quen­zen die­ser Not­la­ge: Zwei Drit­tel al­ler Ita­lie­ner im Al­ter von 18 bis 34 le­ben laut ita­lie­ni­schem Sta­tis­ti­kamt Is­tat noch bei ih­ren El­tern, an­de­re ha­ben sich nach ei­nem Bau­boom En­de der 1990er-Jah­re Ei­gen­tums­woh­nun­gen ge­kauft und sind da­durch heu­te noch stark ver­schul­det.

„Die Wohn­be­la­stung in Ita­li­en ist heu­te um ein Drit­tel hö­her als noch vor zehn Jah­ren“, weiß Mar­kus Sturm, Ob­mann des Ver­eins für Wohn­bau­för­de­rung. 72 Pro­zent der Ita­lie­ner le­ben in Ei­gen­tums­woh­nun­gen, in Ös­ter­reich sind es 58 Pro­zent. Im so­zia­len Wohn­bau sind die Un­ter­schie­de be­son­ders dras­tisch: Wäh­rend in Ös­ter­reich 20 Pro­zent in ge­mein­nüt­zi­gen Woh­nun­gen le­ben, sind es in Ita­li­en nur vier Pro­zent. Mai­land steht et­was bes­ser da als das ge­sam­te Land – hier le­ben 14 Pro­zent in So­zi­al­woh­nun­gen.

„Ei­gent­lich soll­ten So­zi­al­woh­nun­gen nur in Not­si­tua­tio­nen be­wohnt wer­den, aus de­nen sich die Mie­ter selbst wie­der be­frei­en kön­nen“, be­schreibt Cor­ra­do Bi­na den ur­sprüng­li­chen Ge­dan­ken hin­ter dem Mai­län­der Sys­tem. Das Un­ter­neh­men, für das er ar­bei­tet, heißt La Me­trop­oli­ta­na und be­wirt­schaf­tet die kom­mu­na­len So­zi­al­woh­nun­gen der Stadt. „Es hat sich aber her­aus­ge­stellt, dass die Men­schen sehr lan­ge, so­gar bis zu 35 Jah­re in die­sen Woh­nun­gen le­ben.“ An­spruch ha­ben Fa­mi­li­en oder Ein­zel­per­so­nen, de­ren Brut­to­haus­halts­ein­kom­men 35.000 Eu­ro pro Jahr nicht über­steigt. Je nach fi­nanz­iel­ler Stel­lung be­we­gen sich die Mie­ten zwi­schen 20 und 200 Eu­ro mo­nat­lich, so Bi­na.

In die­sem Punkt sieht Sturm ei­nen der größ­ten Un­ter­schie­de zum so­zia­len Wohn­bau in Ös­ter­reich: „Die­se Woh­nun­gen sind in Mai­land für Men­schen in schwie­ri­gen Le­bens­si­tua­tio­nen ge­dacht. In Ös­ter­reich wol­len wir mit dem ge­mein­nüt­zi­gen Wohn­bau hin­ge­gen brei­te Ge­sell­schafts­schich­ten be­die­nen und auch die Mit­tel­schicht an­spre­chen.“

Wer in Mai­land nicht zu den Ärm­sten ge­hört, al­so mehr als 35.000 Eu­ro jähr­lich ver­dient, sich aber auch Ei­gen­tums­woh­nun­gen in den schi­cken, neu­en Stadt­vier­teln nicht leis­ten kann, hat erst seit we­ni­gen Jah­ren auch hier die Chan­ce, in so­zia­len Wohn­an­la­gen un­ter­zu­kom­men.

Ei­nes die­ser Pro­jek­te mit dem Na­men Via Cen­ni steht im Wes­ten Mai­lands. Weil die Stadt der pri­va­ten So­ci­al-Hou­sing-Stif­tung, die das Wohn­pro­jekt ko­or­di­niert, das Grund­stück kos­ten­los über­las­sen hat, kön­nen die Wohn­kos­ten weit un­ter dem Markt­wert ge­hal­ten wer­den. Im Ge­gen­zug sind 15 Pro­zent für kom­mu­na­le So­zi­al­woh­nun­gen re­ser­viert.

Of­fe­ne Or­te

„Hier steht das Zu­sam­men­le­ben im Mit­tel­punkt“, er­klärt ei­ne Be­wohn­erin. Die Hol­län­de­rin, die schon seit vie­len Jah­ren in Mai­land lebt, führt vol­ler Stolz durch die An­la­ge. Ob­wohl sich auch hier das Wet­ter trüb zeigt, ist der Ort be­lebt und bunt. Der Kom­plex ist den lom­bar­di­schen Hö­fen, die für die Re­gi­on um Mai­land ty­pisch sind, nach­emp­fun­den.

Of­fe­ne Lau­ben­gän­ge und Ge­mein­schafts­räu­me wer­den von al­len Be­wohn­ern ge­nutzt, eben­so die Grün­flä­chen und Spiel­plät­ze, die zwi­schen den Wohn­ge­bäu­den lie­gen. Die­se sind so­gar für Men­schen aus der Nach­bar­schaft zu­gäng­lich. „Die Mie­ter ver­wal­ten die An­la­ge selbst, sie bil­den ei­nen Ver­ein“, er­klärt Gi­or­da­na Fer­ri von der Stif­tung.

Seit 2010 hat die Stadt Mai­land ei­nen neu­en Flä­chen­nut­zungs- und Be­bau­ungs­plan, in dem auch de­fi­niert ist, in wel­che Rich­tung sich die so­zia­le Woh­nungs­wirt­schaft ent­wi­ckeln soll. „Wir ha­ben uns be­müht, die so­zia­len Brenn­punk­te ins Au­ge zu fas­sen. Die fünf am meis­ten be­trof­fe­nen Quar­tie­re mit ins­ge­samt 20.000 Woh­nun­gen ha­ben wir mit öf­fent­li­chen Geld­ern auf­ge­wer­tet“, er­zählt Fran­co Zin­na, Di­rek­tor der zu­stän­di­gen Ab­tei­lung bei der Stadt Mai­land.

Der neue Plan nimmt au­ßer­dem pri­va­te Bau­her­ren stär­ker in die Pflicht. Es gilt: Wird ei­ne Flä­che ab 15.000 Qua­drat­me­tern in Bau­land um­ge­wid­met, muss die Hälf­te der Flä­che der Kom­mu­ne für so­zia­len Wohn­bau über­las­sen wer­den. Auf die Fra­ge, wie die Um­set­zung die­ser har­ten Maß­nah­me bei kon­kre­ten Pro­jek­ten funk­tio­nie­re, bleibt Zin­na je­doch va­ge: „Im Ein­zel­fall ver­han­delt der Bau­trä­ger mit der Stadt, wie er ei­nen Bei­trag leis­ten kann.“

So kann es auch sein, dass statt So­zi­al­woh­nun­gen an­de­re, für die All­ge­mein­heit not­wen­di­ge oder sinn­vol­le Pro­jek­te ver­wirk­licht wer­den, er­klärt Zin­na, et­wa ei­ne Stra­ßen­zu­fahrt, ein Mu­se­um oder die Fi­nan­zie­rung so­zia­ler Be­treu­ung in ei­nem Wohn­vier­tel.

Doch auch in die­sem Be­reich gibt es Pro­ble­me, sagt Zin­na. Vie­le Erd­ge­schoß­zo­nen, für die ei­gent­lich ei­ne Nut­zung als Bürg­er­fo­rum, für kom­mu­na­le Dienst­leis­tun­gen oder als So­zi­al­be­treu­ungs­stel­le für Se­nio­ren, Mig­ran­ten oder Ju­gend­li­che vor­ge­se­hen war, ste­hen leer. „Das schei­tert an der Bü­ro­kra­tie. Die Po­li­tik in die­ser Stadt ist ein De­sas­ter. Die ver­schie­de­nen Fach­be­rei­che der Stadt­ver­wal­tung ar­bei­ten ein­fach nicht zu­sam­men, nur so könn­ten die­se Pro­jek­te funk­tio­nie­ren.“

Be­la­sten­de Bü­ro­kra­tie

Ähn­li­che, wenn auch nicht so har­te Kri­tik übt Sturm am ös­ter­rei­chi­schen Sys­tem. „Durch über­bor­den­de Bau­vor­schrif­ten stei­gen auch bei uns im ge­mein­nüt­zi­gen Sek­tor die Mie­ten. Der Durch­schnitts­bür­ger, der sich ei­ne Vil­la baut, muss we­ni­ger Vor­la­gen be­ach­ten als der Ge­ring­ver­die­ner, der im so­zia­len Wohn­bau lebt. Zu­dem sind die Grund­prei­se in Ös­ter­reich viel zu hoch.“

Sein Stell­ver­tre­ter, Karl Wurm, stimmt zu: „Man muss da­mit auf­hö­ren, über­all die­sel­ben Qua­li­tä­ten zu er­war­ten. Im so­zia­len Wohn­bau muss es Un­ter­schie­de ge­ben.“ Bei­de sind froh über den „ge­sun­den So­zi­al­mix“ aus Woh­nungs­ei­gen­tum, pri­va­ten und ge­werb­li­chen so­wie ge­mein­nüt­zi­gen Miet­woh­nun­gen in Ös­ter­reich.

Doch Wurm warnt: „In Ita­li­en wird Stadt­ent­wi­cklung von In­ves­to­ren, Fonds und Ka­tar be­trie­ben, bei uns ist es noch nicht so weit. Wie an­de­re Groß­städ­te lei­det aber auch Wien an bud­ge­tä­ren Pro­ble­men, und die Ten­denz geht in die­se Rich­tung. Klar ist, die In­ves­to­ren ste­hen auch vor un­se­rer Tür, und für sie zählt nur die Ren­di­te.“

[ Die Rei­se er­folg­te auf Ein­la­dung des Ver­eins für Wohn­bau­för­de­rung. ]

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