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Der Sieg über die Schwere
Spectrum

„Man muss die Gerüste wegnehmen, wenn das Haus gebaut ist.“ Eine Banalität? Nicht doch: Nietsche! Über Philosophie und Architektur, alte Achtundsechziger, alte Meister und einen neuen Architekturroman, der keiner ist: aktuelle Bücher zur Baukunst.

17. November 2001 - Wolfgang Freitag
Was ist Architektur? „Architektur ist eine Art Macht-Beredsamkeit in Formen, bald überredend, selbst schmeichelnd, bald bloß befehlend“, antwortet Friedrich Nietzsche in seinen „Streifzügen eines Unzeitgemäßen“. Und: „Im Bauwerk soll sich der Stolz, der Sieg über die Schwere, der Wille zur Macht versichtbaren.“

Markus Breitschmid hat solche und eine Fülle anderer architektureinschlägiger Anmerkungen aus Nietzsches Schriften zusammengetragen und einem ausführlichen Kommentar unterzogen, denn: „Nietzsche besitzt von Beginn seines Schaffens an eine Affektion für die Baukunst, und Baugedanken haben einen stetig steigenden Einfluß für sein philosophisches Werk.“

Ob und wie wiederum vice versa dieses philosophische Werk Einfluß auf die Architektur genommen habe, diese Fragen werden zwar in Breitschmids Traktat „Der bauende Geist – Friedrich Nietzsche und Architektur“ nur sehr nebenbei gestellt – und noch nebenbeier beantwortet –, aber immerhin liefert der Band zahlreiche sonstige Anregungen zu Zustimmung und Widerspruch. Und auch die eine oder andere mittlerweile von der Wirklichkeit widerlegte Vision: „Ich gehe durch die neuen Straßen unserer Städte“, notiert Nietzsche etwa 1874, „und denke, wie von all diesen greulichen Häusern, welche das Geschlecht der öffentlich Meinenden sich erbaut hat, in einem Jahrhundert nichts mehr steht und wie dann auch wohl die Meinungen dieser Häuserbauer umgefallen sein werden.“ Je nun, bedauernd müssen wir dem entgegenhalten: So manches jener greulichen Häuser steht noch immer, und das Geschlecht der öffentlich Meinenden ist bis zum heutigen Tage nimmermüd am Werk, sich neue zu errichten.

„Ist das Architektur?“ mag sich Karl Schwanzer gefragt haben, als er, der honorige Ordinarius am Institut für Gebäudelehre und Entwerfen der damals noch Hochschule genannten Technischen Universität Wien, an den Sozius eines schweren Motorrads geklammert, auf eine Betonwand der Tiefgarage Am Hof zujagte. Gewiß, mit seinem damaligen Assistenten Günther Feuerstein hatte der Herr Professor im Lauf der sechziger Jahre, wie man so sagt, „frischen Wind “ in die etwas muffigen Hallen am Wiener Karlsplatz gebracht, aber so etwas?

Die rasende Fahrt im innerstädtischen Untergrund war jedenfalls Teil der Präsentation einer studentischen Abschlußarbeit, für die Timo Huber, Bertram J.Mayer, Michael Pühringer und Hermann Simböck gemeinsam unter dem Namen „Zünd-Up“ firmierten. Titel des Entwurfs: „The Great Vienna Auto-Expander“.

Was man sich darunter vorzustellen hat? Zeitzeuge Gert Winkler berichtet: „Das präsentierte Projekt war an die weißen Fliesen einer Waschkabine geklebt, rund um das Modell, das im Prinzip ein schwarz gestrichener, mit Auspuffrohren dekorierter Flippertisch war und eine Dragsterstrecke vom Karlsplatz zum Stephansdom darstellte, mit Wendepunkt in der ehrwürdigen Kathedrale. Den Anschauungsunterricht erteilten die Motorradjungs vor Ort.“ Wäre solches heute noch möglich? Damals jedenfalls, wir schreiben das Jahr 1969, war es möglich, und damals war es auch möglich, daß solches von einem Ordinarius als akademische Arbeit – gewiß, nach einigem Zögern, aber doch – akzeptiert wurde.

Man könnte schon ein wenig wehmütig werden, wenn man diesen Anfang und den weiteren, kurzen gemeinsamen Weg der Gruppe verfolgt, wie er in dem von Martina Kandeler-Fritsch herausgegebenen Band „Zünd-Up“ nachzulesen ist: nicht zuletzt deshalb, weil Kandeler-Fritschs „Dokumentation eines Architekturexperiments an der Wende der sechziger Jahre“ über denunmittelbaren Anlaßfall hinaus das plastische Porträt einer Zeit entwirft, die wenigstens rückblickenderweise an jene märchenhaften Tage erinnert, in denen das Wünschen noch geholfen hat.

Ob das nun Architektur ist oder nicht, das steht selbstredend beim Schaffen kunstgeschichtlich kanonisierter Größen des Metiers längst nicht mehr zur Debatte. Publikationen, die sich deren Werken widmen, signalisieren nicht selten schon äußerlich mit entsprechender formaler Wucht das Epochal-Monumentale, das ihr Inneres birgt.

In der heurigen Herbst-Konkurrenz der Architekturbuch-Schwergewichte liegt derzeit der von Phyllis Lambert edierte Band „Mies van der Rohe in America“ mit 3,73 Kilogramm klar vor Bruno Taut “(2,39 Kilo-gramm) und Klaus-Peter Gasts „Louis I.Kahn –Das Gesamt-werk“ (1,37 Kilogramm). Der ursprünglich an zweiter Stelle gereihte Du Mont-Band „Höhepunkte der Weltarchitektur“ (2,99 Kilogramm) mußte wegen Nichteinhaltung gestalterischer Mindeststandards aus der Wertung genommen werden.

Architektur ist nicht einfach Architektur, und ein Haus ist nicht einfach ein Haus. Zum Beispiel: Wir stehen vor einer Fassade –und sehen ein Gesicht mit einem Tür-Mund und Fenster-Augen. Solchen anthropomorphen Projektionen, also vermeintlichen, aber vor allem auch tatsächlichen organischen Spuren in der Baukunst ist der schon erwähnte ehemalige Schwanzer-Assistent Günther Feuerstein für seine jüngste Publikation nachgegangen: In „Biomorphic Architecture“ begibt sich der nunmehrige TU-Emeritus auf die Suche nach „Mensch- und Tiergestalten in der Architektur “und präsentiert gleich einen ganzen Zoo mit Vögeln, Fischen, Elefanten, wie sie sich im Œuvre eines Santiago Calatrava oder eines Frank O. Gehry finden. Nicht zu vergessen Günther Domenigs Zentralsparkassen-Gürteltier in der Wiener Favoritenstraße.

Die Architektur –ein Roman? Franz Kneissl jedenfalls, seines Zeichens selbst Architekt, hat einen Architekturroman geschrieben. So steht es zumindest auf dem Einband seines Buches „Eine Ratte namens Apfel“ zu lesen. Und gleich auf Seite fünf: „Sämtliche Begebenheiten sind frei erfunden. Etwaige Namensübereinstimmungen oder Ähnlichkeiten beschriebener Charaktere mit lebenden Personen sind zufällig.“

Wer die folgenden 368 Seiten liest, weiß: Nichts davon ist wahr. Das heißt: Es dreht und wendet sich schon alles um Architektur, aber Roman ist das keiner, kaum ein Hauch von Fiktion, sondern überwiegend schlichte, formal aufwendig ineinander verwobene Sachverhaltsdarstellungen zu unendlichen Projektgeschichten wie jener des Linzer Musiktheaters oder der des Bibliotheksneubaus am Wiener Gürtel, all das aus der Warte eines Mitleidenden.

Daß sich hier nebst soviel trüber Realität unter anderem auch ästhetische Betrachtungen über das heimische Fleischlaberl-Design finden, beweist nur wieder einmal, daß auch auf dem Feld der Architektur gilt, was man der rotweißroten Befindlichkeit allgemein nachsagt: Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst.

Eine Empfehlung zum guten Ende: „Man muß die Gerüste wegnehmen, wenn das Haus gebaut ist“, legt uns Nietzsche als eine „Moral für Häuserbauer“ nahe. Eine Selbstverständlichkeit? Wer weiß?


[Martina Kandeler-Fritsch (Hrsg.)
Zünd-Up
Dokumentation eines Architekturexperiments an der Wende der sechziger Jahre, 272 S., Ln., S 476, €,34,59 (Springer Verlag,Wien)

Franz Kneissl
Eine Rattenamens Apfel
Architekturroman, 374 S., brosch.,S 298, € 21,66 (Sonderzahl Verlag, Wien)

Winfried Nerdinger u.a.(Hrsg.)
Bruno Taut 1880 –1938
Architekt zwischen Tradition und Avantgarde, 440 S., Ln., S 1810, € 131,54 (Deutsche Verlags-Anstalt,München)

Günther Feuerstein
Biomorphic Architecture
Menschen- und Tiergestalten in der Architektur, 188 S., Ln.,S 931, € 67,66 (Edition Axel Menges,Stuttgart)

Markus Breitschmid
Der bauende Geist
Friedrich Nietzsche und die Architektur, 224 S., brosch., S 300, € 21,80 (Quart Verlag,Luzern)

Klaus-Peter Gast
Louis I. Kahn
Das Gesamtwerk, 208 S., geb., S 1080, € 78,49 (Deutsche Verlags-Anstalt, München)

Hubertus Adam, Jochen Paul (Hrsg.)
Höhepunkte der Weltarchitektur
440 S., geb., S 368, € 26,74(DuMont Verlag,Köln)

Phyllis Lambert (Hrsg.)
Mies van der Rohe in America
792 S., Ln., S 1445, € 105,01 (Hatje Cantz Verlag,Ostfildern)]

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