Artikel
„Pionier zu sein hat etwas Unmoralisches“
Der Pariser Architekt Umberto Napolitano, Büro LAN, baut ungewöhnliche Häuser und schreibt ebenso ungewöhnliche Bücher. Kommenden Samstag hält er einen Vortrag in Wien.
4. März 2017
Standard: Vor ein paar Tagen ist Ihr neues Buch „Paris Haussmann. A Model’s Relevance“ erschienen. Wie kommt man als Architekt dazu, ein historisches Buch zu schreiben?
Napolitano: Mich fasziniert Paris als urbaner Ort und auch als Verdichtung von Schönheit und Atmosphäre. Wir wollten uns anschauen, warum diese Stadt so gut funktioniert. Es ist weniger eine historische Abhandlung als vielmehr eine architektonische und städtebauliche Forschungsarbeit, bei der wir 4000 Straßenblocks analysiert haben und die nach zwei Jahren so umfangreich war, dass sie nun als Buch erschienen ist.
Standard: Und was können wir von Baron Haussmann lernen?
Napolitano: Haussmann hat breite Achsen angelegt, die die Aufgabe hatten, die großen Monumente miteinander zu verbinden. Es ging um Sicherheit und Überwachung. Das ist hinlänglich bekannt. Tatsächlich jedoch handelt es sich bei diesen Aufmarsch-Straßen um sehr hochwertige städtische Räume für Fußgänger. Wenn man so will, ist das moderne Paris die wahrscheinlich menschenfreundlichste am Reißbrett entstandene Stadt der Welt.
Standard: Inwiefern?
Napolitano: Wir wissen heute, dass der Großteil der Menschen bei Wegdistanzen unter 400 Meter gar nicht darüber nachdenkt, ein öffentliches Verkehrsmittel zu verwenden. Bei längeren Wegen hingegen sehr wohl. Das Haussmann’sche Paris wurde damals schon so angelegt, dass man innerhalb dieses 400-Meter-Kreises möglichst viele Hauseingänge und auch möglichst viele kulturelle, kommerzielle und institutionelle Punkte erreichen kann. Paris ist eine polyzentrische Stadt der kurzen Wege.
Standard: Wie lässt sich das messen?
Napolitano: In Paris findet man in diesem 400-Meter-Radius durchschnittlich 175 öffentliche Einrichtungen. Dazu zählen Schulen, Kindergärten, Geschäfte, Restaurants, Museen, Galerien sowie übergeordnete Dienstleistungen. Das ist eine extrem hohe Dichte.
Standard: Wie ist das in anderen Städten?
Napolitano: Wir haben 15 Städte zum Vergleich herangezogen – darunter etwa Berlin, Barcelona, London, Amsterdam, Chicago, Manila, Dakar und Washington. In Tokio findet man im gleichen Umkreis 99 öffentliche Punkte, in New York City 71 und in Brasília nur sieben. Keine Stadt kommt auch nur annähernd an Paris heran.
Standard: Was war für Sie persönlich die größte Überraschung?
Napolitano: Dass ich – wie die meisten Architekten auch – ein Leben lang ein völlig falsches Verständnis von Dichte hatte. Dichte, lernt man, ist eine Qualität, die auf einzelne Häuser angewandt wird. Doch in Wirklichkeit geht es um die Dichte der Stadt. Das war ein Schock.
Standard: Haben wir heute Angst vor der Dichte?
Napolitano: Die Moderne hat uns gelehrt, die Funktionen voneinander zu trennen und losgelöste, monofunktionale Objekte in die Stadt zu stellen. Diese Utopie hat sich wie ein Dogma in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt.
Standard: Was tun?
Napolitano: Wir müssen uns trauen, wieder zusammenzurücken. Aktuell kompensieren wir unsere Angst vor Dichte, indem wir Türme bauen. Das ist zumindest schonmal eine Ersatzhandlung.
Standard: Inwiefern hat sich die Beschäftigung mit Haussmann auf Ihre eigenen Projekte ausgewirkt?
Napolitano: In gewisser Weise bestärkt mich Haussmann in unserer täglichen Arbeit. Vor etwas über einem Jahr wurde unser Projekt Carré Lumière in Bordeaux fertiggestellt. Auch da geht es um eine extrem hohe Dichte – und zwar um dichte Leere, um dicht gesetzte Löcher.
Standard: Das müssen Sie erklären!
Napolitano: Die meisten Wohnungen haben eine gewisse Wohnfläche und einen kleinen Balkon dazu. Wir wollten dieses Dogma umdrehen und haben gesagt: Erhöhen wir doch einmal die Dichte an jenen Räumen, die nicht von Anfang an mit konkreten Funktionen belegt sind, sondern die sich erst im Laufe der Zeit entwickeln und entfalten können. In manchen Fällen sind die Loggien, Balkone und Terrassen größer als die Wohnzimmer, manchmal sogar größer als die ganze Wohnung.
Standard: Wie finanziert man so einen Luxus?
Napolitano: Das hätten wir zum damaligen Zeitpunkt auch gerne gewusst! Wir waren damals noch jung und naiv genug zu glauben, den Wohnbau neu erfinden zu können. Die Antwort ist: Standardprodukte, industrielle Vorfertigung und keinerlei Abweichung von der Norm. Die Umsetzung war ein Albtraum.
Standard: Würden Sie so ein Projekt wieder machen?
Napolitano: Nie wieder. Das Architektenhonorar richtet sich nach den Baukosten, was bei diesem Projekt nicht gerade förderlich war. Pionier zu sein hat etwas Unmoralisches.
Standard: Und was sagt der Bauträger?
Napolitano: Ich sage Ihnen nicht, was er früher gesagt hat, aber heute ist er glücklich. Alle Wohnungen sind verkauft. Und die Zufriedenheit im Carré Lumière ist enorm.
Standard: Wie werden die Balkone und Loggien genutzt?
Napolitano: Es gibt eine enorme Bandbreite an Nutzungen. Das reicht vom klassischen Frühstücksbalkon über hübsch dekorierte Oasen mit Hängematte bis hin zu vollgeräumten Abstellräumen an der frischen Luft. Manche nutzen die Loggien im Sommer als Schlafzimmer, als Fitnessraum oder als Küche. Wir haben das als Fotoprojekt auf der letzten Architektur-Biennale in Venedig dokumentiert.
Standard: Was war die ungewöhnlichste Nutzung, an die Sie sich erinnern können?
Napolitano: Es gibt einen leidenschaftlichen Schlangensammler, der die Loggia als Terrarium für 30, 40 Schlangen nutzt. Unfassbar!
Standard: In Wien wird der gegenteilige Weg bestritten. Da werden die Wohnungen immer kleiner. Wir sagen „smart“ dazu.
Napolitano: Ich kenne das Konzept zwar nicht, aber eine Wohnung zu verkleinern, damit sie billiger wird, ist eine etwas simple Arithmetik, die banal, aber sicher nicht smart ist, oder?
Standard: Was wäre eine unbanale Alternative?
Napolitano: Wir bauen in Frankreich erstmals Billigwohnungen, die im Edelrohbau vermietet und verkauft werden – mit Estrichboden und Anschluss für Gas, Wasser, Strom. Der Bewohner kann entscheiden, was, wann und wie teuer er den Innenausbau machen möchte. Es geht um Experimente. Man muss sich nur trauen.
Standard: Kommenden Samstag halten Sie einen Vortrag in Wien. Worüber werden Sie sprechen?
Napolitano: Über das Potenzial von Experimenten.
Napolitano: Mich fasziniert Paris als urbaner Ort und auch als Verdichtung von Schönheit und Atmosphäre. Wir wollten uns anschauen, warum diese Stadt so gut funktioniert. Es ist weniger eine historische Abhandlung als vielmehr eine architektonische und städtebauliche Forschungsarbeit, bei der wir 4000 Straßenblocks analysiert haben und die nach zwei Jahren so umfangreich war, dass sie nun als Buch erschienen ist.
Standard: Und was können wir von Baron Haussmann lernen?
Napolitano: Haussmann hat breite Achsen angelegt, die die Aufgabe hatten, die großen Monumente miteinander zu verbinden. Es ging um Sicherheit und Überwachung. Das ist hinlänglich bekannt. Tatsächlich jedoch handelt es sich bei diesen Aufmarsch-Straßen um sehr hochwertige städtische Räume für Fußgänger. Wenn man so will, ist das moderne Paris die wahrscheinlich menschenfreundlichste am Reißbrett entstandene Stadt der Welt.
Standard: Inwiefern?
Napolitano: Wir wissen heute, dass der Großteil der Menschen bei Wegdistanzen unter 400 Meter gar nicht darüber nachdenkt, ein öffentliches Verkehrsmittel zu verwenden. Bei längeren Wegen hingegen sehr wohl. Das Haussmann’sche Paris wurde damals schon so angelegt, dass man innerhalb dieses 400-Meter-Kreises möglichst viele Hauseingänge und auch möglichst viele kulturelle, kommerzielle und institutionelle Punkte erreichen kann. Paris ist eine polyzentrische Stadt der kurzen Wege.
Standard: Wie lässt sich das messen?
Napolitano: In Paris findet man in diesem 400-Meter-Radius durchschnittlich 175 öffentliche Einrichtungen. Dazu zählen Schulen, Kindergärten, Geschäfte, Restaurants, Museen, Galerien sowie übergeordnete Dienstleistungen. Das ist eine extrem hohe Dichte.
Standard: Wie ist das in anderen Städten?
Napolitano: Wir haben 15 Städte zum Vergleich herangezogen – darunter etwa Berlin, Barcelona, London, Amsterdam, Chicago, Manila, Dakar und Washington. In Tokio findet man im gleichen Umkreis 99 öffentliche Punkte, in New York City 71 und in Brasília nur sieben. Keine Stadt kommt auch nur annähernd an Paris heran.
Standard: Was war für Sie persönlich die größte Überraschung?
Napolitano: Dass ich – wie die meisten Architekten auch – ein Leben lang ein völlig falsches Verständnis von Dichte hatte. Dichte, lernt man, ist eine Qualität, die auf einzelne Häuser angewandt wird. Doch in Wirklichkeit geht es um die Dichte der Stadt. Das war ein Schock.
Standard: Haben wir heute Angst vor der Dichte?
Napolitano: Die Moderne hat uns gelehrt, die Funktionen voneinander zu trennen und losgelöste, monofunktionale Objekte in die Stadt zu stellen. Diese Utopie hat sich wie ein Dogma in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt.
Standard: Was tun?
Napolitano: Wir müssen uns trauen, wieder zusammenzurücken. Aktuell kompensieren wir unsere Angst vor Dichte, indem wir Türme bauen. Das ist zumindest schonmal eine Ersatzhandlung.
Standard: Inwiefern hat sich die Beschäftigung mit Haussmann auf Ihre eigenen Projekte ausgewirkt?
Napolitano: In gewisser Weise bestärkt mich Haussmann in unserer täglichen Arbeit. Vor etwas über einem Jahr wurde unser Projekt Carré Lumière in Bordeaux fertiggestellt. Auch da geht es um eine extrem hohe Dichte – und zwar um dichte Leere, um dicht gesetzte Löcher.
Standard: Das müssen Sie erklären!
Napolitano: Die meisten Wohnungen haben eine gewisse Wohnfläche und einen kleinen Balkon dazu. Wir wollten dieses Dogma umdrehen und haben gesagt: Erhöhen wir doch einmal die Dichte an jenen Räumen, die nicht von Anfang an mit konkreten Funktionen belegt sind, sondern die sich erst im Laufe der Zeit entwickeln und entfalten können. In manchen Fällen sind die Loggien, Balkone und Terrassen größer als die Wohnzimmer, manchmal sogar größer als die ganze Wohnung.
Standard: Wie finanziert man so einen Luxus?
Napolitano: Das hätten wir zum damaligen Zeitpunkt auch gerne gewusst! Wir waren damals noch jung und naiv genug zu glauben, den Wohnbau neu erfinden zu können. Die Antwort ist: Standardprodukte, industrielle Vorfertigung und keinerlei Abweichung von der Norm. Die Umsetzung war ein Albtraum.
Standard: Würden Sie so ein Projekt wieder machen?
Napolitano: Nie wieder. Das Architektenhonorar richtet sich nach den Baukosten, was bei diesem Projekt nicht gerade förderlich war. Pionier zu sein hat etwas Unmoralisches.
Standard: Und was sagt der Bauträger?
Napolitano: Ich sage Ihnen nicht, was er früher gesagt hat, aber heute ist er glücklich. Alle Wohnungen sind verkauft. Und die Zufriedenheit im Carré Lumière ist enorm.
Standard: Wie werden die Balkone und Loggien genutzt?
Napolitano: Es gibt eine enorme Bandbreite an Nutzungen. Das reicht vom klassischen Frühstücksbalkon über hübsch dekorierte Oasen mit Hängematte bis hin zu vollgeräumten Abstellräumen an der frischen Luft. Manche nutzen die Loggien im Sommer als Schlafzimmer, als Fitnessraum oder als Küche. Wir haben das als Fotoprojekt auf der letzten Architektur-Biennale in Venedig dokumentiert.
Standard: Was war die ungewöhnlichste Nutzung, an die Sie sich erinnern können?
Napolitano: Es gibt einen leidenschaftlichen Schlangensammler, der die Loggia als Terrarium für 30, 40 Schlangen nutzt. Unfassbar!
Standard: In Wien wird der gegenteilige Weg bestritten. Da werden die Wohnungen immer kleiner. Wir sagen „smart“ dazu.
Napolitano: Ich kenne das Konzept zwar nicht, aber eine Wohnung zu verkleinern, damit sie billiger wird, ist eine etwas simple Arithmetik, die banal, aber sicher nicht smart ist, oder?
Standard: Was wäre eine unbanale Alternative?
Napolitano: Wir bauen in Frankreich erstmals Billigwohnungen, die im Edelrohbau vermietet und verkauft werden – mit Estrichboden und Anschluss für Gas, Wasser, Strom. Der Bewohner kann entscheiden, was, wann und wie teuer er den Innenausbau machen möchte. Es geht um Experimente. Man muss sich nur trauen.
Standard: Kommenden Samstag halten Sie einen Vortrag in Wien. Worüber werden Sie sprechen?
Napolitano: Über das Potenzial von Experimenten.
Umberto Napolitano (41) studierte Architektur und gründete 2002 gemeinsam mit Benoît Jallon das Büro LAN (Local Architecture Network) mit Sitz in Paris. Soeben erschien bei Park Books „Paris Haussmann. A Model’s Relevance“.
Parallel dazu ist im Pavillon de l’Arsenal bis 21. Mai die gleichnamige Ausstellung zu sehen. Am 11. März hält er im Rahmen von Turn On einen Vortrag im ORF-Radiokulturhaus.
Parallel dazu ist im Pavillon de l’Arsenal bis 21. Mai die gleichnamige Ausstellung zu sehen. Am 11. März hält er im Rahmen von Turn On einen Vortrag im ORF-Radiokulturhaus.
Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard
Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroom