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Panik hinter den Rollläden
Spectrum

Die Schlafstädte weiten sich aus. Schlafstädte, durch die sich kaum einer mehr zu Fuß bewegt. Und wo der öffentliche Raum verlassen ist, steigt die Verunsicherung: Man zieht sich sich in die Innenräume zurück. „Suburban angst“ heißt das Phänomen in den USA– und ist hierorts ebenfalls schon weit verbreitet. Eine Nachschau.

28. Mai 2016 - Judith Eiblmayr
Es ist ein Phänomen, das man aus kleinen österreichischen Orten kennt: Häuser mit heruntergelassenen Rollläden, am helllichten Tag trotz Normaltemperatur. Als Schallschutz an der Hauptstraße, weil jemand ein Mittagsschläfchen hält, oder aus Sicherheitsgründen am knallgelben Fertigteilhaus, weil man nicht zu Hause ist, hat dies ja Sinn. Es gibt auch andere Gründe, wie eine ortskundige Niederösterreicherin erzählt: Bewohnerinnen verdunkeln untertags, selbst wenn sie zu Hause sind, damit die Fensterglasscheiben nicht verschmutzen. Nicht unlogisch, da stets stärkere Autoverkehr immer mehr Nebenwirkungen hat.

Der Rollladen bietet Schutz aus einem persönlichen Sicherheitsbedürfnis heraus; man kann man nie wissen, wer grad vorbei- und auf dumme Gedanken kommt. Und es fällt in diesem Ort auf, dass so wenige Menschen auf der Straße sind. Die Geschäfte im Ortszentrum haben zugesperrt, die Post ist weg, der Wirt ist grantig, weil er mit der Registrierkassa nicht zurechtkommt, und droht, auch bald den Hut draufzuhauen. Die Leute würden sowieso lieber zum „Mäkki“ (McDonald's) im Fachmarktzentrum am Kreisverkehr in der Ortseinfahrt fahren. Seit der aufgesperrt hat, bleiben die jungen Gäste und jene mit Kindern weg. Viele Hauptstraßen geraten zu Durchzugsstraßen und ziehen oft dem Ortskern den Lebensnerv.

Wenn der öffentliche Raum nicht mehr funktioniert und die soziale Kontrolle durch Menschen, die die Straßen und Plätze sinnvollerweise „bevölkern“ oder auch nur aus dem Fenster schauen, nicht mehr gegeben ist, ist das Volk verunsichert und zieht sich in den Innenraum zurück. „Suburban angst“ nennt man dieses Phänomen in den USA. Ein undefiniertes Unsicherheitsgefühl, das die Bewohner von immer größeren, teureren, billiger gebauten Häusern auf immer entlegeneren Grundstücken befällt. Näher am jeweiligen Ortszentrum kann man sich's nicht leisten, was zur Folge hat, dass die Dislozierung des Wohnhauses als Lebensmittelpunkt in der Subsuburb durch Anschaffung immer größerer, bequemerer Autos wettgemacht werden muss, um noch „top“ zu sein.

Die Geschichte der Suburb führt ins England des 18. Jahrhunderts, als sich die ersten Verwerfungen im durch strikte Klassenunterschiede geprägten Gesellschaftssystem zeigten. Die Industrialisierung bewirkte, dass die arme Landbevölkerung in die Städte drängte, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Eine sinkende Kindersterblichkeit bewirkte nicht nur, dass mehr „hungrige Mäuler gestopft“ werden mussten, sondern auch mehr Arbeitskraft vorhanden war; Kinderarbeit war eine Folge, um die Arbeitsplätze in den neu geschaffenen Fabriken auslasten zu können und das Einkommen der Familien zu verbessern. Analog dieser Art von Ausbeutung waren die Lebensbedingungen der Arbeiter schlecht: Miese Wohnbedingungen, übervolle Straßen, rauchende Schlote und üble hygienische Zustände machten die Stadtzentrenzu unangenehmen Orten.

Die heile Welt von Clapham Common

Die Kaufmannsfamilien suchten nach einem Ausweg, um die Annehmlichkeiten ihres Reichtums in Ruhe genießen zu können, und hielten Ausschau nach Grundstücken im grünen Umland. Clapham Common war das erste als solches gegründete gemeinschaftliche Wohnprojekt, fünf Meilen nördlich von London, wo ab 1780 um einen großen Park Villen errichtet wurden. Eine neue Strömung in der Anglikanischen Kirche, das Evangelical Movement, lieferte den konfessionellen Überbau, um die eigenen Familien aus den inferioren Städten quasi in Sicherheit zu bringen. Die relativ kleine Clapham-Sekte definierte eine neue Rolle für Frauen: nämlich jene, ausschließlich für Kinderaufzucht und Religionsausübung zuständig zu sein. Waren sie bislang in den Betrieb in der Stadt eingebunden, wurden sie nun ins Haus auf dem Land versetzt, um sich mithilfe von Personal familiären Aufgaben zuzuwenden. „Suburbia war das gemeinschaftliche Bestreben, ein rein privates Leben zu führen“, schrieb Lewis Mumford 1938. Und später: „Die Suburb war ein Rückzugsort, wo die Illusion einer heilen Welt aufrechterhalten werden konnte. Es ging nicht nur um eine kindgerechte Umgebung, sondern auch um eine kindische Sicht der Dinge, wo die Realität dem Schönheitsprinzip geopfert wurde.“

Zur selben Zeit wurde in der Neuen Welt das System des Landverkaufs als Einnahmequelle staatlich institutionalisiert. Nach Gründung der USA wurde im Land Act von 1796 festgelegt, dass der Kontinent einem streng geometrischen Raster unterworfen wird und die einzelnen Quadrate Land an reiche Europäer verkauft werden, um dem Staat ein Einkommen zu bescheren. Das System funktionierte, binnen kürzester Zeit entwickelten sich die USA zu einem Zentrum der Weltwirtschaft. Das Eisenbahnwesen machte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die weitläufige Erschließung von Nordamerika möglich und lockte neue Pioniere ins Land.

Zu dieser Zeit entstanden auch die ersten Suburbs in den USA, wie zum Beispiel in Philadelphia; die Eisenbahn war hierbei systemimmanent. Zuerst wurden die Gleise verlegt, dann die Gründe von den Bahngesellschaften nahestehenden Personen erworben und um teures Geld weiterverkauft. Chestnut Hill, als exklusive Suburb im Norden von Philadelphia angelegt, war bereits elf Meilen vom Stadtzentrum entfernt, aber durch die Bahnanbindung relativ schnell zu erreichen. In allen großen Städten der USA wurden Straßenbahnlinien bis weit ins Umland geführt, da man um den anhaltenden Zuzug von Siedlern aus Europa wusste. Die Suburbs als Investorenprojekte wurden als kleine Einheiten für die Elite sorgsam geplant und entsprechend beworben, die Gegenden entlang der Bahnlinien würden sich im Laufe der Zeit mit billigeren Häusern auffüllen. Ein System, das jahrzehntelang gut funktionierte, vor allem durch das Bahn- undStraßenbahnwesen der USA, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als das dichteste und beste der Welt galt.

Mit dem Aufkommen der Autoindustrie in den USA änderten sich die Vorzeichen; Ende der 1920er-Jahre war die amerikanische Autoproduktion achtmal so hoch wie in Europa und geriet zu einem der wesentlichsten Wirtschaftsfaktoren. Neben dem öffentlichen Verkehr wurde nun der Individualverkehr beschleunigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte man an diese Erfolgsgeschichte anschließen und suchte nach einem Weg, der Auto- wie auch Fertigteilhausindustrie den Markt zu sichern. Die Idee der Suburb wurde weiterentwickelt und im Housing Act von 1949 die staatliche finanzielle Förderung beim Erwerb eines Häuschens im Grünen beschlossen; Developer schickten sich an, das Land aufzubereiten.

Innerstädtisch wurden ganze Stadtviertel oft grundlos zu Slums erklärt und niedergerissen, um unter dem euphemistischen Begriff des „Urban Renewal“ Platz zu schaffen. Erneuerung bedeutete hierbei eine Spielwiese für Investoren, die mit den billig erworbenen Gründen durch Verdichtung und neue Nutzungen ungeahnte Gewinne einfahren konnten. Die Bewohner wurden nicht lange gefragt und in woanders neu errichtete „Wohnsilos“ verfrachtet; eine Maßnahme, die schwerwiegende soziale Probleme nach sich zog. Die Mittelschicht zog wohl oder übel ins vorgefertigte Häuschen in der neu errichteten Suburb, wo weit und breit keine Bahnlinie und auch kein Geschäft mehr zu finden war, daher wurde ein Auto angeschafft. Der American Dream sollte perfekt sein.

Von der „Krankheit ohne Namen“

Die Frauen, die während des Krieges die Arbeiten der abwesenden Männer übernommen hatten, wurden, um die Arbeitsplätze wieder frei zu machen, in bewährter Weise an die Stadtränder versetzt, Kindererziehung und Haushaltsführung wurden zum staatlich verordneten Lebensmodell erklärt. Die Männer fuhren mit dem Auto zur Arbeit, die Frauen blieben zurück und konnten sich in den neu errichteten Shopping Malls zerstreuen. Als „die Krankheit ohne Namen“ wurde der depressive Zustand der Frauen in den Suburbs bezeichnet, schrieb Betty Friedan 1961. Der amerikanische Tagtraum an den Stadträndern war eher von Langeweile denn von Glück erfüllt.

Die vermeintliche Freiheit jedes Einzelnen, seinen Weg mit dem Auto selbst bestimmen zu können, ist das eine, die ohne Massenverkehrsmittel mangelnde Dichte an Menschen in den Stadtzentren das andere. Wenn Gehdistanzen auf Wege vom Parkplatz zum Zielgebäude reduziert werden, entleert sich der öffentliche Raum, es kommt auch keiner vorbei, der in den Gassenläden einkauft. Die Welt außerhalb der eigenen vier Wände oder der Blechblase auf vier Rädern wird nur mehr be-, aber nicht mehr erfahren und so als „fremd“ wahrgenommen.

Dies ist da wie dort dasselbe. Wo prinzipiell niemand mehr zu Fuß geht, werden jene verdächtig, die es dennoch tun. Die Suburbanisierung greift in den USA wie auch bei uns immer weiter um sich. Trotz Kenntnis der Problematik weiten sich die Schlafstädte aus, in denen die Straßen keine Gehsteige haben. Wozu auch, man muss sowieso ins Auto steigen, anders kommt man dort nicht weg! „Suburban angst“ könnte mit „den Rollladen runterlassen“ übersetzt werden, eine Form der Kommunikationsverweigerung. Heißt auf den Straßenraum bezogen so viel wie: Wenn sich jedes Haus mit geschlossenen Rollläden präsentiert, ist dies kein positives Signal an den Gemeinsinn einer Gesellschaft – hüben wie drüben.

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