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Reibungswiderstände erleben
Theorie war gestern, doch heute fordert die Architekturausbildung immer häufiger ihren ganz praktischen Tribut. Wie „Design-Build“ die europäischen Hochschulen erobert.
29. April 2017 - Friederike Meyer
A ls ich vor 20 Jahren mit einem DAAD-Stipendium an der University of Washington in Seattle studierte, änderte sich meine Sichtweise auf den Architekturberuf. Damals hörte ich den Begriff zum ersten Mal: „Design-Build“. Mein Professor Sergio Palleroni hatte mich eingeladen, für drei Monate nach Mexiko zu kommen, um eine Dorfschule zu bauen. Ich zögerte keine Minute, das klang aufregend. Nicht weit von Mexiko-Stadt war ich mit den existenziellen Problemen einer illegal entstandenen Siedlung konfrontiert – mit Kommunikationshürden und körperlicher Arbeit, wie sie mir das Baupraktikum nicht vermittelt hatte. Gemeinsam mit den Bewohnern bauten wir drei Klassenräume, eine Brücke über einen Geländesprung und einen Pausenhof.
Zementsäcke und Wassereimer
Wir – das waren zwei Hochschullehrer und 30 Studierende der Architektur und Landschaftsarchitektur aus Seattle. Wir versuchten, die Bedürfnisse und bautechnischen Möglichkeiten in einen Entwurf zu übersetzen. Wir merkten, wie lange es braucht, eine Bodenplatte zu bewehren, wie viel Kraft, um Beton mit der Schaufel anzumischen, denn in dem durch erstarrte Lava zerklüfteten Gelände gab es keinen Weg, auf dem ein Mischer hätte fahren können. Wir erlebten die Dorfbewohner, die Zementsäcke und Wassereimer schleppten und mithalfen, wo sie nur konnten.
Was damals als studentisches Globetrotter-Hobby galt, wird heute an immer mehr europäischen Hochschulen praktiziert. Auf dem Zürichsee beispielsweise schwamm vergangenen Sommer der Manifesta-Pavillon, gebaut von Studenten der ETH Zürich. Durch Europa tourte eine Containerküche, entwickelt von Studenten der TU Berlin. Im Weinviertel haben Studierende der TU Wien einen denkmalgeschützten Gutshof zur Herberge umgebaut, die nun von Menschen mit Behinderungen betrieben wird.
Doch was treibt die Hochschulen zu dieser praxisorientierten Arbeit an? Vielleicht ist es die Einsicht, dass Architekturstudenten frühzeitig Erfahrungen bei der Umsetzung ihrer Ideen sammeln sollten? Vielleicht ist es der Vorwurf, Universitäten agierten im Elfenbeinturm? Vielleicht ist es mancherorts auch der Frust über die offizielle Haltung zur Flüchtlingsunterbringung, der die Arbeits- und Innovationskraft von Studierenden weckt?
Für die Bewegung „Design-Build“ existieren viele Begriffe. „Live-Projects“ nennen es die einen, „1:1-Projects“ die anderen. In den USA spricht man von „Public-Interest-Design“ und meint damit, ganz unabhängig von studentischer Beteiligung, jene planerische Praxis, die eine soziale, ökonomische und gesunde Lebensumgebung für alle schafft. Für viele Architekten auf der Welt ist das – wenn überhaupt – ein Lippenbekenntnis. Umso wertvoller ist es, wenn Studierende nicht nur lernen, Defizite zu erkennen, sondern diese mit ihren Mitteln auch zu verändern. Ob das öffentliche Plätze, Unterkünfte für Obdachlose oder Gemeinschaftszentren betrifft. In den USA, wo der Staat keine Verpflichtung zur Daseinsfürsorge übernimmt, hat diese Arbeit eine lange Tradition.
Soziale Verantwortung
Dass sich immer mehr Studierende und Architekten weltweit der sozialen Verantwortung des Berufsbildes stellen, verdeutlichten unter anderem die vielen regionalen Organisationen SEED Network, design/build exchange, Live Projects Network, dbXchange oder Pacific Rim Community Design Network. Anfang April trafen sich rund 150 Vertreter auf einer Konferenz in Portland, die Sergio Palleroni und Bryan Bell, Gründer des Public Interest Design Institute, organisiert hatten. Sie präsentierten Projekte, diskutierten über die Messbarkeit des Erfolgs und überlegten, wie sie ihre Arbeit der Gesellschaft und innerhalb der Hochschulen besser vermitteln können.
In einer auf schöne Bilder und Alphatiere ausgerichteten Medienwelt ist das nicht leicht. Design-Build hat keine Stars und keine glänzenden Produkte. Das Kollektiv und der Prozess stehen im Vordergrund. Auch das ist ein Grund, warum viele Universitäten Design-Build als Sonderfall wahrnehmen und die Teilnehmer keine angemessenen Seminarpunkte erhalten – und das, obwohl Design-Build überzeugende Antworten auf die wichtigste Frage der Branche hat: Wie beeinflusst Architektur die Gesellschaft? Und was kann die Architekturausbildung dazu beitragen?
Wie mühsam die Arbeit im Sinne der Gemeinschaft bisweilen sein kann, aber auch wie wertvoll selbst kleine Projekte für alle Beteiligten sein können, zeigten die Vorträge über Projekte, die in einem von den Netzwerken ausgelobten Wettbewerb ausgezeichnet wurden. Von einwöchigen Interventionen im spannungsgeladenen Nordirland berichtete Ruth Morrow, Professorin an der Queen’s University Belfast, die mit ihren Studenten versucht, die zerstrittenen Parteien innerhalb von Belfast temporär an einen Tisch zu bekommen, und der Meinung ist, dass es nicht immer darum gehen muss, Probleme zu lösen, sondern zu lernen, mit ihnen umzugehen.
Arbeit in einer fremden Kultur
Vom Leben auf der Elektroschrotthalde Agbobloshie im afrikanischen Ghana, wo Menschen Plastik verbrennen, um an Kabel zukommen, und aus alten Rechnern Öfen oder Armreifen herstellen, berichtete Designer DK Osseo-Asare. Diese Mikroökonomie unterstützte er mit Studierenden, indem sie Atemfilter entwickelten, den Prototyp einer Werkstatt bauten, in der montiert und demontiert werden kann, und eine App programmierten, die den Weiterverkauf des Materials ermöglicht.
Peter Fattinger, der seit vielen Jahren an der TU Wien das Design Build Studio betreibt, sieht das Ziel von Design-Build nicht darauf reduziert, einfach nur ein Bauwerk zu realisieren. „Es geht vielmehr darum, den Studierenden die Möglichkeit zu geben, die unmittelbaren Auswirkungen ihres Denkens, Kommunizierens und Handelns in einem breiteren Kontext zu verstehen und die Reibungswiderstände zu erleben, die auftreten, wenn man ein Projekt vom Plan in die gebaute Wirklichkeit übersetzt“, sagt er. Ursula Hartig, die an der Hochschule München Planen und Bauen im globalen Kontext lehrt, wünscht sich sogar, dass alle Studierenden in ihrer Studienzeit an einem solchen Projekt mitarbeiten können. „Die Lehrpläne fordern, dass wir international und interdisziplinär arbeiten, dass die Studierenden interkulturelle Kompetenzen entwickeln“, so Hartig. „Wo können Studierende dies besser lernen als bei der Arbeit in einer fremden Kultur, wo die eigenen Werte mit anderen konfrontiert werden?“
Zur Aufgabe von Planern und Architekten gehört heute, das gesamte System zu betrachten und bestehende Orte oder Gemeinschaften so auszustatten, dass ihre Bewohner den Alltag bewältigen – ganz gleich, ob dafür ein neues Haus gebaut, ein Brunnen gegraben oder eine Brücke gespannt werden muss. Was wird aus welchem Grund wirklich gebraucht? Das ist vielleicht das Wichtigste, was Studierende bei Design-Build lernen können.
Zementsäcke und Wassereimer
Wir – das waren zwei Hochschullehrer und 30 Studierende der Architektur und Landschaftsarchitektur aus Seattle. Wir versuchten, die Bedürfnisse und bautechnischen Möglichkeiten in einen Entwurf zu übersetzen. Wir merkten, wie lange es braucht, eine Bodenplatte zu bewehren, wie viel Kraft, um Beton mit der Schaufel anzumischen, denn in dem durch erstarrte Lava zerklüfteten Gelände gab es keinen Weg, auf dem ein Mischer hätte fahren können. Wir erlebten die Dorfbewohner, die Zementsäcke und Wassereimer schleppten und mithalfen, wo sie nur konnten.
Was damals als studentisches Globetrotter-Hobby galt, wird heute an immer mehr europäischen Hochschulen praktiziert. Auf dem Zürichsee beispielsweise schwamm vergangenen Sommer der Manifesta-Pavillon, gebaut von Studenten der ETH Zürich. Durch Europa tourte eine Containerküche, entwickelt von Studenten der TU Berlin. Im Weinviertel haben Studierende der TU Wien einen denkmalgeschützten Gutshof zur Herberge umgebaut, die nun von Menschen mit Behinderungen betrieben wird.
Doch was treibt die Hochschulen zu dieser praxisorientierten Arbeit an? Vielleicht ist es die Einsicht, dass Architekturstudenten frühzeitig Erfahrungen bei der Umsetzung ihrer Ideen sammeln sollten? Vielleicht ist es der Vorwurf, Universitäten agierten im Elfenbeinturm? Vielleicht ist es mancherorts auch der Frust über die offizielle Haltung zur Flüchtlingsunterbringung, der die Arbeits- und Innovationskraft von Studierenden weckt?
Für die Bewegung „Design-Build“ existieren viele Begriffe. „Live-Projects“ nennen es die einen, „1:1-Projects“ die anderen. In den USA spricht man von „Public-Interest-Design“ und meint damit, ganz unabhängig von studentischer Beteiligung, jene planerische Praxis, die eine soziale, ökonomische und gesunde Lebensumgebung für alle schafft. Für viele Architekten auf der Welt ist das – wenn überhaupt – ein Lippenbekenntnis. Umso wertvoller ist es, wenn Studierende nicht nur lernen, Defizite zu erkennen, sondern diese mit ihren Mitteln auch zu verändern. Ob das öffentliche Plätze, Unterkünfte für Obdachlose oder Gemeinschaftszentren betrifft. In den USA, wo der Staat keine Verpflichtung zur Daseinsfürsorge übernimmt, hat diese Arbeit eine lange Tradition.
Soziale Verantwortung
Dass sich immer mehr Studierende und Architekten weltweit der sozialen Verantwortung des Berufsbildes stellen, verdeutlichten unter anderem die vielen regionalen Organisationen SEED Network, design/build exchange, Live Projects Network, dbXchange oder Pacific Rim Community Design Network. Anfang April trafen sich rund 150 Vertreter auf einer Konferenz in Portland, die Sergio Palleroni und Bryan Bell, Gründer des Public Interest Design Institute, organisiert hatten. Sie präsentierten Projekte, diskutierten über die Messbarkeit des Erfolgs und überlegten, wie sie ihre Arbeit der Gesellschaft und innerhalb der Hochschulen besser vermitteln können.
In einer auf schöne Bilder und Alphatiere ausgerichteten Medienwelt ist das nicht leicht. Design-Build hat keine Stars und keine glänzenden Produkte. Das Kollektiv und der Prozess stehen im Vordergrund. Auch das ist ein Grund, warum viele Universitäten Design-Build als Sonderfall wahrnehmen und die Teilnehmer keine angemessenen Seminarpunkte erhalten – und das, obwohl Design-Build überzeugende Antworten auf die wichtigste Frage der Branche hat: Wie beeinflusst Architektur die Gesellschaft? Und was kann die Architekturausbildung dazu beitragen?
Wie mühsam die Arbeit im Sinne der Gemeinschaft bisweilen sein kann, aber auch wie wertvoll selbst kleine Projekte für alle Beteiligten sein können, zeigten die Vorträge über Projekte, die in einem von den Netzwerken ausgelobten Wettbewerb ausgezeichnet wurden. Von einwöchigen Interventionen im spannungsgeladenen Nordirland berichtete Ruth Morrow, Professorin an der Queen’s University Belfast, die mit ihren Studenten versucht, die zerstrittenen Parteien innerhalb von Belfast temporär an einen Tisch zu bekommen, und der Meinung ist, dass es nicht immer darum gehen muss, Probleme zu lösen, sondern zu lernen, mit ihnen umzugehen.
Arbeit in einer fremden Kultur
Vom Leben auf der Elektroschrotthalde Agbobloshie im afrikanischen Ghana, wo Menschen Plastik verbrennen, um an Kabel zukommen, und aus alten Rechnern Öfen oder Armreifen herstellen, berichtete Designer DK Osseo-Asare. Diese Mikroökonomie unterstützte er mit Studierenden, indem sie Atemfilter entwickelten, den Prototyp einer Werkstatt bauten, in der montiert und demontiert werden kann, und eine App programmierten, die den Weiterverkauf des Materials ermöglicht.
Peter Fattinger, der seit vielen Jahren an der TU Wien das Design Build Studio betreibt, sieht das Ziel von Design-Build nicht darauf reduziert, einfach nur ein Bauwerk zu realisieren. „Es geht vielmehr darum, den Studierenden die Möglichkeit zu geben, die unmittelbaren Auswirkungen ihres Denkens, Kommunizierens und Handelns in einem breiteren Kontext zu verstehen und die Reibungswiderstände zu erleben, die auftreten, wenn man ein Projekt vom Plan in die gebaute Wirklichkeit übersetzt“, sagt er. Ursula Hartig, die an der Hochschule München Planen und Bauen im globalen Kontext lehrt, wünscht sich sogar, dass alle Studierenden in ihrer Studienzeit an einem solchen Projekt mitarbeiten können. „Die Lehrpläne fordern, dass wir international und interdisziplinär arbeiten, dass die Studierenden interkulturelle Kompetenzen entwickeln“, so Hartig. „Wo können Studierende dies besser lernen als bei der Arbeit in einer fremden Kultur, wo die eigenen Werte mit anderen konfrontiert werden?“
Zur Aufgabe von Planern und Architekten gehört heute, das gesamte System zu betrachten und bestehende Orte oder Gemeinschaften so auszustatten, dass ihre Bewohner den Alltag bewältigen – ganz gleich, ob dafür ein neues Haus gebaut, ein Brunnen gegraben oder eine Brücke gespannt werden muss. Was wird aus welchem Grund wirklich gebraucht? Das ist vielleicht das Wichtigste, was Studierende bei Design-Build lernen können.
Friederike Meyer ist Architekturjournalistin und lebt in Berlin. Sie arbeitete viele Jahre als Redakteurin für die Bauwelt und leitet seit April die Redaktion von Baunetz.de.
Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard
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