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Die Eroberung des Bauernhofs
Neue Zürcher Zeitung

Gemeinschaftliches Wohnen funktioniert in Österreich auch auf dem Land – und kann obendrein Leerstände füllen.

25. Januar 2018 - Reinhard Seiß
Alljährlich verlieren in Österreich Bauernhöfe ihre Funktion. Rechnet man die Zahlen aus den letzten Jahrzehnten hoch, sind es fast 2000 jährlich. Meist dienen sie ihren Eigentümern noch als viel zu grosse Wohnhäuser. Doch sind sie ohne wirtschaftliche Auslastung über kurz oder lang von Verfall bedroht – was einen unwiederbringlichen Verlust bedeuten würde. So sind etwa die grossen Vierkanthöfe im nördlichen Alpenvorland Ober- und Niederösterreichs seit Jahrhunderten prägender Bestandteil der Kulturlandschaft. An die 13 000 Stück gibt es von diesem meist zweigeschossigen Hoftyp, der einen rechteckigen Innenhof umschliesst und in seiner Stattlichkeit mitunter an Schlösser oder Klöster erinnert. Diese Analogie drängt sich bei dem 1459 erstmals urkundlich erwähnten Gutshof «Mayr auf der Wim» in Garsten, unweit der alten Industriestadt Steyr, umso mehr auf, als er im Eigentum des Bistums Linz steht und auf einem Hügel über dem Ortszentrum genau in der Achse einer barocken Stiftskirche thront.

25 Jahre lang war das bischöfliche Anwesen ohne Funktion und sah dementsprechend heruntergekommen aus, zumal sich kein Pächter mehr für seinen landwirtschaftlichen Betrieb gefunden hatte. Alternative Nutzungskonzepte scheiterten an mangelnder Rentabilität, an der Baubehörde oder am Denkmalamt, das die älteren Gebäudeteile mit ihren Spitzkappengewölben und Böhmischen Platzlgewölben, den Stuckaturen, Sgraffiti und Wandmalereien aus dem 16. Jahrhundert unter Schutz gestellt hatte. Eher zufällig fragte die Diözese 2012 den Linzer Architekten Fritz Matzinger, ob nicht er eine Nutzungsidee hätte. Der heute 76-jährige Wohnbaupionier brauchte nicht lange zu überlegen, denn die historische Hofform entspricht ziemlich genau jenem Typus von Wohnhaus, das er – meist mit Baugruppen – schon drei Dutzend Mal neu errichtet hat.

Für sein Modell des nachbarschaftlichen Wohnens hatte Matzinger in den frühen siebziger Jahren das sogenannte Atriumhaus entwickelt. Dabei bilden üblicherweise acht zweigeschossige Reihenhäuser in geschlossener Bauweise einen Innenhof, das Atrium, das bei Schönwetter offen bleibt und sonst durch ein Glasdach geschützt wird. Dieser Gemeinschaftsbereich funktioniert wie ein Dorfplatz, auf dem die Bewohner einander tagtäglich begegnen, um gemeinsam zu grillieren, Geburtstage zu feiern oder Konzert- und Filmabende zu veranstalten.

Kuhstall als Garage

Der 54 Meter lange und 30 Meter breite Vierkanter in Garsten bot Matzinger genügend Potenzial, um darin in ausreichender Menge Wohnungen sowie die für sein Konzept wichtigen Gemeinschaftsräume zu realisieren. Und da der Architekt seit langem eine Warteliste mit Interessenten an seinen Projekten führt, war auch die Baugruppe bald gefunden. Als deutlich komplizierter erwies es sich, all die statischen, baurechtlichen oder auch finanziellen Fragen zu klären, die sich beim Umbau historischer Substanz jedes Mal neu stellen – und den Planungsaufwand massiv erhöhen. Zudem war eine Umwidmung der Liegenschaft durch die Gemeinde erforderlich. Und es galt, die Planungen mit dem Denkmalamt abzustimmen, was langwierige Verhandlungen und so manchen Kompromiss bedeutete. Nach Abschluss des Baurechtsvertrags mit dem Bistum, das der Gruppe für die nächsten 96 Jahre die – für Durchschnittsverdiener zahlbare – Nutzung des Hofs samt umliegenden Grünflächen gewährte, konnten die Bauarbeiten im Herbst 2015 beginnen.

In eineinhalb Jahren Bauzeit wurden alle denkmalgeschützten Trakte saniert und zahlreiche überformte Architekturdetails freigelegt. Veränderungen aus dem 20. Jahrhundert wurden entfernt oder pragmatisch umgenutzt. So dient der vor wenigen Jahrzehnten betonierte Kuhstall nun als Garage. Von den zwanzig ein- und zweigeschossigen Wohnungen gleicht keine der anderen, und dies nicht nur der individuellen Bewohnerwünsche wegen. Während im Wohnungsneubau mitunter krampfhaft versucht wird, mit exaltierten Kunstgriffen gegen die Belanglosigkeit heutiger Architektur anzukämpfen, führen bei einem Umbau die Charakteristika des Bestands oft zwangsläufig zu originellen Lösungen – die den Nutzern etwas Einzigartiges bescheren und die Geschichte des Hauses am Leben erhalten.

Jede Wohnung verfügt über eine eigene Terrasse vor dem Haus, zu der man aus dem Obergeschoss direkt über Laubengänge und Aussentreppen gelangt. Eine Ausnahme bilden die Maisonettes auf der Nordseite: Für sie schnitt der Architekt hofseitig Terrassen aus dem Dach aus, wodurch diese Wohnungen zumindest im Dachgeschoss Sonne von Süden erhalten. Umgeben wird das Gebäude von 8000 Quadratmetern gemeinschaftlichen Grünlands mit Bauerngarten, Obstwiese und Ziegengehege – inmitten einer hügeligen Landschaft aus Feldern, regionstypischen Mostobstbäumen und anderen Vierkantern.

Swimmingpool

Im Innenhof erschliesst eine beinah umlaufende Galerie das obere Stockwerk und stellt – so wie die als Balkone genutzten Laubengänge draussen – nicht nur einen Zugang, sondern eine Erweiterung des Wohnraums dar. Hier finden sich Zimmerpflanzen, Bücherregale, ein Schaukelstuhl oder ein Heimtrainer an der Schnittstelle zum Gemeinschaftsbereich, dem grossen Atrium. Das Herz der Anlage wird auf seiner gesamten Länge von einem Schwimmkanal durchzogen. «Der Swimmingpool ist von jeher ein Fixpunkt meines Konzepts», erklärt Fritz Matzinger, «da er die Menschen zusammenbringt und in entspannter Atmosphäre miteinander kommunizieren lässt.» Im Hof gibt es eine Gemeinschaftsküche mit einem grossen Tisch und am anderen Ende eine Art Café für kleinere Runden. Dazwischen ist viel Platz für Pflanzen, die jetzt noch aus Töpfen wachsen, bald aber schon aus der Erde spriessen und das Atrium in einen üppigen Wintergarten verwandeln werden.

«Wir wohnen hier auf dem Land und brauchen doch nur zehn Minuten in die Stadt», begründet Rudolf Pilat, einer der beiden Geschäftsführer der Baugruppe, die Entscheidung seiner Familie wie auch der meisten anderen, mehrheitlich aus der Region stammenden und in Steyr arbeitenden Bewohner für das Projekt und seinen Standort. Beweggrund für die durchaus heterogene Gemeinschaft aus Singles, Alleinerziehern und klassischen Familien, hierherzuziehen, war auch die soziale Dimension von Matzingers nachbarschaftlichem Konzept: Eine Vereinsamung oder gar Isolierung – ob von Kindern und Jugendlichen, ob von alleinstehenden Erwachsenen, von alten oder behinderten Menschen – ist bei diesem Modell so gut wie ausgeschlossen.

Das gesellschaftliche Phänomen der Vereinzelung beschränkt sich längst nicht mehr auf die städtischen Zentren. Gemeinschaftliche Wohnformen als probates Gegenmittel werden immer beliebter. Ob Matzingers Konzept nun auch zum Prototypen in ländlichen Regionen wird, hängt vor allem von den Behörden und der Politik ab. Sollte der landwirtschaftliche Leerstand bei gleichzeitig wachsender Bevölkerungszahl und Baulandvergeudung weiter zunehmen, steht im österreichischen Garsten die beste Alternative zum klassischen Einfamilienhaus – mit nicht nur kommunikativem, sondern auch ökologischem, ressourceneffizientem Qualitätsanspruch.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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